Erster Schnee

[86] Die in Wolkenkukuksheim

zerreißen ihre Manuskripte,

und in unzähligen,

weißen Schnitzelchen

flattert und fliegt es mir

um die Schläfen.

Die Unzufriednen!

Nie noch blieben

der Lieder sie froh,

die im Lenz

ihnen knospeten,

nie noch

der dithyrambischen Chöre,

die durch glühende Julinächte

von ihren Munden

wie Donner brachen.

Immer wieder

zerstören gleichmütig sie,

was sie gedichtet:

und in unzähligen,

weißen Stückchen

flattert es

aus dem grauen Papierkorb,

den sie schelmisch

zur Erde kehren.

Große, redliche Geister!
[87]

Ich, der Erde armer Poet,

versteh Euch.

Wenn wir uns selbst

genügen wollen,

ehrlich Schaffende wir,

müssen wir

unsren Gedanken wieder

all die bunten Hüllen ausziehn.

Ach! allein

in der Maske des Worts

wird unser Tiefstes

dem Nächsten sichtbar!


Ihr Stolzen verschmäht es,

den Wortewerken,

die Ihr erschuft,

Dauer zu leihen,

und Ihr könnt es –

denn Ihr seid Götter!

Keiner von Euch

will Trost, will Erlösung,

weiß von dem Wahnsinn

Glückes und Leides:

in Euch selbst

seid Ihr Euch ewig genug!
[88]

Aber wir Menschen,

wir Selig-Unseligen,

tief in gemeinsame Lose

verstrickten,

müssen einander

die Herzen erschließen,

müssen einander

fragen, belehren,

trösten, befreien,

stärken, erheitern,

und zu all Dem

raten und planen,

formen und bauen,

rastlos, mühvoll,

an dem Menschheitstempel

»Kultur«.


Ich stehe stumm

in den wirbelnden Flocken

und denke mit Schwermut

meines Stückwerks.

Doch streue ich selbst

nichts in den lustigen Tanz.

Meine Werke, Ihr Götter,

stürben wie roter Schnee,[89]

wollt ich sie opfern!

Ich schrieb mit Herzblut ...

Homo sum.

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 86-90.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon