14. Vergessenheit

[16] An Henriette.


Den 6. Julius, 1802.


Die Muse, deren anspruchlosen Tönen,

Von deiner Huld geweckt, ein Lied gelang,

Als sie, der Trennung Stunden zu verschönen,

Die süßen Freuden der Erinnrung sang,

Und sel'ger Kindheit Heiligthum zu krönen,

Sich kühnen Flugs durch düstre Fernen schwang;

Sie reichet zu des goldnen Festes Feier,

Mir dankbar jetzt die frisch bekränzte Leier.


Doch nicht Erinnrung tönen ihre Saiten,

Sie klagen nicht entschwundner Freuden Glanz;

Es soll ihr Spiel kein Trauerton begleiten,

Sie locke nicht der stillen Wehmuth Kranz;

Wie Blüthen leis' den Strom hinab entgleiten,

Und heiter flieh'n im leichter Wellen Tanz:

So schwebe, was Vergangenheit geboren,

Zur Lethe hin, im stillen Flug der Horen!
[16]

Noch scheidend wink' aus ihrer Fluthen Spiegel

Die Rose, die der Glückliche einst fand,

Und jede Freude, die mit raschem Flügel

Dem Fröhlichen im Kreis der Freunde schwand;

Doch harmlos blicke von der Hoffnung Hügel,

Der Wandrer dann frey in der Zukunft Land,

Und jeder Schmerz, der wild die Brust umschlungen,

Der werde sanft durch Lethe's Macht bezwungen!


Es sinken eitlen Wahnes Forderungen,

Die Täuschung, die dem Herzen Fesseln gab,

Die Opfer, die das Vorurtheil erzwungen,

In ihrer Fluthen ewig schweigend Grab!

Nur Kränze, von der Liebe-Hand geschlungen,

Die gleiten unverletzt den Strom hinab,

Und blühend werden wir sie wieder finden,

Wenn jedes Wahnes Zauberfarben schwinden!


O du! die in des Lebens Därmmerungen,

Zu uns aus schön'rer Heimath her gesandt,

Oft in des Schicksals Labyrinth verschlungen,

Durch reinen Sinn den sichern Ausgang fand,

Und oft vom Schmerz bekämpft, doch nie bezwungen,

Der Vorzeit Bild mit Trauerflor umwand;

O! senk' auch du des Lebens finstre Loose,

Auf ewig heute in der Fluthen Schooße!


Wo reißt mich hin des Herzens trunknes Wähnen?

– Ich sehe dich vom Letheduft umwallt –

Noch Ein Mahl flieh'n der Vorzeit düstre Scenen

Vor dir vorüber in des Traums Gestalt; –

Es rauscht – und alle Schmerzen, alle Thränen[17]

Versinken ewig, wie ein Ton verhallt!

Die Woge flieht – und rein und silberhelle

Wiegt nur der Liebe Bild die heil'ge Welle!


Ein neues Leben lacht im Ätherglanze,

Die Hoffnung leiht ihm ihren Zauberschein,

Die Liebe schmückt dich mit dem Myrthenkranze,

Und ihre Blume flicht die Freundschaft ein;

Die Stunden flieh'n im raschen Freudentanze

Nicht Trennung droht dem heiligen Verein,

Denn sinkt auch einst der Abschiedsabend nieder,

Ein schön'rer Tag vereint die Treuen wieder!

Quelle:
Friedrich Müller (Maler Müller): Gedichte. Jena 1873, S. 16-18.
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