Die Brautnacht

[264] Es hat geflammt die ganze Nacht

Am hohen Himmelsbogen,

Wie eines Feuerspieles Pracht

Hat es die Luft durchflogen.
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Und nieder sank es tief und schwer

Mit ahnungsvoller Schwüle,

Ein dumpfes Rollen zog daher

Und sprach von ferner Kühle.


Da fielen Tropfen warm und mild,

Wie lang' erstickte Thränen;

Die Erde trank, doch ungestillt

Blieb noch ihr heißes Sehnen.


Und sieh, der Morgen steigt empor –

Welch Wunder ist geschehen?

In ihrem vollen Blüthenflor

Seh' ich die Erde stehen.


O Wunder, wer hat das vollbracht?

Der Knospen spröde Hülle

Wer brach sie auf in einer Nacht

Zu solcher Liebesfülle?


O still, o still, und merket doch

Der Blüthen scheues Bangen!

Ein rother Schauer zittert noch

Um ihre frischen Wangen.


O still, und fragt den Bräutigam,

Den Lenz, den kühnen Freier,

Der diese Nacht zur Erde kam,

Nach ihrer Hochzeitfeier.


Quelle:
Wilhelm Müller: Gedichte. Berlin 1906, S. 264-265.
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