Elftes Kapitel.

[95] »Herr Magister!«

Das wurde wie in einen tiefen Brunnen hinuntergerufen, und es dauerte seine Weile, ehe Antwort heraufkam.

»Herr Magister Buchius!«

»Eh – eh – heu! Si fractus illabatur –«

»Jawohl – orbis! wenn der Erdball einfällt, den Weisen weckt's nicht! Eben schlagen sie das Hoftor ein, und der alte Impavidus nimmt's bloß für den Weltuntergang und schnarcht weiter, weil ihn die Ruinierung nichts angeht. Einen famosen Schlaf mit gutem Gewissen muß der alte Herr bei dem Lärm haben! Aber auf muß er. Herr Magister! Herr Magister Buchius – die Schulglocke!«

Beim letzten Wort saß der alte Schulmeister aufrecht auf seinem Bett, mit beiden Händen hastig um sich herumgreifend wie nach seinen nötigsten Kleidungsstücken, seinen Büchern, seinem nur zu harmlosen Bakel. Dem jungen grinsenden Bösewicht zitterte in seiner Lust an dem Witz der Stunde die Lampe, mit der er dem erschreckten Kollaborator ins Gesicht leuchtete, in der Hand.

»Ecce! ehem! hem! papae! um Gottes willen, wie spät –«

»Beruhige sich der Herr Magister nur. Zu spät ist's noch nicht. Wir haben das ganze Pläsier noch vor uns. Der Tag bricht eben erst an, und es ist nicht der Herr Rektor von Amelungsborn, der an der Tür trommelt, sondern es sind nur die[96] lieben Herren Franzosen, die wieder das Tor einschlagen und nochmal Quartier verlangen. Der Herr Prior und Rektor liegen hoffentlich zu Holzminden im Frieden und in den Federn und lassen höchstens im Traum den Herrn Magister grüßen.«

Diese ausführlicheren Benachrichtigungen waren wirklich nicht nötig. Zu halbem Bewußtsein gelangt, merkte es der alte Herr schon, daß es nicht sein früherer Scholarch sei, der ihm auf den Hacken sitze, sondern daß nur der Krieg der Krone Preußen mit der ganzen Welt augenblicklich noch fortdauere und Kanada immer noch in Deutschland erobert werde. Die Trommeln der ziehenden Truppen, das Krachen des eingeschlagenen Klostertores, das Gebrüll und Hallo auf den Höfen, auf den Treppen und in den Korridoren sprachen laut und deutlich genug für sich selber. Nur die Anwesenheit, die Gegenwärtigkeit des Junkers von Münchhausen war dem aus tiefstem Schlaf Erweckten für einige Momente noch unbegreifbar.

»Die Franzosen! Ei, ei. Aber – nae ego – Er, Monsieur Thedel? Ja, aber ist Er – wie kommt Er? ... Ja so!«

Mit den letzten zwei Worten war Magister Buchius wieder vollkommen bei sich und mit allen vom Himmel gespendeten Seelenkräften beim laufenden Tage:

»So hat Er recht gehabt, Musjeh Thedel; und uns möge Gott noch einmal gnädig sein, wie er uns schon so oft geholfen hat.«

»Er wird's ja wohl – sieh einer, das schwarze Vieh da auf dem Bettpfosten vertraut ganz auf ihn und läßt sich's in seinem gesunden Schlaf nicht kümmern.«

»Der Bote hat seinen Auftrag ausgerichtet und braucht sich freilich das übrige nicht kümmern zu lassen«, seufzte bänglich der Magister, auf den Gipsboden vor seinem Bette den linken Fuß zuerst stellend, was gleichfalls kein gutes Vorzeichen sein soll:

»Quo, quo scelesti – welch ein Lärm, welch ein Tumult[97] der Hölle! Sie wollen diesmal wohl jedes Gemäuer dem Grunde gleich machen?«

»Da, nehme Er die Lampe!« rief der Schüler, und vergeblich rief ihm der Magister Buchius nach:

»Herr von Münchhausen! Aber Musjeh – Monsieur Thedel!«

Der gute Junge hatte schon sein möglichstes getan, daß er sich zuerst und so lange dem Vater Anchises gewidmet hatte; jetzo hörte er Crëusen schreien, und krachend schlug die Tür der Zelle des Bruders Philemon hinter ihm ins Schloß. Vergeblich rief sein väterlicher Freund und Lehrer seine Verblüffung und seine Klage ihm nach. Abiit, evasit, erupit – ab ging er mit seinen achtzehn oder neunzehn Jahren; denn Sie schrie nach Ihm in ihrer höchsten Not, im letzten, schlimmsten Einbruch, in der Vergewaltigung durch den Fremden, durch den welschen Feind.

Schön hatte ihm sein alter Lateinlehrer nachzurufen:

»Aber Musjeh? Monsieur Thedel? Herr von Münchhausen, was fällt Ihm denn ein? Um Gottes willen, was fällt Ihm ein, wo will Er hin? So höre Er – bleibe Er doch –«

Wer nicht hörte, war der Junker von Münchhausen, und daß er Bescheid wußte in den Gebäulichkeiten, auf den Treppen und mit den Schlupflöchern von Kloster Amelungsborn, ist in diesem Augenblick weniger ein Trost für den Magister Buchius als für ihn selber. Und wer, wie gewöhnlich bei solchen Fällen, ganz und gar keines Trostes bedurfte, weil er aus dem tiefsten Naturrecht heraus ganz und gar nicht bei Troste war, das war der Junker Thedel von Münchhausen. Was Krieg und Brand, Mord und Tod und Welteinfall? Kein Latein mehr und – sie drüben im Amthause nach dem Retter und Ritter in der höchsten Not schreiend! Mit einem Jauchzen, das wahrlich nicht nach Not, Angst und Verzweiflung klang, sprang der Wildfang hinein in den Tumult des fünften Novembers Siebenzehnhunderteinundsechzig.[98] Es war ihm wirklich nicht zuzumuten, seinem – einem alten Präzeptor, und wenn es ihm auch der liebste war, in die Hosen zu helfen. Glücklicherweise aber hatte Mademoiselle ihre Toilette wenigstens so ziemlich vollendet, während der Magister Buchius noch mit bebenden Fingern an seinen Knöpfen und Knopflöchern hin und wieder tastete. Als ein standfestes Mädchen hatte sie ihren Traum abgeschüttelt, Feuer geschlagen, ihr Lämpchen angezündet und sich »für alles zurecht gemacht«. So saß sie auf ihrem Bettrand und wartete auf ihr Teil Unheil vom abermaligen Einbruch der Franzosen als ein gutes Mädchen, wie es dem lieben Gott gefällig war. –

»I du meine Güte!« rief sie, als in all dem Lärm des feindlichen Einbruchs es durch ihr Schlüsselloch klang:


»Sylvia, Dein kaltes Nein

Kann mir dennoch nicht verwehren,

Dich zu lieben, zu verehren;

Gib nur hier ein Jawort drein.«


»Der Junge! der närrische Junge!« rief sie, aufspringend und ihrerseits das Ohr zum Schloß der verriegelten Pforte niederbeugend. »Musjeh? Junker Thedel? Herr von Münchhausen, ist Er denn das? Jeses, auch jetzt mit Seinem ewigen Singsang? Was hat Er denn jetzt wieder für Narrheiten im Kopf?«

»Das fragt Sie noch, Mademoiselle?« klang es vorwurfsvoll zurück durchs Schlüsselloch. »Bei dem Spektakel? ... Sie aus dem Feuer holen, will er! In das Wasser für Sie gehen wie Ihr Pudelhund will er. Jeden Franzmann, der Ihr auf drei Schritte nahe kommt, unterem Daumen knicken will er. Riegle Sie auf, Jungfer! Will Sie? Auf den Knieen liege ich hier –«

»Reine verrückt ist Er; aber – doch ein guter Mensche!« sagte Jungfer Selinde Fegebanck, wirklich ihre Tür öffnend und in demselben Augenblick ihn, mit der Faust in seinen Haaren,[99] von sich abdrängend. »Herr von Münchhausen, das bitt' ich mir aber aus –«

»Engel!« schluchzte der Tollkopf, jetzt wahrhaftig auf den Knien vor seinem Ideale. »Hat man mich nicht um Sie von Holzminden weggejagt? Bin ich nicht um Sie den Tag durch gelaufen? Haben mich Ihretwegen nicht der Herr von Chabot und seine Halunken gejagt und hängen wollen? Hab' ich nicht Ihretwegen mit des Magisters Buchius letzter Brotrinde die Nacht durch auf dem kalten Gipsboden gelegen?«

»Ein Flegel braucht Er darum doch nicht zu sein, und wenn ich zehntausendmal ein Engel bin – Jesus Christus, Thedel, liebster, bester, allerliebster Thedel – sie wollen wohl diesmal das Kind im Mutterleibe nicht verschonen!«

»Deshalb bin ich ja von Holzminden hergelaufen. Über meinen Leichnam geht der Weg zu dir, meine Prinzeß. Courage, Herze, Göttin, Seraph! Und in der höchsten Not weiß ich ja Hausgelegenheit in Amelungsborn.«

Das gute Mädchen hing jetzo seinerseits dem jungen ritterlichen Beschützer am Halse. Was tut der Mensch nicht in seiner Angst, wenn es nicht bei bloßen Kolbenstößen gegen die Türen bleibt, sondern auch die Musqueten in die Türschlösser abgefeuert werden, um den Eintritt rascher zu erzwingen. Es waren diesmal nicht ritterliche weiße, blaue, gelbe Dragoner oder grüne Chasseurs à cheval, die bei Sonnenschein und hellem Tage kamen, sondern es war wüstes, wildes, verlumptes, verhungertes Fußvolk Ludwigs des Fünfzehnten, das bei dem neuen Anmarsch auf die Hube bei Einbeck im Kloster Amelungsborn einsprach und am dunkeln, regnichten Novembermorgen die Leute aus den Betten holte. Nachzügler von den Regimentern Navarra, Salis, Boccard, Reding, dabei nur einige Offiziere, die mit dem Degen in der Faust die unbotmäßigen Schwärme vorwärts zu treiben suchten gegen den Ith und den guten Herzog Ferdinand!
[100]

»Venons, brulons,

Venons, buvons,

Mettons le feu à toutes maisons,

Venons à cinquante, cinq-cents!«


In einem Nu war das Kloster von ihnen überschwemmt worden, und der Klosteramtmann hatte keinem von ihnen das offene Licht, oder gar den Feuerbrand aus der Hand geschlagen. Und sie waren auch in dem Korridor, auf den sich Selindens Kämmerlein öffnete, und sie waren in Selindens Kämmerlein:

»Bon jour, Mademoiselle! Venons – baisons! Venons – aimons! Venons à cinquante, cinq-cents!«

Ein Faustschlag krachte nieder auf die Nase des Voltigeurs vom Regiment Navarra, der allzu zärtlich die Arme nach der Schönen ausstreckte und dabei die Rechnung ohne den jungen früheren Anbeter der Dame gemacht hatte. Bewußtlos, blutüberströmt stürzte der Marodeur zu Boden und seine Waffen klirrten über ihn. Doch auch die Waffen des übrigen Gesindels klirrten. Mit Sacrenom und Sacredieu kamen sie ihm mit Kolben und Bajonett zu Leibe, doch der Schüler griff das Lämpchen der Jungfer Fegebanck von der Kommode und löschte es im Wurf aus auf der Stirn des nächsten Feindes, der dann über den Kameraden zu Boden taumelte und im Fall seine Büchse gegen die Decke losbrannte. In die Laterne, die ein beutegierig Lagerweib von ihrem Bagagewagen zur bessern Beleuchtung ihrer Wege mit sich trug, trat der Junker Thedel mit dem Fuße. Es war im November und am frühesten Morgen; für das jetzt erfolgende Durcheinander in dem Kämmerlein der Jungfrau und in den Gängen und auf den Treppen von Amelungsborn noch vollkommen Nacht. Nur der Junker von Münchhausen wußte auch in der Dunkelheit genau Hausgelegenheit. Er verlor einen Rockschoß, der ihm durch einen Bajonettstoß an die Wand genagelt wurde, er blutete aus einer Schramme an der Stirn, er verlor eine Handvoll Haare aus seiner Frisur,[101] er fühlte einen Augenblick höchst unbehaglich eine hagere, harte Navarreserfaust an der Gurgel, aber – er kam durch, und zwar in Begleitung von Mademoiselle Selinde. Er hatte das ebenfalls besinnungslose Mädchen von seinem Bettrande aufgezogen, er hielt es mit dem linken Arm aufrecht und warf sich mit der Last auf dem Arme auf gut Glück in den Korridor. Daß der jetzt vollkommen vollgepfropft war von Menschen, die nicht wußten, was da weiter vorn eigentlich vorging und noch weniger Hausgelegenheit im Kloster Amelungsborn kannten, trug nicht am wenigsten zu seiner Rettung, zu dem Entkommen mit seiner süßen Last bei. Dreimal um die Ecke und dann die Bodentreppe hinauf! Die Riegel vor zwei, drei vielleicht noch vor Jahrhunderten aus festem Eichenholz von Mönchsfäusten gezimmerte Türen und – fürs erste mit dem den Riesen und Drachen, den Nachzüglern der Schweizer und der Regimenter von Navarra und Boccard abgerungenen schönen Kinde in Sicherheit, unter dem Dach und den Dächern von Amelungsborn und im Notfall auch auf ihnen! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

»Die Kanaillen sollen mich hier die Katerstiege kennen lehren, Mademoiselle Selinde«, lachte der Junker von Münchhausen. Freilich doch ein wenig außer Atem.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Sämtliche Werke, 3 Serien, 18 Bände, 3.Serie, Band 4, Berlin o. J. [1916], S. 95-102.
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