Mariae Verkündigung

[669] Nicht daß ein Engel eintrat (das erkenn),

erschreckte sie. Sowenig andre, wenn

ein Sonnenstrahl oder der Mond bei Nacht

in ihrem Zimmer sich zu schaffen macht,

auffahren –, pflegte sie an der Gestalt,

in der ein Engel ging, sich zu entrüsten;

sie ahnte kaum, daß dieser Aufenthalt

mühsam für Engel ist. (O wenn wir wüßten,

wie rein sie war. Hat eine Hirschkuh nicht,

die, liegend, einmal sie im Wald eräugte,

sich so in sie versehn, daß sich in ihr,

ganz ohne Paarigen, das Einhorn zeugte,

das Tier aus Licht, das reine Tier –.)

Nicht, daß er eintrat, aber daß er dicht,

der Engel, eines Jünglings Angesicht

so zu ihr neigte; daß sein Blick und der,

mit dem sie aufsah, so zusammenschlugen

als wäre draußen plötzlich alles leer

und, was Millionen schauten, trieben, trugen,

hineingedrängt in sie: nur sie und er;

Schaun und Geschautes, Aug und Augenweide[669]

sonst nirgends als an dieser Stelle –: sieh,

dieses erschreckt. Und sie erschraken beide.


Dann sang der Engel seine Melodie.


Quelle:
Rainer Maria Rilke: Sämtliche Werke. Band 1–6, Band 1, Wiesbaden und Frankfurt a.M. 1955–1966, S. 669-670.
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