Sechste Szene

[115] Nauke. Der Führer der Bürger.

Aus der Versenkung die Stimme des Nauke und des Bürgers.


STIMME DES FÜHRERS DER BÜRGER. Das ist Licht.

STIMME DES NAUKE. Natürlich ist da der Ausgang, ich wußte es ja!

STIMME DES FÜHRERS DER BÜRGER. Aber wenn wir mitten hinein unter sie geraten? Kann ich dir auch trauen?[115]

STIMME DES NAUKE. Ihr habt mir so lang getraut, wenn ihr's jetzt nicht mehr tut, ist es zu spät!

STIMME DES FÜHRERS DER BÜKGER. Geh du vor!

STIMME DES NAUKE. Wieder zu spät. Ich bin dir durch den ganzen Gang vorausgekrochen, jetzt könnt ich beim besten Willen nicht hinter euch gehen!

NAUKE steigt aus der Versenkung herauf. Niemand. Wir werden nicht überrascht.

DER FÜHRER DER BÜRGER steigt hinter Nauke herauf. Das war eine verfluchte Wanderung, stundenlang durch den engen, schleimigen Gang!

NAUKE. Was willst du? Was redest du? Ich hab vor euch den Dreck im Gang an meinen Kleidern aufgewischt, und jetzt ist es euch nicht fein genug gewesen. Bin ich dir vielleicht selbst zu schmutzig?

FÜHRER DER BÜRGER. Du nennst mich du?

NAUKE. Ho, Bürger, man nennt jeden du, mit dem man etwas durchgemacht hat.

FÜHRER DER BÜRGER. Du hast mir versprochen, daß du mich zu den Führern bringst.

NAUKE. Ich hab schon einmal gesagt, ich nehme keine Belohnung. Ich tu's aus reiner Menschenliebe. Verhandlungen, ja. Geheime Verhandlungen: wunderschön. Aber ihr wollt doch nicht etwa spionieren?

FÜHRER DER BÜRGER. Spionieren, mein Freund, da hätt ich dich gebeten – tätest du das nicht auch aus reiner Menschenliebe?

NAUKE. Was heißt das? Was wird das? Bürger, du beleidigst! Du hast mich drüben am Ufer angeredet. Du hast mir gesagt, daß du zu den Revolutionären gehen willst, um sie mit euch zu versöhnen, aber ohne öffentlichen Lärm, ohne starre Haltung, als einfacher Mensch. Ich habe dir den geheimen Zugang zur Stadt gezeigt, denn du hast mir geschworen, daß du nicht Mißbrauch triebest. Alles um der Versöhnung willen. Du weißt es. Warum sprichst du nun krumm? Denke dir, hättest du es nicht mit mir zu tun, ein anderer hätte dir schon lange eine auf den Kopf gegeben.

FÜHRER DER BÜRGER. Eben weil ich es mit dir zu tun habe! Selbst wenn ich spionieren würde, geschähe es nur zum Besten der Revolutionäre.[116]

NAUKE. Das ist mir zu hoch. Du bist doch ihr Feind? Warum rückt denn ihr Bürger aus und belagert sie?

FÜHRER DER BÜRGER. Eben zum Besten der armen, unwissenden Revolutionäre.

NAUKE. Sie können selbst wählen, was ihnen zum Besten ist.

FÜHRER DER BÜRGER. Nein, dafür denken sie zu einfach. Sieh, man muß doppelt denken können, wie wir, dreifach denken muß man können, nach jeder Seite hin. Kannst du doppelt denken?

NAUKE. Nein, ich kann nur ganz einfach denken, und auch das nur mit Mühe, ich gestehe!

FÜHRER DER BÜRGER. Siehst du! Wir haben gelernt, auf so viel Arten zu denken, wie es Zahlen und Menschen gibt. Für jeden etwas. Darum wissen wir Bürger besser, was für die Revolutionäre gut ist, als sie selbst. Sie müssen sich mit uns versöhnen. Aus Menschenliebe!

NAUKE. Versöhnen, Menschenliebe? Das versteh ich.

FÜHRER DER BÜRGER. Sie müssen damit anfangen, weil wir es besser wissen.

NAUKE. Das versteh ich nicht mehr. Das ist gewiß schon das doppelte Denken.

FÜHRER DER BÜRGER. Wir werden jedermann das doppelte Denken lehren, auch dich, mein Freund. Wenn erst alle Revolutionäre doppelt denken, nach rechts und nach links, dann ist die Revolution zu Ende, alle sind wie wir, und das Leben im Paradies beginnt.

NAUKE. Das Leben im Paradies beginnt? Was muß ich tun, damit wir schnell dazu kommen?

FÜHRER DER BÜRGER. Du mußt zwei Gesichter machen. Eins für sie und eins für uns. Freund, ich kenne dich, ich weiß, wie gut du es meinst. Damit das Glück bald kommt, müssen alle Revolutionäre auf unserer Seite sein. Damit sie auf unserer Seite sind, müssen sie in unseren Händen sein. Damit sie in unseren Händen sind, müssen sie uns ergeben sein. Das ist doch alles ganz klar. Und ergeben sind sie, wenn sie ahnen, wie stark wir sind, und wenn sie schwach werden.

NAUKE. Stark sein – und schwach werden? Das hab ich schon gehört, das sagten schon die Brüder auf dem Schiff. Ich glaube, du bist mein Mann![117]

FÜHRER DER BÜRGER. Das weiß ich längst. – Damit sie bereit werden, müssen sie Tag und Nacht unablässig an der Maschine liegen. Unterdessen beraten wir uns mit ihren Führern und ziehen sie auf die Seite der Versöhnung. Wir erkunden die Hilfskräfte und die Zugänge der Stadt – warum gleich spionieren sagen?! –, dann kommen wir. Dann haben wir sie, dann belehren wir sie, und dann beginnt das Paradies.

NAUKE. Dann beginnt das Paradies? Und was kann ich dazu tun?

FÜHRER DER BÜRGER. O viel, mein Lieber. Du gehst in die Fabriken und machst dein fröhlichstes Gesicht: hundertfache Arbeit. Und dann vor allem die Getreidespeicher, sehr wichtig, eine Zündschnur – puff, die ganze Bude fliegt auf! Sie müssen hungern, daß sie die Fliegen an der Wand beneiden. Dann gehst du zu den Kämpfern und machst ihnen begreiflich, wenn sie aufhören, die Revolution zu verteidigen, und uns endlich herankommen lassen, oder wenn sie gar wie du, mein lieber Freund – zu uns herüberkommen, dann beginnt das Paradies! Und vor allem: Wir liefern das Essen! Du sagst ihnen: Alles Essen, was nicht von uns kommt, ist vergiftet. Nur wir haben das gute Essen!

NAUKE. So viel auf einmal, das ist gewiß das doppelte Denken! Du hast mich damals gewonnen, damit ich dich zu den Führern bringe, für die Versöhnung.

FÜHRER DER BÜRGER. Aber wie? Du willst dich davonmachen? Hast du denn kein Gewissen? Du mußt doch mitarbeiten am Paradies? Tu du, was ich dir gesagt habe, dann wirst du ein ganz großer Mann sein!

NAUKE. Mein Gewissen, mir ist unheimlich.

FÜHRER DER BÜRGER. Das ist noch dein altes, dummes, billiges Gewissen. Ich lehre dich doch gerade unser neues, feines, doppeltes Gewissen! Jetzt den Weg zu den Führern. Mit denen werd ich schon fertig.

NAUKE. Den Weg zu den Führern. Ich bring dich.

FÜHRER DER BÜRGER. Zeig ihn mir, ich finde ihn. Du hast anderes zu tun! Sag du den Revolutionären, was ich dir gesagt habe. Dann werdet ihr alle glücklich!


Der Führer der Bürger und Nauke im Abgehen.
[118]

NAUKE im Abgehen. Hundertfache Arbeit, lustiges Gesicht in den Fabriken, Getreide hoch, Hunger, Versöhnung, den Anfang machen: das hab ich schnell gemerkt, das war wie auf dem Schiff. Aber dann: Ausliefern, zu den Bürgern übergehen! das kommt hinzu. Das doppelte Gewissen – das ist neu. Und dann kommt das Paradies!


Beide ab.


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 115-119.
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