Christliches Sterblied

[336] Ich steh' in Furcht und Noth,

Da mein verlangter Tod

Mich fordert von der Erden;

Es steht auf diesem Blick

Mein Unglück und mein Glück,

Das ewig mir soll werden.


Ach Gott, kein Sturm der See

Thut nicht dem Schiff so weh',

Das hin und her muß schweben,

Als diese Reise mir,

Denk' ich, was dort und hier

Mir noch zu überstreben.


Hier stellt sich Satan mir

Mit meinen Sünden für

Und dräut mir mit der Höllen;

Dort lockt dein Himmel mich

Und spricht, ich soll auf dich,

Mein Hort, mein' Hoffnung stellen.


Herr Jesu, Gottessohn,

Der sich von seinem Thron

Der Welt zu Dienst begeben

Und mir zu lieb' und gut

Mein todtes Fleisch und Blut

Gewürdigt zu beleben,


Komm', o mein höchstes Gut,

Und nimm dein Kind in Hut,[336]

Das du für dich erkoren

Und dir zur lieben Braut,

Mein Liebster, hast vertraut,

Eh' daß die Zeit geboren.


Ich bin der Erde satt,

Von Müh' und Jahren matt;

Versammle mein Gebeine

In seinen süssen Sand;

Mein Geist, dein theures Pfand,

Bleib' aber stets der Deine.


Derselb' ist her von dir

Und hielt sich dein allhier

So wol in Leid als Freuden;

So muß er jetzt auch dein

In seiner Heimfahrt sein,

Dies fordert selbst dein Leiden.


Der Tod, den du verschmäht,

In deinem Tod' ertödt,

Sei meines Todes Leben;

Das Grab, das dich umschloß,

Lass' mir in seinem Schoß

Ein sanftes Ruhbett geben.


Hierauf umfass' ich dich

Und hülle, Jesu, mich

In deine blut'gen Wunden

Frei, unbesorgt und froh,

Und weiß, daß ich also

Dir ewig bin verbunden.


Ach ja, ich bleibe dein,

Da, wo der helle Schein

Der Sterne mich umgeben,

Und, Jesu, du in mir,

Und, Jesu, ich in dir

Ohn' Ende werden leben.
[337]

Der Weg nur fällt mir schwer;

Lass' denn, mein Heil, vorher

Dein Fleisch und Blut mich weiden,

Dies stärkt mir Seel' und Muth

Und macht die Bahne gut;

So fahr' ich hin mit Freuden.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 30, Stuttgart [o.J.], S. 336-338.
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