Die sterbende Blume

[27] Hoffe! du erlebst es noch,

Daß der Frühling wiederkehrt.

Hoffen alle Bäume doch,

Die des Herbstes Wind verheert,

Hoffen mit der stillen Kraft

Ihrer Knospen winterlang,

Bis sich wieder regt der Saft

Und ein neues Grün entsprang. –


»Ach, ich bin kein starker Baum,

Der ein Sommertausend lebt,

Nach verträumtem Wintertraum

Neue Lenzgedichte webt.

Ach, ich bin die Blume nur,

Die des Maies Kuß geweckt

Und von der nicht bleibt die Spur,

Wie das weiße Grab sie deckt.« –


Wenn du denn die Blume bist,

O bescheidenes Gemüt,

Tröste dich, beschieden ist

Samen allem, was da blüht.

Laß den Sturm des Todes doch

Deinen Lebensstaub verstreun,

Aus dem Staube wirst du noch

Hundertmal dich selbst erneun. –


»Ja, es werden nach mir blühn

Andre, die mir ähnlich sind;[27]

Ewig ist das ganze Grün,

Nur das einzle welkt geschwind.

Aber, sind sie, was ich war,

Bin ich selber es nicht mehr;

Jetzt nur bin ich ganz und gar,

Nicht zuvor und nicht nachher.


Wenn einst sie der Sonne Blick

Wärmt, der jetzt noch mich durchflammt,

Lindert das nicht mein Geschick,

Das mich nun zur Nacht verdammt.

Sonne, ja du äugelst schon

Ihnen in die Fernen zu;

Warum noch mit frost'gem Hohn

Mir aus Wolken lächelst du?


Weh mir, daß ich dir vertraut,

Als mich wach geküßt dein Strahl;

Daß ins Aug' ich dir geschaut,

Bis es mir das Leben stahl!

Dieses Lebens armen Rest

Deinem Mitleid zu entziehn,

Schließen will ich krankhaft fest

Mich in mich und dir entfliehn.


Doch du schmelzest meines Grimms

Starres Eis in Thränen auf;

Nimm mein fliehend Leben, nimm's,

Ewige, zu dir hinauf!

Ja, du sonnest noch den Gram

Aus der Seele mir zuletzt;

Alles, was von dir mir kam,

Sterbend dank' ich dir es jetzt:


Aller Lüfte Morgenzug,

Dem ich sommerlang gebebt,

Aller Schmetterlinge Flug,

Die um mich im Tanz geschwebt;

Augen, die mein Glanz erfrischt,[28]

Herzen, die mein Duft erfreut;

Wie aus Duft und Glanz gemischt

Du mich schufst, dir dank' ich's heut.


Eine Zierde deiner Welt,

Wenn auch eine kleine nur,

Ließest du mich blühn im Feld,

Wie die Stern' auf höhrer Flur.

Einen Odem hauch' ich noch,

Und er soll kein Seufzer sein;

Einen Blick zum Himmel hoch

Und zur schönen Welt hinein.


Ew'ges Flammenherz der Welt,

Laß verglimmen mich an dir!

Himmel, spann' dein blaues Zelt,

Mein vergrüntes sinket hier.

Heil, o Frühling, deinem Schein!

Morgenluft, Heil deinem Weh'n!

Ohne Kummer schlaf' ich ein,

Ohne Hoffnung aufzustehn.«


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 27-29.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Jürg Jenatsch. Eine Bündnergeschichte

Der historische Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges erzählt die Geschichte des protestantischen Pastors Jürg Jenatsch, der sich gegen die Spanier erhebt und nach dem Mord an seiner Frau von Hass und Rache getrieben Oberst des Heeres wird.

188 Seiten, 6.40 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon