Becher und Wein

[34] Gebt Ohren meinem Spruche,

Vernehmt und trinket nur,

Ein Bruchstück aus dem Buche

Der Weisheit der Natur.


Es fiel ein Strahl der Sonne

Zugleich mit Adams Fall,

Verlustig seiner Wonne,

Und ward, erstarrt, Metall.


Es hing das Gold in Klüften,

Wohin das Licht nicht drang,[34]

Und sehnte sich, den Lüften

Zu künden Glanz und Klang.


Da kam, um zu erlösen

Den Bruder aus der Nacht,

Gefahren mit Getösen

Der Bergmann in den Schacht.


Da ward die Starrheit milde,

Als in des Künstlers Hand

Ein glänzendes Gebilde,

Ein tönendes, entstand.


Es war ein leer' Gefäße

Und gab nur hohlen Klang;

Da fehlte der gemäße

Gehalt der Form nicht lang.


Denn als im Sonnenstrahle

Das Mark der Rebe schmolz,

Da ward die goldne Schale

Auf goldnen Inhalt stolz.


Der Becher gab ein Tönen,

Der Wein begeistert schwoll,

Empfindend, daß versöhnen

Des Lebens Streit er soll.


Es spiegelte der Himmel

Sich in der klaren Flut,

Und irdisches Gewimmel

Trank heitern Lebensmut.


Erhebt den Blick, ihr Zecher,

Und trinkt, dem Lichte hold,

Aus goldnem Sonnenbecher

Geschmolznes Sonnengold.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 34-35.
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