[218] In dem langen ton Frauenlobs.
2. october 1546.
1.
Das buch der weisheit sagt am andern: gotlos leut
die sprechen heut:
»es ist hie unser leben
mit trübsal groß umgeben;
und balt ein mensch gestorben ist,
ist als aus mit im eben;
auch weiß man kein, der wider kam
her aus der helle sider.
On gfert wer wir geboren, on gfer sterb wir hie
als wer wir nie.
das schnauben unser nasen
ist wie ein rauch aufblasen,
unser red ist gleich wie ein funk,
get aus des herzen straßen;
und balt erlischt des lebens flam,
so felt der leib darnider.
Der geist zerflodert wie der wint,
unser nam mit der zeit verschwint,
unser werk blint vergeßen sint,
unser leben fert hin, gar lint
unser zeit wie der schaten rint
und wie ein nebel reist einsam
und niemant kumt herwider.
2.
Darum so laßt uns leben in wolusparkeit
und unser zeit
und lebens brauchen feine,
weil wir sint jung alleine,
salben mit wolriechendem öl
und füllen uns mit weine;[219]
laßt uns auch nit versaumen ton
die schönen meienblumen;
Laßt uns auch von den jungen rosen machen krenz,
mit reverenz
saitenspil, mit gesangen,
laßt uns tanzen und prangen,
das man allenthalb spüren mag
wie frölich wir sint gangen;
wir bringen doch nit mer darvon
dan das so wir hin kumen.
Verdrückt den armen grechten ser,
witwen und waisen schützt nicht mer,
des alten ler veracht on er,
trutz der uns unsern wolust wer!
an den frumen sich niemant ker,
laßt uns nachstellen disem man,
der uns schilt die unfrumen.
3.
Und solich ding, so schlagen die gotlosen an
und felen dran,
sie sint blint und entwichte;
gottes heimlich gerichte
erkennens noch gelaubens nit;
haben der hofnung nichte,
das ein ewiges leben dort
die seligen entpfangen;
Und achten nicht der er, so die gelaubig sel
dort hat on quel,
got hat dem menschen geben
gschaffen zum ewing leben
und hat in gmacht nach seinem bilt,
zu sein im gleich und eben;
aber durchs teufels neide fort
so ist der tot eingangen.«
Also fint man zu tag noch heut
auch rohe und gotlose leut
im geist zerstreut, die irdisch freut;[220]
o her, solchen irsal ausreut,
dein genedige hant uns beut,
das wir gelauben deinem wort,
dardurch das heil erlangen.
Buchempfehlung
Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«
242 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro