Abendlied für die Entfernte

[16] Hinaus, mein Blick! hinaus ins Thal!

Da wohnt noch Lebensfülle;

Da labe dich im Mondenstrahl

Und an der heil'gen Stille.

Da horch nun ungestört, mein Herz,

Da horch den leisen Klängen,

Die, wie von fern, zu Wonn' und Schmerz

Sich dir entgegen drängen.


Sie drängen sich so wunderbar,

Sie regen all mein Sehnen.

O sag' mir, Ahndung, bist du wahr?

Bist du ein eitles Wähnen?

Wird einst mein Aug' in heller Lust,

Wie jetzt in Thränen, lächeln?

Wird einst die oft empörte Brust

Mir sel'ge Ruh umfächeln?


Und rief' auch die Vernunft mir zu:

»Du mußt der Ahndung zürnen,

Es wohnt entzückte Seelenruh

Nur über den Gestirnen;«

Doch könnt' ich nicht die Schmeichlerin

Aus meinem Busen jagen:[17]

Oft hat sie meinen irren Sinn

Gestärkt empor getragen.


Wenn Ahndung und Erinnerung

Vor unserm Blick sich gatten,

Dann mildert sich zur Dämmerung

Der Seele tiefster Schatten.

Ach, dürften wir mit Träumen nicht

Die Wirklichkeit verweben,

Wie arm an Farbe, Glanz und Licht

Wärst dann du Menschenleben!


So hoffet treulich und beharrt

Das Herz bis hin zum Grabe;

Mit Lieb' umfaßt's die Gegenwart,

Und dünkt sich reich an Habe.

Die Habe, die es selbst sich schafft,

Mag ihm kein Schicksal rauben:

Es lebt und webt in Wärm' und Kraft,

Durch Zuversicht und Glauben.


Und wär' in Nacht und Nebeldampf

Auch Alles rings erstorben,

Dieß Herz hat längst für jeden Kampf

Sich einen Schild erworben.

Mit hohem Trotz im Ungemach

Trägt es, was ihm beschieden.

So schlummr' ich ein, so werd' ich wach,

In Lust nicht, doch in Frieden.

Quelle:
August Wilhelm von Schlegel: Sämtliche Werke Band 1, Leipzig 1846, S. 16-18.
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