Die Gesänge

[271] Wo man singet, laß dich ruhig nieder,

Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;

Wo man singet wird kein Mensch beraubt:

Bösewichter haben keine Lieder.


Wenn die Seele tief in Gram und Kummer,

Ohne Freunde, stumm, verlassen, liegt,

Weckt ein Ton, der sich elastisch wiegt,

Magisch sie aus ihrem Todesschlummer.


Wer sich nicht auf Melodienwogen

Von dem Trosse des Planeten hebt

Und hinüber zu den Geistern lebt,

Ist um seine Seligkeit betrogen.[272]


Männer gibt es, die den Geist verhöhnen,

Sich hinab zu den Polypen ziehn;

Und dort stehn sie, wenn sie nicht entglühn

In des Seelenliedes Silbertönen.


Göttliche Begeisterer, Gesänge,

Weckt in euerm Labyrinthenlauf

Oft in mir mir meinen Himmel auf;

Gern verlier' ich dann mich in der Menge.


Mit Gesange weiht dem schöne Leben

Jede Mutter ihren Liebling ein,

Trägt ihn lächelnd durch den Mayenhain,

Ihm das schönste Wiegenlied zu geben.


Mit Gesängen eilet in dem Lenze

Rasch der Knabe von des Meisters Hand,

Und die Schwester flicht am Wiesenrand

Mit Gesang dem Gaukler Blumenkränze.


Mit Gesange spricht des Jünglings Liebe,

Was in Worten unaussprechlich war;

Und der Freundinn Herz wird offenbar

Im Gesange, den kein Dichter schriebe.[273]


Männer hangen an der Jungfrau Blicken;

Aber wenn ein himmlischer Gesang

Seelenvoll der Zauberinn gelang,

Strömt aus ihrem Strahlenkreis Entzücken.


Orpheus alte Zauberlieder machten

Wilde milde; durch Amphions Laut

Wurden Kadmus Mauern aufgebaut;

Mit Gesang gewann Tyrtäus Schlachten.


Mit dem Liede, das die Weisen sannen,

Sitzen Greise froh vor ihrer Thür,

Fürchten weder Bonzen noch Vezier;

Vor dem Liede beben die Tyrannen.


Mit dem Liede greift der Mann zum Schwerte,

Wenn es Freyheit gilt, und Fug, und Recht,

Steht und trotzt dem eisernen Geschlecht,

Und begräbt sich dann im eignen Werthe.


Wenn der Becher mit dem Traubenblute

Unter Rosen unsre Stunden kürzt,

Und die Weisheit unsre Freuden würzt,

Macht ein Lied den Wein zum Göttergute.[274]


Harmonie ist aller Welten Jugend;

Dem berauschten Weisheitsforscher heißt

Harmonie des Menschen hehrer Geist,

Harmonie dem Samier die Tugend.


Das Geheimniß, daß sie alle Geister

Mächtig fort auf ihren Schwingen trägt

Und in Gottes Schooße niederlegt,

Löset nur der große Weltenmeister.


Stürmend fliegt der Blick im hohen Liede

Durch der Orione Feuerbahn;

Sanfte Laute wehn uns lieblich an,

Und um unsre Stirne säuselt Friede.


Des Gesanges Seelenleitung bringet

Jede Last der Arbeit schneller heim,

Mächtig vorwärts jeder Tugend Keim:

Weh dem Lande, wo man nicht mehr singet.


Selbst die Rotte schrecklicher Dämonen,

Die im Sturme von dem Himmel fiel,

Glaubet bey der Hölle Saitenspiel,

Fromm getäuscht, noch in dem Licht zu wohnen.[275]


Männer des Gesanges, eure Seelen

Ziehn den Himmel oft zu uns herab:

Wer, wem Gott nicht seinen Funken gab,

Kann den Segen eurer Schöpfung zählen.


Höher wird des Urgeists Macht und Ehre,

Die den Welten ihre Bahnen schmückt,

In dem Endlichen nicht ausgedrückt,

Als in euerm Harmonienmeere.


Männer, nehmt den Dank, den ihr erworben,

Für die Seligkeiten, die ihr schuft:

Wen nicht ihr zu seiner Würde ruft,

Ist für alle Tugenden erstorben.


Lieder spielen, wie mit Wachs, mit Herzen;

Rührt der Sänger nur den rechten Ton,

Schnell ist alle Seelenangst entflohn,

Schweigen Stürme und entschlummern Schmerzen.


Lieder sind in jener Strahlenwohnung,

Wo der Blick ins Empyreum taucht

Und das Licht der Geister Leben haucht,

Der verklärten Heiligen Belohnung.[276]


Wenn die Sprache stirbt von meinem Munde

Und der Schauer mein Gebein durchläuft,

Und mit Eisenarm der Tod mich greift;

Singt ein Lied zu meiner schönen Stunde!


Mit geprüfter Seelenweisheit haben

Unsre Väter längst für uns gedacht,

Lassen mit Gesang zur guten Nacht

Für den bessern Morgen uns begraben.


Täuscht uns nicht ein Ton aus jenen Chören,

Werden wir dann unter Sphärentanz

Mit dem Lichtblick durch die Sonnen ganz

Dort den großen Musageten hören.

Quelle:
Johann Gottfried Seume: Gedichte. Wien und Prag 31810, S. 271-277.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Prosaische und poetische Werke: Theil 5. Sämtliche Gedichte
Gedichte
Werke und Briefe in drei Bänden: Band 2: Apokryphen. Kleine Schriften. Gedichte. Übersetzungen
Werke und Briefe in drei Bänden: Band 2: Apokryphen. Kleine Schriften. Gedichte. Übersetzungen

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Philotas. Ein Trauerspiel

Philotas. Ein Trauerspiel

Der junge Königssohn Philotas gerät während seines ersten militärischen Einsatzes in Gefangenschaft und befürchtet, dass er als Geisel seinen Vater erpressbar machen wird und der Krieg damit verloren wäre. Als er erfährt, dass umgekehrt auch Polytimet, der Sohn des feindlichen Königs Aridäus, gefangen genommen wurde, nimmt Philotas sich das Leben, um einen Austausch zu verhindern und seinem Vater den Kriegsgewinn zu ermöglichen. Lessing veröffentlichte das Trauerspiel um den unreifen Helden 1759 anonym.

32 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon