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[35] 1.
Der trübe winter ist fürbey/
Die Kranich widerkehren;
Nun reget sich der Vogel schrey/
Die Nester sich vermehren:
Laub mit gemach
Nun schleicht an tag;
Die blümlein sich nun melden.
Wie Schlänglein krumb
Gehn lächlend vmb
Die bächlein kühl in Wälden.
2.
Der brünnlein klar/ vnd quellen rein
Viel hie/ viel dort erscheinen/
All silber-weiße töchterlein
Der holen Berg/ vnd Steinen:
In großer meng
Sie mit gedreng[35]
Wie pfeil von Felsen ziehlen;
Bald rauschens her/
Nit ohn gepleer/
Vnd mit den steinlein spielen.
3.
Die jägerin Diana stoltz/
Auch wald- vnd wasser-Nymphen/
Nun wider frisch in grünem holtz
Gahn spielen/ schertz- v schimpffen.
Die reine Sonn/
Schmuckt jhre Cron/
Den kocher fült mit pfeilen:
Ihr beste roß/
Läst lauffen loß/
Auff marmer glatten-meilen.
4.
Mit jhr die kühle Sommer-wind/
All jüngling still von sitten/
Im lufft zu spielen seind gesinnt/
Auff wolcken leicht beritten.
Die bäum vnd näst
Auch thun das best/
Bereichen sich mit schatten;
Da sich verhalt
Daß Wild im waldt/
Wans pflegt von hitz ermatten.
[36]
5.
Die meng der Vöglein hören last
Ihr Schyr- vnd Tyre-Lyre;
Da sauset auch so mancher nast/
Sampt er mit musicire.
Die zweiglein schwanck
Zum vogelsang
Sich auff/ sich nider neigen;
Auch höret man
Im grünen gahn
Spatziren Laut- vnd Geigen.
6.
Wo man nur schawt/ fast alle Welt
Zun frewden sich thut rüsten:
Zum schertzen alles ist gestelt/
Schwebt alles fast in lüften.
Nur ich allein/
Ich leide pein/
Ohn end ich werd gequeelet/
Seit ich mit dir/
Vnd du mit mir/
O JEsu/ dich vermählet.
7.
Nur ich/ O JESV/ bin allein
Mit stätem leyd vmbgeben;
Nur ich/ muß nur in schmertzen sein/
Weil nit bey dir mag leben/[37]
O stäte klag!
O wehrend plag!
Wie lang bleib ich gescheiden?
Von großem wee/
Daß dich nit seh/
Mir kombt so schwäres leiden.
8.
Nichts schmäcket mir auff gãtzer welt/
Als JESV lieb alleine:
Noch spiel/ noch schertz mir je gefelt/
Biß lang nur Er erscheine:
Vnd zwar nun frey
Mit starckem schrey
Ruff im so manche stunden:
Doch nie kein tritt/
Sich nahet nit;
Solt michs nit hart verwunden?
9.
Was nutzet mir dan schöne zeit?
Was glantz/ vnd schein der Soñen?
Waß Bäum gar lieblich außgebreit?
Waß klang der klaren Bronnen?
Waß Athem lind
Der kühlen wind?
Waß Bächlein krum geleitet?
Waß edler Mey/[38]
Waß vogelschrey?
Waß Felder grün gespreitet?
10.
Waß hilft all frewd/ all spil/ vn schertz?
All trost/ vnd lust auff Erden?
Ohn jhn ich bin doch gar in schmertz/
In leyd vnd in beschwerden.
Groß hertzen band
Mich tödt zuhandt/
Weil JESV dich nit finde;
Drumb nur ich wein/
Vnd heul/ vnd grein/
Vnd seufftzer blaß in winde.
11.
Ade du schöne Frühlingszeit/
Ihr Felder/ wäld/ vnd wisen/
Laub/ graß/ vnd blümlein new gekleid/
Mit süßem taw berisen:
Ihr wässer klar/
Erd/ himmel gar/
Ihr pfeil der gülden Soñen;
Nur pein vnd qual/
Bey mir zumahl
Hat oberhandt gewonnen.
12.
Ach JEsu/ JEsu/ trewer heldt/[39]
Wie kränckest mich so sehre!
Bin je doch hart/ vnd hart gequeelt;
Ach nit mich so beschwere.
Ja wiltu sehn/
All pein vnd peen
Im Augenblick vergangen?
Mein augen beid/
Nur führ zur weid/
Auff dein so schöne wangen.
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