Siebzehntes Kapitel

[157] In seiner Hoffnung, Klotilde werde an dem nächsten Tage anderen Sinnes sein, sah Viktor sich getäuscht. Auch die folgenden brachten keine Besserung des Verhältnisses. Zwar die Zankscene der Nacht wiederholte sich nicht; es war auch keine Veranlassung dazu: Klotilde hüllte sich in eisiges Schweigen; er seinerseits hütete sich, einen Streit von neuem zu beginnen, in welchem er keineswegs sicher war, nicht den Kürzeren zu ziehen. Und doch hätten sie gerade in diesen Tagen, die zufällig keine Gesellschaften brachten, reichlich Zeit zu einer Aussprache gehabt. Dafür wechselten sie bei Tisch ein paar gleichgültige Worte, und auch die nur, solange die Dienstboten ab- und zugingen. Nach Tisch zog sich Klotilde in ihren Salon zurück, den sie für den Abend nicht wieder verließ, um sich, meistens sehr zeitig, in ihr improvisiertes Schlafgemach zu begeben, das sie inzwischen mit den nötigen Toilettengegenständen ausgestattet hatte. Wie Viktor auf seine diskrete Nachfrage erfuhr, war den Dienstboten das neue Regime dahin erklärt worden, das »die gnädige Frau an einem bösen nächtlichen Husten leide und den Herrn um den Schlaf bringe, welchen er, bei besonders[157] schwerer Arbeit, gerade jetzt notwendig brauche.« – So hatte sie doch wenigstens den Leuten gegenüber den Schein zu bewahren gesucht!

Aber welches waren ihre wirklichen Absichten?

Darüber zerbrach sich Viktor den Kopf, und je länger und eifriger er des Rätsels Lösung zu finden suchte, desto dunkler wurde es ihm. Mein Gott, ja! sie waren von Anfang an recht oft sehr verschiedener Meinung gewesen und hatten daraus nie ein Hehl gemacht. Im übrigen war doch ihre Ehe nicht besser und nicht schlechter, nicht behaglicher oder unbehaglicher als die aller seiner Kollegen und sonstigen näheren Bekannten. Eher noch ein wenig, wenn nicht inniger, so doch einiger hinsichtlich alles dessen, was ihm in seiner Carriere förderlich sein konnte, wo es Klotilde nie an sehr verständigen Ratschlägen und thatkräftiger Unterstützung hatte fehlen lassen. Daß die relative Enge ihrer ökonomischen Verhältnisse sie manchmal ungeduldig machte, ja, lieber Himmel, er hätte auch gern die Ellbogen freier gehabt! Schließlich hatte sie doch gewußt, daß er kein reicher Mann war, es auch nie werden konnte; und die Zuschüsse, die sie von seinem Vater erhielten, waren um ein namhaftes reichlicher und liefen vor allem sehr viel regelmäßiger ein, als die ihres Vaters, der die unangenehme Gewohnheit hatte, die Quartalsdaten zu vergessen.

Schließlich blieb nur ein Erklärungsgrund ihrer Tollheit, ein völlig ungeheuerlicher freilich. Aber wie hätte er sich nicht immer wieder herzudrängen sollen, wenn alle andern etwa möglichen sich bei nur einigermaßen genauerer Prüfung als hinfällig erwiesen?[158]

Viktor hatte diese Zweifelssorgen drei Tage lang mannhaft still getragen, immer bei sich erwägend, ob er nicht Elimar ins Vertrauen ziehen sollte. Elimar war klug und die Diskretion selbst. Aber Viktor glaubte mit Sicherheit zu wissen, es habe seiner Zeit nur wenig gefehlt, so hätte Klotilde jenen und nicht ihn geheiratet. Da war denn auf ein unbefangenes Urteil bei dem Manne in dieser Sache nicht zu rechnen. Fernau? Sonst wäre Fernau sicher der Rechte gewesen, aber seit der unerquicklichen Scene zwischen ihnen neulich an dem Abend bei Sudenburgs – Und wiederum, hatte der Freund, wie Klotilde behauptete, seine Courmacherei zu weit getrieben, so war es ein seiner diplomatischer Zug, den Nebenbuhler gegen den Nebenbuhler auszuspielen. Unbefangen würde seine Auffassung der Sachlage wohl noch weniger sein, als die Elimars; aber weshalb nicht von der Scharfrichtigkeit des Hasses profitieren?

Und da wollte der Zufall, daß er am vierten Tage mit Fernau zusammentraf, als sie nach den Bureaustunden das Amt, in welchem beide gemeinschaftlich, wenn auch in verschiedenen Abteilungen, arbeiteten, zu gleicher Zeit verließen.

Sie hatten, sich erblickend, beide einen Moment gestutzt, waren dann aber, ein etwas gezwungenes Lächeln um die Lippen, mit ausgestreckten Händen aufeinander zugegangen.

Sieh' da, mon brave! sagte Fernau. Haben uns ja in einer Ewigkeit nicht gesehen! Wie geht's?

Nicht zum besten, erwiderte Viktor.

Etwas mit dem Alten?

Auch das. Er kann sich noch immer in den neuen Kurs nicht finden.[159]

Der Ihnen doch auch gegen den Strich geht.

Man laviert eben. Aber das macht mir weiter keine Schmerzen.

Was sonst?

Sie waren aus der Wilhelmstraße in die Voßstraße gebogen.

Werden Sie fahren? fragte Viktor, mit einem Blick nach dem Droschkenstande.

Ich hatte nicht die Absicht. Aber wenn Sie wollen –

Gar nicht.

Also: andiamo!

Der lange Weg nach Hause war bis auf ein kleines für beide derselbe. Fernau hatte durchaus das Gefühl, daß Viktor eine Fortsetzung ihrer letzten Auseinandersetzung wünsche. Ihm kam es gelegen; war ihm die Sache während dieser letzten Tage doch ebenfalls sehr durch den Kopf gegangen!

Hören Sie, Sorbitz, sagte er, nachdem sie eine Minute schweigend nebeneinander hingeschritten waren; es ist zwischen uns nicht alles so klar, wie es zwischen guten Freunden sein sollte. Ich kann Ihnen nur auf Ehrenwort wiederholen, was ich Ihnen neulich abends bereits gesagt habe, daß –

Sie brauchen nicht weiter zu sprechen, unterbrach ihn Viktor. Ich habe mich längst überzeugt, daß man mich geflissentlich auf Sie gehetzt hat, um –

Sie auf eine falsche Fährte zu bringen. Ganz meine Meinung.

Aber, um Gottes willen, Fernau, das ist doch ganz unbegreiflich, total verrückt! Was kann sie an dem Menschen finden?[160]

Lieber Sorbitz, wer lernt diese fin-de-siècle-Frauen aus? Es ist da alles Nerven, Idiosynkrasien, Illusionen perdues oder à perdre, falsche Appetite – was weiß ich. Nehmen wir an, man hat sich an Kuchen übergessen und schwelgt in dem Gedanken, wie himmlisch es sein müßte, wenn man die weißen Zähne so einmal in Schwarzbrot vergraben könnte. Solche Anfälle gehen vorüber – glauben Sie mir!

Sie haben gut reden. Sie sind nicht verheiratet. Sie wissen nicht, wie unsereinem ein solcher Anfall zu Haus und Hof kommt, besonders wenn er so lächerlich akut ist, wie dieser.

Also erzählen Sie mir, was ist geschehen! Ich brauche Sie nicht zu versichern, daß Sie sich auf meine Diskretion unbedingt verlassen können.

Würde ich sonst von der vertrackten Geschichte angefangen haben! Die Sache ist aber die –

Und Viktor berichtete ziemlich getreu seinen Zank mit Klotilde in der Ballnacht, und wie sich die ehelichen Verhältnisse seitdem gestaltet hatten. Nur von einem gewissen Arrangement zu sprechen, das Klotilde zu treffen beliebt, fand er nicht den Mut und wollte die ziemlich deutliche Anspielung Fernaus auf die nicht ganz ungewöhnliche Methode der Herbeiführung einer Verständigung in so verzweifelten Fällen lieber nicht verstehen.

Man war bis zum Potsdamer Platz gelangt.

Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, Sorbitz, sagte Fernau. Da steht ein Dienstmann. Schreiben Sie Ihrer Frau auf einer Karte: Sie können heute nicht zu Mittag kommen. Basta! Und lassen Sie uns im[161] Palast-Hotel dinieren. Ich selbst bin noch nicht dagewesen; aber es soll sehr gut sein.

Wozu dann noch die Karte?

Bitte sehr! Immer die Form bewahren! Darin liegt eine ungeheure Macht. Die Weglassung jedes Entschuldigungsgrundes wird die Demonstration für Ihre Frau verständlich genug machen.

Der Dienstmann war mit der Karte seines Weges geschickt; die Herren waren in das Hotel getreten und hatten in dem Restaurant bald die ihnen zusagenden Plätze entdeckt. Fernau, als vielerfahrener Junggesell, übernahm die Zusammenstellung des Menü und die Auswahl der Weine. Er war in der behaglichsten Stimmung. Je länger er Zeit gehabt hatte, über die Angelegenheit nachzudenken, desto schwerer war es ihm geworden, den »Schulmeister« ernsthaft zu nehmen. Die Sache hatte entschieden keine tiefere Bedeutung als die eine, ihm sehr genehme: das Verhältnis zwischen den beiden Gatten war wirklich so schlecht, wie er es sich nur immer wünschen konnte und wünschen mußte, sollte seiner Liebe Müh nicht vergeblich gewesen sein. Wer konnte sogar wissen, ob die kluge Frau das Techtelmechtel mit dem Schulmeister nicht arrangiert hatte, Viktor von der richtigen Fährte abzubringen! Und den schlimmsten Fall gesetzt: sie hatte wirklich ein momentanes Faible für den Menschen, das müßte doch sonderbar zugehen, wenn ihm es nicht gelänge, sie zur Raison zu bringen, über ihre Verblendung lachen zu machen – in seinen Armen natürlich!

Aber er hütete sich wohl, Viktor von diesen seinen wirklichen Empfindungen und Gedanken auch nur das[162] mindeste merken zu lassen; ein Bruder konnte um den Bruder nicht besorgter sein, als er es um den Freund war. Dergleichen könne peu à peu zu ganz ungeheuerlichen Konsequenzen führen, wenn man nicht rechtzeitig vorbeuge. Hier heiße es durchaus: principiis obsta! Und Viktor möge die schrankenlose Freiheit bedenken, in der seine Frau aufgewachsen sei! Ein Mädchen auf dem Lande, in den breiten Verhältnissen, an der Seite von ein paar leichtsinnigen Brüdern und einem Vater, der noch jeden Augenblick geneigt sei, von vorn anzufangen! Mein Gott, man kenne doch diese jungen Damen! Sie seien überall dieselben: hinten in Ostpreußen, wie in Pommern, oder Hannover. Tags über im Sattel; Nacht für Nacht in Gesellschaft auf diesem oder jenem Gute zehn Meilen in der Runde. Und hernach die Pension, wo sie lernten, was sie etwa wirklich noch nicht wüßten! Aus dem allen mache er ja keiner einzelnen einen Vorwurf – Gott bewahre! Aber man müsse die lieben Dinger nun einmal nehmen, wie sie seien!

Habe ich das etwa nicht gethan? rief Viktor, der, ohne es zu merken, den Wein beinahe allein trank. Habe ich meiner Frau nicht jede Freiheit gelassen? Ich glaube, liberaler als ich gewesen bin, kann man nicht sein.

Ja, lieber Freund, erwiderte Fernau, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, nun kommen wir zu der anderen Seite der Medaille. Sie haben ihr zu viel Freiheit gelassen, viel zu viel. Ein Vollblutfüllen – Sie verzeihen mir den Vergleich! – will eben anders behandelt sein als ein gewöhnliches. Es will leicht geführt sein; dann aber muß es auch gegebenen Falles fühlen, daß sein Reiter eine Faust von Eisen hat.[163]

Sprechen wir nicht in Bildern! bleiben wir bei der Wirklichkeit! Sie werden nun gewiß sagen: ich solle das ihr bis jetzt gewährte Maß der Freiheit einschränken. Das ist leichter gesagt als gethan. So ist sie nach wie vor des Morgens stundenlang in der Stadt; ich habe keine Ahnung, wo, obgleich es mir sehr unbehaglich ist. Ich kann sie doch nicht einsperren, wie ein Schulmädchen, das nicht gut thun will!

Das können Sie freilich nicht; aber vielleicht diese Ausflüge ein wenig kontrollieren.

Wie das, wenn ich gerade während dieser Zeit auf dem Amt festsitze?

Auf Ihre Leute haben Sie keinen Verlaß?

Ich traue keinem über den Weg. Meine Frau hat sie alle an ihrer Schleppe. Und wenn auch nicht – ich kann sie nicht hinter ihr herschicken!

Fernau nippte bedächtig an seinem Sekt.

Da bleibt nur noch ein Detektive.

Viktor hatte längst über Gebühr getrunken; das Wort machte ihn doch stutzig.

Sie sind nicht recht gescheit, Fernau, sagte er nach einer Pause, während der er sein Gegenüber zornig angestiert hatte.

Einen Privat-Detektive selbstverständlich, fuhr Fernau ruhig fort. Lieber Himmel, wir Deutsche sind so schwerfällig – verzeihen Sie mir, lieber Sorbitz! Aber ein Londoner oder Pariser in dem analogen Fall brauchte nicht erst durch einen Freund an dieses nächstliegende und unverfänglichste Hilfsmittel erinnert zu werden. Ich will Ihnen nur gestehen, daß ich mich seiner bereits wiederholt und mit bestem Erfolge bedient habe. Nach[164] ein paar Tagen wußte ich stets, was ich zu wissen wünschte. Die Leute sind treu wie Gold und verschwiegen wie das Grab. Auch brauchten Sie gar nicht ins Spiel zu kommen: ich nehme das Ganze auf mich.

Viktor schenkte sich ein Glas voll und trank es auf einen Zug leer. Er war offenbar schon halb gewonnen.

Und dann sehen Sie, Sorbitz, ich würde Ihnen den Rat nicht geben, wenn ich glaubte, der Mann würde entdecken, was Sie in der exceptionellen Stimmung, in der Sie nun einmal sind, fürchten. Ich bin wie von meinem Leben überzeugt, daß er nichts entdecken wird. Nun, und dann haben Sie Ihre Ruhe wieder. Mir deucht, bei Gott, ein solcher Gewinn ist die lumpigen paar hundert Mark wert. Was sagen Sie zu meiner Idee?

Sie könnten den Mann besorgen?

Einen absolut sichern Menschen.

Und instruieren?

Ich übernehme alles und jede Garantie dazu.

Und Sie werden mich hinterher nicht auslachen? denn, offen gestanden, ich komme mir doch bei der Geschichte ein wenig sehr –

Lieber Freund, das ist mir das erste Mal genau so gegangen: ich kam mir auch »sehr« vor. Hinterher macht man sich ein Kompliment über seinen Verstand zur rechten Zeit. Also abgemacht?

Meinetwegen.

Bravo! Und nun lassen Sie uns noch eine –

Keinen Tropfen mehr!

Wie Sie wollen. Also: den Mokka, Kellner, und Ihren besten Hennesi![165]

Quelle:
Friedrich Spielhagen: Zum Zeitvertreib. Leipzig 1897, S. 157-166.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Gryphius, Andreas

Leo Armenius

Leo Armenius

Am Heiligen Abend des Jahres 820 führt eine Verschwörung am Hofe zu Konstantinopel zur Ermordung Kaiser Leos des Armeniers. Gryphius schildert in seinem dramatischen Erstling wie Michael Balbus, einst Vertrauter Leos, sich auf den Kaiserthron erhebt.

98 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon