Vierter Gesang

[306] Der Gott des Lebens kann den Menschen, den er mit so dringenden, über dies irdische Sein hinausfordernden Bedürfnissen ausstattete, nicht vernichten wollen; denn überall wehen uns aus der Natur Töne der Huld entgegen; und selbst der Schmerz ward zum Schutzgeist der Freude bestellt. Diese holde Pflegerin des Lebens kommt uns freundlich entgegen, und schließt sich, nicht unwürdig der hohen Bestimmung, dem Gefolge der Tugend an. Eine nicht minder hohe Begleiterin unserer heiligsten Gefühle ist die Phantasie. Sie erhebt uns über dies Dasein hinaus, und feiert mit einer schönen Seele das Leben höherer Welten. Aus höhern Welten kamen, um uns die Pilgerschaft durch diese noch mehr zu versüßen, die Liebe und die Freundschaft, wie zwei tröstende Genien, herab, und blicken voll Sehnsucht nach ihrer Heimat zurück, zu ihrem Himmel, der sie nicht zurückweisen kann. Diese Sehnsucht, und wenn sie auch in einem leichten, heitern Leben gleichsam in den Hintergrund zurücktritt, verschwindet nie.

Auch die Dunkelheiten unsers Erdendaseins sind eine Sendung der Huld. Die Stürme des Lebens regen in uns die großen Bedürfnisse auf, um mit der ganzen Kraft ihrer Ansprüche auf eine Zukunft uns zu begeistern. Kamen nun Leben und Vernichtung aus einer Hand: so ist dies Dasein eine Welt der Widersprüche. Das Leben ist eine flüchtige Erscheinung, in der wir nur unsre Mängel fühlen lernen. Unzufrieden mit sich selbst, blickt der Weiseste in die Vergangenheit zurück. Die Gestalten der Erde verschwinden; die unsterbliche Kunst sieht ihr Gebilde zerfallen; alles deutet hin auf physischen Tod; aber die Auflösung des irdischen Daseins ist die opfernde Vergötterungsscene des geistigen Menschen. Selbst in der Natur findet kein Übergang zum Nichtsein statt. Wir wissen zwar so wenig das Woher, als das Wohin unsers Seins: genug, daß wir sind; daß die Natur nicht auflösen kann, was im Reiche der Gestalten nicht entsprang. Des Menschen innigstes Seelenleben, die geistige Kraft, das Heilige zu fassen, die Tugend anzuerkennen, ist über die Ansprüche der Natur erhaben. Die Art des Zusammenhanges der geistigen Kraft mit der sinnlichen Organisation begreifen wir nicht. Unabhängig von diesem Geheimnisse, ist die Anerkennung unsers innigsten Berufs: fortzustreben zu einer immer mehr befriedigenden Vollendung, die eine Unendlichkeit verbürgt und voraussetzt.

Quelle:
Deutsche Nationalliteratur, Band 135, Stuttgart [o.J.], S. 306-307.
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