[60] Die kleine Fürstin lag, ein weißes Häubchen auf dem Kopf, in den Kissen; die Schmerzen hatten gerade aufgehört. Einzelne sich schlängelnde Strähnen ihres schwarzen Haares lagen auf ihren glühenden, schweißbedeckten Wangen. Das rote, reizende Mündchen mit den schwarzen Härchen auf der Oberlippe war geöffnet, und sie lächelte freudig. Fürst Andrei trat ins Zimmer und blieb am Fußende des Sofas, auf dem sie lag, vor ihr stehen. Ihre glänzenden Augen, in deren Blick eine kindliche Furcht und Erregung lag, hefteten sich auf ihn, ohne jedoch ihren Ausdruck zu verändern. »Ich liebe euch alle; ich habe niemandem Böses getan; wofür leide ich? Helft mir doch!« sagte dieser Blick. Sie sah ihren Mann; aber sie begriff nicht, welche Bedeutung es hatte, daß er jetzt vor ihr stand. Fürst Andrei ging um das Sofa herum und küßte sie auf die Stirn.
»Mein Herzchen!« sagte er, ein Kosewort, dessen er sich ihr gegenüber noch nie bedient hatte. »Gott ist gnädig ...«
Sie blickte ihn fragend und kindlich vorwurfsvoll an.
»Ich habe Hilfe von dir erwartet, und du tust nichts, hilfst mir nicht; du bist auch wie die andern!« sagten ihre Augen. Sie wunderte sich nicht, daß er gekommen war; sie hatte für seine[60] Ankunft kein Verständnis. Seine Ankunft stand in keiner Beziehung zu ihren Leiden und zu deren Erleichterung. Die Schmerzen setzten von neuem ein, und Marja Bogdanowna riet dem Fürsten Andrei, lieber hinauszugehen.
Der Arzt trat ins Zimmer. Fürst Andrei ging hinaus. Draußen traf er die Prinzessin Marja und trat wieder zu ihr. Sie redeten flüsternd miteinander; aber alle Augenblicke verstummte ihr Gespräch. Sie warteten und horchten.
»Geh hin, lieber Bruder«, sagte Prinzessin Marja.
Fürst Andrei ging wieder zu seiner Frau, setzte sich im Nebenzimmer hin und wartete. Eine Frau kam aus dem Zimmer, in welchem sich die kleine Fürstin befand, mit angstvollem Gesicht heraus und wurde beim Anblick des Fürsten Andrei verlegen. Er bedeckte das Gesicht mit den Händen und saß so mehrere Minuten lang. Ein klägliches, hilfloses, tierisches Stöhnen erscholl durch die Tür. Fürst Andrei stand auf, trat zu der Tür und wollte sie öffnen. Aber sie wurde von jemand festgehalten.
»Es geht jetzt nicht, es geht jetzt nicht«, sagte von innen eine ängstliche Stimme.
Er begann im Zimmer auf und ab zu gehen. Das Geschrei verstummte; es vergingen noch einige Sekunden. Plötzlich erscholl im Nebenzimmer ein furchtbarer Schrei; dieser Schrei konnte ja doch nicht aus ihrem Mund gekommen sein, dachte Fürst Andrei; so konnte sie doch nicht schreien. Fürst Andrei lief zur Tür hin; das Schreien verstummte; er hörte das Quäken eines kleinen Kindes.
»Wozu haben sie ein kleines Kind dorthin gebracht?« dachte Fürst Andrei in der ersten Sekunde. »Ein kleines Kind? Was für ein kleines Kind ...? Wozu ist dort ein kleines Kind? Oder ist da ein Kind geboren?«
Da begriff er auf einmal die ganze freudige Bedeutung dieser[61] quäkenden Töne; die Tränen erstickten ihn fast; er stützte sich mit beiden Ellbogen auf das Fensterbrett und weinte schluchzend, so wie Kinder weinen.
Die Tür ging auf. Der Arzt, ohne Rock, mit aufgerollten Hemdsärmeln, blaß und mit zitterndem Unterkiefer, trat aus dem Zimmer. Fürst Andrei wandte sich zu ihm; aber der Arzt blickte ihn wie geistesabwesend an und ging, ohne ein Wort zu sagen, an ihm vorbei. Eine Frau kam herausgelaufen und blieb, als sie den Fürsten Andrei erblickte, zögernd auf der Schwelle stehen. Er ging in das Zimmer seiner Frau hinein. Sie lag tot da, in derselben Haltung, in der er sie fünf Minuten vorher gesehen hatte, und trotz der starr gewordenen Augen und der Blässe der Wangen lag noch derselbe Ausdruck auf diesem reizenden, kindlichen Gesichtchen mit den schwarzen Härchen auf der Oberlippe.
»Ich liebe euch alle und habe niemandem Böses getan; und was habt ihr mit mir gemacht?« sagte ihr reizendes, mitleiderregendes, totes Antlitz.
In der Ecke des Zimmers grunzte und winselte etwas Kleines, Rotes in Marja Bogdanownas weißen, zitternden Händen.
Zwei Stunden später ging Fürst Andrei mit leisen Schritten zu seinem Vater in dessen Zimmer. Der Alte wußte schon alles. Er stand dicht an der Tür, und sowie sie sich öffnete, umschlang er schweigend mit seinen steifen, alten Armen den Hals seines Sohnes und schluchzte wie ein Kind.
Drei Tage darauf wurde an der Leiche der kleinen Fürstin das Totenamt gehalten, und Fürst Andrei stieg, um von ihr Abschied zu nehmen, die Stufen hinan, auf denen der Sarg stand. Auch[62] im Sarg war ihr Gesicht unverändert, obwohl die Augen nun geschlossen waren. »Ach, was habt ihr mit mir gemacht?« sagte es immer noch, und Fürst Andrei fühlte, daß in seiner Seele gleichsam etwas zerrissen war, daß ihn eine Schuld drückte, die er nicht wiedergutmachen und nicht vergessen konnte. Er war nicht imstande zu weinen.
Der Alte stieg ebenfalls hinauf und küßte das eine wachsartige Händchen der Toten, das still und mit hohem Hohlraum über dem andern lag, und auch zu ihm sagte ihr Gesicht: »Ach, was habt ihr mit mir gemacht, und womit habe ich es verdient?« Und der Alte wandte sich mit grimmiger Miene weg, als er dieses Gesicht erblickte.
Wieder fünf Tage später wurde der kleine Fürst Nikolai Andrejewitsch getauft. Die Amme hielt mit dem Kinn die Windeln fest, während der Geistliche mittels einer Gänsefeder die runzeligen, roten Handflächen und Fußsohlen des Knaben salbte.
Taufpate war der Großvater; in größter Furcht, daß er den Kleinen fallen lassen könnte, trug er ihn zitternd um das blecherne verbeulte Taufbecken herum und übergab ihn dann der Patin, der Prinzessin Marja. Fürst Andrei saß in einem Nebenzimmer, voller Angst, daß man ihm seinen Sohn ertränken werde, und wartete auf die Beendigung der heiligen Handlung. Mit herzlicher Freude sah er das Kind an, als die Kinderfrau es ihm brachte, und nickte beifällig mit dem Kopf, als sie ihm berichtete, daß das in das Taufbecken geworfene Wachsklümpchen mit Haaren des Täuflings nicht untergesunken sei, sondern auf dem Wasser geschwommen habe.