[331] Am andern Tag fuhr Fürst Andrei aus, um Besuche bei mehreren Familien zu machen, bei denen er noch nicht gewesen war, darunter auch bei Rostows, mit denen er die Bekanntschaft auf dem Silvesterball erneuert hatte. Abgesehen davon, daß er nach den Vorschriften der Höflichkeit diesen letzteren einen Besuch abzustatten hatte, wollte Fürst Andrei auch gern dieses eigenartige, lebhafte junge Mädchen, das ihm eine so angenehme Erinnerung hinterlassen hatte, in ihrer häuslichen Umgebung sehen.
Zu den ersten Familienmitgliedern, die zu dem Besucher in den Salon kamen, gehörte auch Natascha. Sie trug ein blaues Hauskleid, in welchem sie dem Fürsten Andrei noch schöner vorkam als in der Balltoilette. Sie und die ganze Familie Rostow nahmen den Fürsten Andrei wie einen alten Freund schlicht und herzlich auf. Die gesamte Familie, über die Fürst Andrei früher ein ungünstiges Urteil gehabt hatte, schien ihm jetzt aus netten, natürlichen, braven Menschen zu bestehen. Die Gastfreundschaft und Gutherzigkeit des alten Grafen, die in Petersburg besonders angenehm überraschte, wirkte auf den Fürsten Andrei so stark, daß er nicht imstande war, eine Einladung zum Mittagessen abzulehnen. »Ja«, dachte er, »das sind gute, prächtige Menschen. Natürlich haben sie nicht das geringste Verständnis für den Schatz, den sie an Natascha besitzen; aber es sind gute Menschen, die einen vortrefflichen Hintergrund bilden, von dem sich diese hochpoetische, lebensvolle, entzückende Mädchengestalt abhebt!«
Fürst Andrei hatte gleich bei der ersten Begegnung aus Nataschas Wesen herausgefühlt, daß diese in einer ihm ganz fremden[331] Welt lebte, angefüllt mit Freuden, die ihm unbekannt waren, in jener fremden Welt, die damals, in der Allee von Otradnoje und am Fenster in der mondhellen Nacht, als ein beunruhigendes Rätsel vor ihm gestanden hatte. Jetzt stand diese Welt nicht mehr als ein Rätsel vor ihm, sie war ihm nicht mehr fremd, sondern er selbst fand, in sie eintretend, in ihr einen ihm bisher unbekannten Genuß.
Nach Tisch ging Natascha auf des Fürsten Andrei Bitte an das Klavier und begann zu singen. Fürst Andrei stand am Fenster, sprach mit den andern Damen und hörte dem Gesang zu. Aber mitten in einem Satz verstummte Fürst Andrei, da er plötzlich fühlte, daß ihm die Tränen in die Kehle stiegen, was er bisher bei sich für unmöglich gehalten hatte. Er betrachtete die singende Natascha, und in seiner Seele vollzog sich ein neuer, beglückender Vorgang. Fürst Andrei fühlte sich glücklich und gleichzeitig traurig. Er hatte schlechterdings keinen Anlaß zum Weinen, und doch war er nahe daran, es zu tun. Worüber? Über seine frühere Liebe? Über die kleine Fürstin? Über seine Enttäuschungen? Über seine Hoffnungen für die Zukunft? ... Ja und nein. Die Hauptsache, die ihn beinahe zum Weinen brachte, war der ihm auf einmal lebhaft zum Bewußtsein gekommene furchtbare Kontrast zwischen etwas unendlich Großem, Unbestimmtem, das in ihm war, und etwas Engem, Körperlichem, welches er selbst war und auch sogar sie. Dieser Kontrast war es, der ihn während ihres Gesanges zugleich quälte und erfreute.
Sowie Natascha aufgehört hatte zu singen, trat sie zu ihm und fragte ihn, wie ihm ihre Stimme gefalle. Sowie die Frage heraus war, wurde auch Natascha verlegen, da sie merkte, daß sie danach nicht hätte fragen dürfen. Er blickte sie lächelnd an und erwiderte, ihr Gesang gefalle ihm ebenso wie alles, was sie tue.
Erst am späten Abend fuhr Fürst Andrei von Rostows fort. Er[332] legte sich in gewohnter Weise zu Bett, sah aber bald ein, daß er nicht schlafen könne. Bald saß er bei der wieder angezündeten Kerze auf dem Bett, bald stand er auf, bald legte er sich wieder hin, ohne über seine Schlaflosigkeit im geringsten verdrießlich zu werden – seine Seele war von einem so neuen, freudigen Gefühl erfüllt, als ob er aus einem dumpfigen Zimmer in die freie Gotteswelt hinausgetreten wäre. Der Gedanke, daß er in Fräulein Rostowa verliebt sei, kam ihm gar nicht in den Sinn; er dachte an sie nicht mit dem Verstand, er stellte sie sich nur mit der Einbildungskraft vor, und infolgedessen erschien ihm sein ganzes Leben in einem neuen Licht. »Warum zerquäle ich mich, warum plage ich mich ab in diesem engen, geschlossenen Rahmen, während doch das Leben, das ganze Leben mit allen seinen Freuden offen vor mir daliegt?« fragte er sich selbst. Und zum erstenmal seit langer Zeit begann er glückliche Pläne für die Zukunft zu entwerfen. Er sagte sich, er müsse jetzt für die Erziehung seines Sohnes sorgen und zunächst einen Erzieher für ihn suchen und ihn diesem übergeben; dann müsse er Urlaub nehmen und ins Ausland fahren, um England, die Schweiz und Italien zu besuchen. »Ich muß meine Freiheit genießen, solange ich noch soviel Kraft und Jugendlichkeit in mir fühle«, sagte er zu sich selbst. »Pierre hatte recht: man muß an die Möglichkeit des Glückes glauben, um glücklich zu sein. Und ich glaube jetzt an diese Möglichkeit. Lassen wir die Toten die Toten begraben; solange man am Leben ist, muß man leben und glücklich sein.«