[512] Am Abend dieses Tages fuhren Rostows in die Oper, zu welcher Marja Dmitrijewna ihnen Billetts besorgt hatte. Natascha hatte eigentlich gar keine Lust hinzufahren; aber sie[512] durfte Marja Dmitrijewnas Freundlichkeit, die ausschließlich ihr galt, nicht ablehnen. Als sie fertig angekleidet in den Saal kam, um dort auf ihren Vater zu warten, und, sich in dem großen Spiegel betrachtend, sah, daß sie hübsch, sehr hübsch war, da wurde ihr noch trauriger zumute; aber mit der Traurigkeit paarte sich eine süße Liebessehnsucht.
»O Gott, wenn er jetzt hier wäre, dann würde ich ihn nicht so umarmen wie früher, wo ich mich dummerweise, ich weiß nicht wovor, scheute, sondern in einer neuen Art, einfach und natürlich, und ich würde mich an ihn schmiegen und ihn dazu bringen, mich mit jenen suchenden, forschenden Augen anzusehen, mit denen er mich so oft angesehen hat, und dann würde ich ihn dazu bringen, so zu lachen, wie er damals lachte. Und seine Augen! Wie ich sie vor mir sehe, diese Augen!« dachte Natascha. »Und was gehen mich sein Vater und seine Schwester an: ich liebe ihn, nur ihn, ihn, mit diesem Gesicht und diesen Augen, mit seinem zugleich männlichen und kindlichen Lächeln ... Nein, ich will lieber nicht an ihn den ken, will diese Zeit über nicht an ihn denken, ihn vergessen, ganz vergessen. Sonst ertrage ich diesen Zustand des Wartens nicht, ich fange gleich an loszuschluchzen.« Sie trat vom Spiegel weg, indem sie sich Gewalt antat, nicht in Tränen auszubrechen. »Wie bringt es Sonja nur fertig, Nikolai so ruhig und gleichmäßig zu lieben und so lange und mit solcher Geduld zu warten!« dachte sie, als sie Sonja erblickte, die, gleichfalls in Toilette, mit dem Fächer in der Hand, eintrat. »Nein, sie hat eine ganz andere Natur als ich. Ich kann das nicht!«
Natascha fühlte sich in diesem Augenblick so weich und zärtlich gestimmt, daß es ihr nicht genügte, zu lieben und sich geliebt zu wissen; sie sehnte sich danach, jetzt, jetzt gleich den geliebten Mann zu umarmen und ihm die Liebesworte zu sagen, von denen ihr[513] Herz voll war, und ebensolche Worte von ihm zu hören. Während sie, neben ihrem Vater sitzend, im Wagen dahinrollte und gedankenvoll nach der befrorenen Fensterscheibe hinblickte, hinter der die Lichter der Laternen flimmernd vorbeihuschten, fühlte sie sich noch stärker von Liebessehnsucht und Traurigkeit ergriffen und vergaß ganz, mit wem und wohin sie fuhr. Der Wagen, in welchem Rostows fuhren, schwenkte nun in die lange Reihe von Equipagen ein und rückte, langsam mit den Rädern über den Schnee hinknirschend, bis zum Theater vor. Hurtig sprangen Natascha und Sonja, ihre Kleider zusammenraffend, heraus; auch der Graf stieg, von den Dienern unterstützt, aus, und zwischen den hineingehenden Damen und Herren und den Zettelverkäufern hindurch begaben sie sich alle drei in den Korridor der Parkettlogen. Durch die angelehnten Türen hindurch waren schon die Klänge der Musik zu hören.
»Natascha, dein Haar ...«, flüsterte Sonja.
Der Logenschließer glitt höflich und eilig vor den Damen her und öffnete die Tür der Loge. Die Musik wurde deutlicher vernehmbar; im Rahmen der Tür zeigten sich die strahlend hell erleuchteten Reihen der Logen mit den entblößten Schultern und Armen der Damen und das lärmende, von Uniformen glänzende Parkett. Eine Dame, die in die Nachbarloge eintrat, richtete einen frauenhaft neidischen Blick auf Natascha. Der Vorhang war noch nicht aufgezogen; es wurde erst die Ouvertüre gespielt. Natascha schritt, nachdem sie noch ihr Kleid geordnet hatte, mit Sonja durch die Tür, setzte sich und betrachtete die erleuchteten Reihen der gegenüberliegenden Logen. Das Bewußtsein, welches sie seit langer Zeit nicht mehr gehabt hatte, daß Hunderte von Blicken sich auf ihre nackten Arme und auf ihren nackten Hals richteten, dieses Bewußtsein erregte bei ihr jetzt auf einmal eine halb angenehme, halb unangenehme Empfindung und rief einen[514] Schwarm damit in Zusammenhang stehen der Erinnerungen, Wünsche und unruhiger Gedanken hervor.
Die beiden auffällig hübschen Mädchen, Natascha und Sonja, nebst dem Grafen Ilja Andrejewitsch, den man in Moskau lange nicht gesehen hatte, zogen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. Außerdem hatten alle eine wenn auch unsichere Kenntnis von Nataschas Verlobung mit dem Fürsten Andrei, wußten, daß Rostows seitdem auf dem Land gelebt hatten, und betrachteten nun neugierig die Braut eines der besten Heiratskandidaten in ganz Rußland.
Natascha war, wie ihr alle Bekannten gesagt hatten, auf dem Land noch schöner geworden, und an diesem Abend erschien sie infolge der innerlichen Erregung ganz besonders schön. Sie überraschte durch ihre Lebhaftigkeit und Schönheit, im Verein mit einer großen Gleichgültigkeit gegen ihre ganze Umgebung. Ihre schwarzen Augen blickten auf die Menschenmenge, ohne irgendeinen einzelnen zu suchen, und während der dünne, bis über den Ellbogen entblößte Arm auf der samtenen Brüstung ruhte, schloß und öffnete sich offenbar unbewußt ihre Hand nach dem Takt der Ouvertüre und zerknitterte den Theaterzettel.
»Sieh mal, da ist Fräulein Alenina«, sagte Sonja; »ich glaube, mit ihrer Mutter.«
»Herrje! Michail Kirillowitsch ist noch dicker geworden!« rief der alte Graf erstaunt.
»Seht nur, da ist unsere Anna Michailowna, und mit was für einer Toque!«
»Frau Karagina ist da, mit Julja, und Boris ist auch bei ihnen. Daraus kann man doch gleich sehen, daß die beiden Braut und Bräutigam sind.«
»Drubezkoi hat seinen Antrag gemacht. Es ist sicher, ich habe es[515] heute erfahren«, sagte Schinschin, der in die Rostowsche Loge hereingekommen war.
Natascha schaute nach der Richtung, nach der ihr Vater hinsah, und erblickte Julja, die, eine Perlenschnur um den dicken, roten (wie Natascha wußte: gepuderten) Hals, mit glückstrahlendem Gesicht neben ihrer Mutter dasaß. Hinter ihnen war der glatt frisierte Kopf des schönen Boris sichtbar; Boris lächelte und beugte sich mit dem Ohr zu Juljas Mund hinab. Unter der Stirn hervor blickte er nach Rostows hin und sagte lächelnd etwas zu seiner Braut.
»Sie sprechen von uns, von meiner früheren Beziehung zu ihm!« dachte Natascha. »Boris beschwichtigt gewiß die Eifersucht seiner Braut auf mich; sie machen sich unnütze Sorgen! Wenn sie wüßten, wie gleichgültig sie mir alle sind!«
Dahinter saß, eine grüne Toque auf dem Kopf, mit glücklicher, feierlicher Miene, welche ihre Ergebung in den Willen Gottes zum Ausdruck brachte, Anna Michailowna. In dieser Loge herrschte offenbar jene Stimmung, die durch die Anwesenheit eines Brautpaares hervorgerufen zu werden pflegt, eine Stimmung, die Natascha so gut kannte und so sehr liebte. Sie wandte sich ab, und plötzlich kam ihr all das Demütigende in den Sinn, das der von ihr am Vormittag gemachte Besuch für sie gehabt hatte.
»Was hat er für ein Recht, meiner Aufnahme in seine Familie zu widerstreben? Ach, das beste ist, gar nicht daran zu denken, nicht daran zu denken, ehe er nicht angekommen ist!« sagte sie zu sich selbst und begann nun, die bekannten und unbekannten Gesichter im Parkett zu mustern. Vorn im Parkett, gerade in der Mitte, mit dem Rücken sich gegen die Rampe lehnend, stand Dolochow mit seinem gewaltigen, nach oben hinaufgekämmten Schopf krauser Haare, in persischem Kostüm. Er stand an der[516] sichtbarsten Stelle des ganzen Theaters; aber obwohl er wußte, daß er die Aufmerksamkeit des gesamten Publikums auf sich zog, stand er geradeso ungeniert da, wie wenn er sich in seinem eigenen Zimmer befände. Um ihn standen in dichtem Schwarm die vornehmsten jungen Lebemänner Moskaus, und er nahm unter ihnen augenscheinlich die Stelle des Matadors ein.
Graf Ilja Andrejewitsch stieß lachend die errötende Sonja an, indem er auf ihren ehemaligen Verehrer zeigte.
»Hast du ihn erkannt?« fragte er sie. Dann wandte er sich an Schinschin: »Von wo mag der sich hier wieder eingefunden haben? Er war ja ganz verschwunden, irgendwohin, weit weg.«
»Ganz richtig«, antwortete Schinschin. »Er war im Kaukasus; aber er desertierte dort, wurde, wie es heißt, Minister bei irgendeinem regierenden Fürsten in Persien und ermordete dort den Bruder des Schahs: na, die Moskauer Damen sind wie verrückt nach ihm! Der Perser Dolochow, das ist jetzt der Clou. Das dritte Wort heißt bei uns jetzt immer Dolochow: man betrachtet ihn als Ideal; man lädt, wie auf einem Sterlet, Gäste auf ihn ein. Dolochow und Anatol Kuragin haben bei uns allen Damen geradezu die Köpfe verdreht.«
In die benachbarte Loge trat eine schöne Frau von hohem Wuchs, mit einer außerordentlich starken Haarflechte, die volle, weiße Büste sehr tief dekolletiert; um den Hals trug sie eine doppelte Schnur großer Perlen. Es dauerte lange, bis sie, mit ihrem starren seidenen Kleid raschelnd, zum Sitzen kam.
Natascha betrachtete unwillkürlich diesen Hals, diese Schultern, diese Perlen, diese Frisur und bewunderte die Schönheit der Schultern und der Perlen. Während sie bereits zum zweitenmal die Dame musterte, wandte diese sich um, und als ihre Blicke denen des Grafen Ilja Andrejewitsch begegneten, nickte sie ihm zu und lächelte. Dies war die Gräfin Besuchowa, Pierres Frau. Ilja[517] Andrejewitsch, der alle Leute auf der Welt kannte, bog sich hinüber und knüpfte ein Gespräch mit ihr an.
»Sind Sie schon lange in Moskau, Gräfin?« fragte er. »Ich werde mir erlauben herumzukommen und Ihnen die Hand zu küssen. Ich bin in geschäftlichen Angelegenheiten nach Moskau gekommen und habe meine Mädchen mitgebracht. Die Semjonowa soll ja unvergleichlich spielen«, redete er weiter. »Graf Peter Kirillowitsch hat sich unser immer freundlich erinnert. Ist er hier?«
»Ja, er wollte herkommen«, erwiderte Helene und musterte Natascha mit großer Aufmerksamkeit.
Graf Ilja Andrejewitsch setzte sich wieder auf seinen Platz.
»Sie ist schön, nicht wahr?« fragte er Natascha flüsternd.
»Ganz wunderschön!« erwiderte Natascha. »In die kann sich einer schon verlieben!«
In diesem Augenblick erklangen die letzten Akkorde der Ouvertüre, und der Stab des Kapellmeisters klopfte auf. Im Parkett begaben sich einige Herren, die sich verspätet hatten, eilig auf ihre Plätze, und der Vorhang ging in die Höhe.
Sowie der Vorhang in die Höhe ging, wurde in den Logen und im Parkett alles still, und alle Herren, alte und junge, in Uniformen und in Fracks, alle Damen mit kostbaren Steinen an den nackten Körperteilen richteten in lebhafter Spannung ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Bühne. Natascha blickte ebenfalls dorthin.
Buchempfehlung
Vier Erzählungen aus den frühen 1890er Jahren. - Blumen - Die kleine Komödie - Komödiantinnen - Der Witwer
60 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro