XXI

[132] Petja ging, nachdem ihm seine Bitte so entschieden abgeschlagen war, auf sein Zimmer, schloß sich dort ein und weinte bitterlich. Zum Tee erschien er schweigend, mit finsterer Miene und verweinten Augen; aber alle taten, als bemerkten sie nichts davon.

Am andern Tag traf der Kaiser ein. Mehrere von der Rostowschen Dienerschaft erbaten sich Urlaub, um hinzugehen und den Zaren zu sehen. An diesem Morgen verbrachte Petja viel Zeit mit seinem Anzug; sein Haar und seinen Hemdkragen machte er so zurecht, wie es bei Erwachsenen üblich war. Vor dem Spiegel nahm er zur Übung eine ernste, grimmige Miene an, gestikulierte und bewegte die Schultern; zuletzt setzte er, ohne jemandem etwas davon zu sagen, die Mütze auf und verließ, um unbemerkt zu bleiben, das Haus durch die Hintertür. Petja hatte vor, geradewegs dahin zu gehen, wo der Kaiser war, und ohne weiteres[132] irgendeinem Kammerherrn (nach Petjas Vorstellung war der Kaiser immer von Kammerherren umgeben) mitzuteilen, daß er, Graf Rostow, trotz seiner Jugend dem Vaterland zu dienen wünsche, daß sein jugendliches Alter kein Hindernis für seine Hingebung an die große Sache bilden dürfe, und daß er bereit sei ... Während Petja sich fertig machte, hatte er sich viele schöne Worte zurechtgelegt, die er dem Kammerherrn sagen wollte.

Petja rechnete auf einen Erfolg seiner Bitte an den Kaiser namentlich deswegen, weil er noch so jung war (er stellte es sich sogar schon im voraus vor, wie alle über sein jugendliches Alter erstaunt sein würden); zugleich aber wollte er doch durch das Arrangement seines Hemdkragens, durch seine Frisur und durch seinen gemessenen, langsamen Gang sich als einen schon älteren Menschen darstellen. Aber je weiter er ging und je mehr die in immer dichteren Scharen dem Kreml zuströmende Volksmenge seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, um so mehr vergaß er es, jene ehrbare, gemessene Haltung zu beobachten, wie sie den Erwachsenen eigen ist. Als er sich dem Kreml näherte, hatte er schon seine Not, nicht zu arg gequetscht zu werden, und stemmte mit entschlossener, drohender Miene die Arme in die Seiten. Aber im Troizkija-Tor drückten trotz all seiner Entschlossenheit die Menschen, die wahrscheinlich nicht wußten, in welcher patriotischen Absicht er nach dem Kreml ging, ihn dermaßen gegen die Mauer, daß er sich fügen und stehenbleiben mußte, während die Equipagen laut donnernd durch das Torgewölbe hineinfuhren. Um Petja herum standen eine Frau mit ihrem Diener, zwei Kaufleute und ein verabschiedeter Soldat. Nachdem Petja eine Weile im Torweg gestanden hatte, wollte er, ohne abzuwarten, bis die Equipagen sämtlich vorbeigefahren sein würden, früher als die andern weitergehen und begann kräftig mit den Ellbogen zu arbeiten; aber die Frau, die ihm im Weg stand[133] und gegen die er zuerst seine Ellbogen in Tätigkeit setzte, schrie ihn ärgerlich an:

»Aber Herrchen, du stößt einen ja! Du siehst doch, daß alle noch stehenbleiben. Wie kannst du dich da vordrängen!«

»Wir werden schon alle weitergehen; nur Geduld!« sagte der Diener, begann nun ebenfalls mit den Ellbogen zu arbeiten und drückte Petja in einen übelriechenden Winkel des Torwegs hinein.

Petja wischte sich mit den Händen den Schweiß ab, der ihm das Gesicht bedeckte, und suchte den vom Schweiß weich gewordenen Hemdkragen in Ordnung zu bringen, den er zu Hause so schön nach Art der Erwachsenen zurechtgelegt hatte.

Er fühlte, daß sein Äußeres nicht mehr sehr präsentabel war, und fürchtete, wenn er in dieser Gestalt vor die Kammerherren hinträte, so würden sie ihn nicht zum Kaiser lassen. Aber sich zurechtzumachen und sich an einen andern Platz zu begeben, war bei dem Gedränge ein Ding der Unmöglichkeit. Einer der vorbeifahrenden Generale war ein Bekannter der Familie Rostow. Petja wollte ihn schon um seinen Beistand bitten, sagte sich dann aber doch, daß das seiner männlichen Würde nicht angemessen sei. Als alle Equipagen vorübergefahren waren, drängte die Menge nach und trug auch Petja mit hinein auf den großen Platz, der ganz von Menschen angefüllt war. Nicht nur auf dem Platz selbst, sondern auch auf den Böschungen und auf den Dächern, überall standen Menschen. Sobald Petja auf den Platz gelangt war, hörte er in voller Deutlichkeit die Glockenklänge, die den ganzen Kreml erfüllten, und das fröhliche Redegesumme der Volksmenge.

Als alles sich zurechtgeschoben hatte, stand man auf dem Platz eine Zeitlang etwas weniger eng; aber auf einmal entblößten sich alle Köpfe, und alles stürzte irgendwohin nach vorn. Petja[134] wurde so arg gedrückt, daß er nicht atmen konnte, und alle schrien: »Hurra! Hurra! Hurra!« Petja hob sich auf den Zehen in die Höhe, stieß und kniff seine Vordermänner, konnte aber nichts weiter sehen als die Menschen, die ihn umgaben.

Auf allen Gesichtern lag der gleiche Ausdruck der Rührung und der Begeisterung. Eine Kaufmannsfrau, die neben Petja stand, schluchzte laut, und die Tränen rollten ihr aus den Augen.

»Väterchen, Schutzengel, Wohltäter!« rief sie unaufhörlich und wischte sich mit den Fingern die Tränen weg.

»Hurra!« wurde auf allen Seiten geschrien.

Einen Augenblick lang blieb die Menge auf einer Stelle stehen; aber dann stürmte sie wieder vorwärts.

Petja, der kaum von sich selbst wußte, biß die Zähne zusammen, riß mit einem Ausdruck tierischer Wildheit die Augen weit auf und stürzte vorwärts, indem er mit den Ellbogen um sich stieß und Hurra! schrie, als wäre er ohne weiteres bereit, im nächsten Augenblick sich selbst und alle andern zu töten; neben ihm stürzten Leute mit ebenso tierisch wilden Gesichtern vorwärts und schrien gleichfalls Hurra.

»Da sieht man, was für ein hohes Wesen ein Kaiser ist!« dachte Petja. »Nein, ihm selbst darf ich meine Bitte nicht vortragen; das wäre doch gar zu kühn!« Trotzdem arbeitete er sich mit immer gleicher Heftigkeit weiter nach vorn hindurch und erblickte hinter dem Rücken seiner Vordermänner hervor bereits den freien Raum, auf dem ein Weg mit rotem Tuch belegt war; aber in diesem Augenblick wich die Menge in wellenförmiger Bewegung zurück (vorn stießen Polizisten diejenigen zurück, die sich gar zu nah an den Zug herandrängten: der Kaiser ging vom Palais nach der Uspenski-Kathedrale), und Petja erhielt unerwartet einen solchen Stoß in die Seite gegen die Rippen und wurde so zusammengepreßt, daß ihm auf einmal vor den Augen alles dunkel wurde[135] und er das Bewußtsein verlor. Als er wieder zu sich kam, hielt ihn ein Mann geistlichen Standes, mit einem Büschel grauer Haare hinten am Kopf, in dem abgetragenen, langen, blauen Rock eines kirchlichen Beamten, wahrscheinlich ein Küster, mit einer Hand unter der Achsel, mit der andern schützte er ihn gegen die andringende Menge.

»Ihr habt ja den jungen Herrn erdrückt!« sagte der Küster. »Ist das eine Zucht ...! Sachte, sachte ... Erdrückt habt ihr ihn, geradezu erdrückt!«

Der Kaiser war vorbeigekommen und in die Uspenski-Kathedrale gegangen. Nun floß die Menge wieder einigermaßen auseinander, und der Küster führte Petja, der ganz blaß aussah und nur schwach atmete, zur Kaiserkanone1 hin. Einige mitleidige Seelen sprachen ihr Bedauern über Petjas Unfall aus, und auf einmal wandte sich der ganze Menschenschwarm zu ihm hin, und es entstand um ihn ein starkes Gedränge. Die zunächst Stehenden suchten ihm hilfreich zu sein, knöpften ihm den Rock auf, setzten ihn auf den Sockel der Kanone und schalten auf diejenigen, die ihn so gedrückt hatten.

»So kann man ja einen Menschen totdrücken! Was soll denn das vorstellen! Das ist ja Mord! Seht bloß mal, wie blaß der nette Junge geworden ist, weiß wie ein Laken!« so redeten sie durcheinander.

Petja erholte sich bald wieder, die Farbe kehrte in sein Gesicht zurück, der Schmerz verging, und um ihn für diese zeitweilige Unannehmlichkeit zu trösten, gab man ihm einen Platz auf der Kanone, von wo aus er hoffen konnte den Kaiser zu sehen, der bei der Rückkehr aus der Kirche hier vorbeikommen mußte. Petja[136] dachte jetzt gar nicht mehr daran, seine Bitte vorzutragen. Wenn er ihn nur zu sehen bekam, auch dann schon wollte er sich für hochbeglückt halten!

Während des Gottesdienstes in der Uspenski-Kathedrale (man verband dabei eine Feier anläßlich der Ankunft des Kaisers mit einem Dankfest wegen des Friedensschlusses mit der Türkei) zerstreute sich die Menge zum Teil, und es erschienen laut schreiende Händler mit Kwas, Pfefferkuchen und Mohn, von welchem letzteren Petja ein besonderer Liebhaber war, und man hörte Gespräche alltäglichen Inhalts. Eine Kaufmannsfrau zeigte ihren Schal, der ihr in dem Gedränge zerrissen war, und erzählte, wieviel sie seinerzeit dafür gegeben habe; eine andere sprach davon, daß alle Seidenstoffe jetzt so teuer geworden seien. Der Küster, Petjas Retter, setzte einem Beamten auseinander, was für eine Menge von Geistlichen heute neben dem hochwürdigsten Metropoliten beim Gottesdienst mitwirke; dabei bediente er sich mehrere Male der Wendung »unter Assistenz des Klerus«, die Petja nicht verstand. Zwei junge Bürgersöhne scherzten mit ein paar Landmädchen, welche Nüsse knackten.

Aber keines von diesen Gesprächen vermochte jetzt Petjas Interesse zu erregen, nicht einmal die Späßchen mit den jungen Mädchen, die doch sonst für Petja, wie überhaupt für junge Leute in seinem Alter, einen besonderen Reiz hatten; er saß auf seinem erhöhten Sitz, der Kanone, von dem Gedanken an den Kaiser und an seine Liebe zu ihm noch immer ebenso aufgeregt wie vorher. Der Umstand, daß zu dem Gefühl der Begeisterung sich noch das Gefühl des Schmerzes und der Furcht bei der argen Zusammenpressung gesellt hatte, dieser Umstand diente dazu, das Bewußtsein von der hohen Bedeutung dieses Momentes bei ihm noch zu verstärken.

Plötzlich ertönten von der Uferstraße her Kanonenschüsse (es[137] wurde zur Feier des Friedensschlusses mit den Türken geschossen), und die Menge stürzte hastig dorthin, um zuzusehen, wie geschossen wurde. Petja wollte ebenfalls hinlaufen; aber der Küster, der den jungen Herrn unter seine Obhut genommen hatte, ließ ihn nicht weg. Das Schießen war noch nicht zu Ende, als aus der Uspenski-Kathedrale schnellen Schrittes mehrere Offiziere, Generale und Kammerherren herauskamen und darauf minder schnell noch einige andere Herren. Wieder flogen die Mützen von den Köpfen, und diejenigen, die weggelaufen waren, um die Kanonen zu sehen, kamen wieder zurückgerannt. Endlich kamen noch vier Herren, in Uniform und mit Ordensbändern, aus dem Portal der Kathedrale her aus. »Hurra! Hurra!« schrie die Menge von neuem.

»Welcher ist es? Welcher ist es?« fragte Petja die Umstehenden mit weinerlicher Stimme; aber niemand gab ihm Antwort, alle waren zu sehr mit ihrer Begeisterung beschäftigt. So wählte sich denn Petja einen von diesen vier Herren aus, den er durch die Freudentränen, die ihm in den Augen standen, allerdings nicht deutlich sehen konnte, konzentrierte auf ihn, obgleich es gar nicht der Kaiser war, seine ganze Begeisterung, schrie wie wütend Hurra und nahm sich vor, morgen, es koste, was es wolle, Soldat zu werden.

Die Menge lief hinter dem Kaiser her, begleitete ihn bis zum Palais und begann sich dann zu zerstreuen. Es war schon spät, und Petja hatte nichts gegessen, und der Schweiß floß ihm in Strömen am Körper herab; aber er ging nicht nach Hause, sondern stand mit der zwar kleiner gewordenen, aber immer noch recht beträchtlichen Volksmenge während des Diners des Kaisers vor dem Palais, blickte nach den Fenstern hinauf und beneidete in gleichem Grad die hohen Würdenträger, die beim Portal vorfuhren, um sich zu dem kaiserlichen Diner zu begeben, und die[138] Kammerlakaien, die an der Tafel aufwarteten und mitunter an den Fenstern vorüberhuschten.

An der Tafel sagte Walujew nach einem Blick durch das Fenster zum Kaiser:

»Das Volk hofft immer noch, Euer Majestät zu sehen.«

Die Tafel war bereits zu Ende, der Kaiser stand, noch mit dem Verzehren eines Biskuits beschäftigt, auf und trat auf den Balkon hinaus. Das Volk, und Petja mitten darunter, stürzte nach dem Balkon hin.

»Schutzengel! Väterchen! Hurra! Wohltäter ...!« schrie das Volk, darunter auch Petja; und wieder weinten viele Frauen vor Glückseligkeit, sowie, wenn auch in etwas geringerem Maße, einige Männer, auch Petja.

Ein ziemlich großes Stück von dem Biskuit, das der Kaiser in der Hand hielt, brach ab, fiel auf das Geländer des Balkons und von dem Geländer auf die Erde. Ein Kutscher in ärmellosem Wams, der am nächsten dabeistand, stürzte auf dieses Stück Biskuit los und ergriff es. Einige aus der Menge warfen sich auf den Kutscher. Als der Kaiser dies bemerkte, ließ er sich einen Teller mit Biskuits reichen und begann, die Biskuits vom Balkon herunterzuwerfen. Die Äderchen in Petjas Augen füllten sich mit Blut; durch die Gefahr, erdrückt zu werden, wurde seine Aufregung noch gesteigert; er stürzte sich auf die Biskuits. Er wußte nicht warum; aber er mußte, mußte ein Biskuit aus den Händen des Kaisers haben und durfte sich durch nichts hindern lassen. Er stürzte auf eine alte Frau los, die nach einem Biskuit griff, und stieß sie um. Aber die Alte gab sich, obgleich sie auf der Erde lag, noch nicht besiegt: sie griff von neuem nach dem Biskuit, kam aber mit den Armen nicht hin; denn Petja stieß mit seinem Knie ihren Arm beiseite, packte das Biskuit, und als wenn er fürchtete, damit zu spät zu kommen, schrie[139] er mit bereits heiser gewordener Stimme eilig von neuem: »Hurra!«

Der Kaiser trat wieder hinein, und darauf begann der größte Teil der Menge auseinanderzugehen.

»Ich habe es ja gleich gesagt, daß wir noch warten müßten; und das ist denn auch das Richtige gewesen«, sagten die Leute an verschiedenen Stellen mit vergnügten Gesichtern.

So glücklich sich Petja auch fühlte, so kam es ihm doch gar zu traurig vor, gleich nach Hause zu gehen und sich sagen zu müssen, daß nun der ganze Genuß dieses Tages zu Ende sei. Daher begab er sich aus dem Kreml nicht nach Hause, sondern zu seinem Kameraden Obolenski, der auch fünfzehn Jahre alt war und ebenfalls in ein Regiment eintreten wollte. Als er dann nach Hause zurückgekehrt war, erklärte er mit aller Bestimmtheit und Festigkeit, wenn man ihn nicht eintreten ließe, so werde er davonlaufen. Und am andern Tag fuhr Graf Ilja Andrejewitsch, obwohl er noch nicht völlig eingewilligt hatte, dennoch aus, um sich zu erkundigen, wie man Petja irgendwo möglichst gefahrlos unterbringen könne.

Fußnoten

1 Sie ist 5,3 m lang und steht vor der Kaserne am Senatsplatz.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 132-140.
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