XXXI

[359] Der General, hinter welchem Pierre herjagte, wandte sich, sobald er an den Fuß des Berges gelangt war, scharf nach links, und Pierre, der ihn aus den Augen verloren hatte, sprengte in die Reihen einer vor ihm her marschierenden Infanteriekolonne hinein. Er versuchte, bald nach vorn, bald nach rechts, bald nach links sich wieder hinauszuarbeiten; aber überall waren Soldaten mit gleichmäßig ernsten Gesichtern, denen man es ansah, daß die Gedanken dieser Menschen mit einer nicht unmittelbarm sichtbaren, aber wichtigen Sache beschäftigt waren. Alle blickten sie mit dem gleichen unwillig fragenden Ausdruck nach diesem dicken Menschen mit dem weißen Hut hin, der sie ohne vernünftigen Grund in Gefahr brachte, von seinem Pferd getreten zu werden.

»Warum reiten Sie denn da mitten im Bataillon?« schrie ihn einer an. Ein anderer stieß Pierres Pferd mit dem Kolben, und Pierre, der sich an den Sattelbogen drückte und nur mit Mühe sein scheuendes Pferd zu halten vermochte, jagte nach vorn aus der Truppe hinaus, wo freier Raum war.

Vor ihm war eine Brücke, und an der Brücke standen andere Soldaten und schossen. Pierre ritt zu ihnen heran. So gelangte er, ohne sich selbst darüber klarzuwerden, zu der Kolotscha-Brücke, die zwischen Gorki und Borodino lag und die die Franzosen jetzt in dem ersten Teil der Schlacht (nach der Besetzung von Borodino) angriffen. Pierre sah, daß vor ihm eine Brücke war und daß auf beiden Seiten der Brücke und auf der Wiese, wo das Heu in Schwaden lag, Soldaten irgend etwas taten; aber trotz des keinen Augenblick verstummenden Schießens, das an dieser Stelle stattfand, glaubte er keineswegs, daß dies hier wirklich das Schlachtfeld sei. Er hörte nicht die Töne der auf allen[360] Seiten vorüberpfeifenden Flintenkugeln und der über ihn wegfliegenden Kanonenkugeln; er sah nicht den jenseits des Flusses stehenden Feind und bemerkte lange Zeit die Getöteten und Verwundeten nicht, obgleich viele nicht weit von ihm entfernt fielen. Mit einem Lächeln, das nicht von seinem Gesicht wich, blickte er umher.

»Was hat denn der da vor der Linie umherzureiten?« schrie ihn wieder einer an.

»Nach links reiten! Nach rechts reiten!« wurde ihm zugerufen.

Pierre ritt nach rechts und stieß unvermutet mit einem ihm bekannten Adjutanten des Generals Rajewski zusammen. Dieser Adjutant warf Pierre einen zornigen Blick zu und schickte sich offenbar an, ihn gleichfalls anzuschreien; aber nachdem er ihn erkannt hatte, nickte er ihm freundlich zu.

»Wie kommen Sie denn hierher?« sagte er und ritt weiter.

Pierre, der das Gefühl hatte, daß er hier nicht hingehöre und hier nichts anfangen könne, und wieder jemandem hinderlich zu sein fürchtete, ritt dem Adjutanten nach.

»Was geht denn hier vor? Kann ich mit Ihnen mitreiten?« fragte er.

»Sofort, sofort!« antwortete der Adjutant, sprengte zu einem dicken Obersten hin, der auf der Wiese stand, überbrachte ihm einen Auftrag und wandte sich dann erst zu Pierre.

»Warum sind Sie denn hierhergekommen, Graf?« fragte er ihn lächelnd. »Aus lauter Wißbegierde?«

»Jawohl«, antwortete Pierre.

Aber der Adjutant wendete sein Pferd und ritt weiter.

»Hier steht es ja, Gott sei Dank, gut«, sagte er. »Aber auf dem linken Flügel bei Bagration ist ein schrecklicher Kampf im Gange.«

»Wirklich?« fragte Pierre. »Wo ist denn das?«

»Reiten Sie mit mir dort auf den Hügel. Von uns aus können[361] Sie es sehen. Bei uns in der Batterie ist es noch erträglich«, sagte der Adjutant. »Wie ist's? Kommen Sie mit?«

»Ja, ich komme mit Ihnen«, antwortete Pierre und sah sich suchend nach seinem Reitknecht um.

Erst jetzt erblickte Pierre zum erstenmal Verwundete, die sich teils zu Fuß fortschleppten, teils auf Bahren getragen wurden. Auf jener selben kleinen Wiese mit den duftenden Heuschwaden, über die er tags zuvor geritten war, lag quer über den Schwaden unbeweglich ein Soldat; der Kopf, von dem der Tschako herabgefallen war, hing in unnatürlicher Haltung herunter.

»Warum ist denn der Mann nicht aufgehoben?« wollte Pierre fragen; aber als er das finstere Gesicht des Adjutanten sah, der nach derselben Seite hinblickte, hielt er inne.

Pierre hatte seinen Reitknecht nicht gefunden und ritt mit dem Adjutanten durch die Niederung in einem Hohlweg nach dem Rajewski-Hügel. Sein Pferd blieb hinter dem des Adjutanten zurück und versetzte ihm in gleichmäßigem Tempo schüttelnde Stöße.

»Sie sind das Reiten wohl nicht gewöhnt, Graf?« fragte der Adjutant.

»Nein, ich bin kein besonderer Reiter; aber das Pferd springt auch so eigentümlich«, antwortete Pierre verwundert.

»Ah, ah! Es ist ja verwundet«, sagte der Adjutant. »Das rechte Vorderbein, über dem Knie. Gewiß von einer Kugel. Ich gratuliere Ihnen, Graf, zur Feuertaufe.«

Nachdem sie in dichtem Pulverrauch durch das sechste Korps geritten waren, hinter der Artillerie, die, nach vorn gezogen, aus ihren Geschützen ein betäubendes Feuer unterhielt, gelangten sie zu einem kleinen Wald. In dem Wald war es kühl und still, und es roch herbstlich. Pierre und der Adjutant stiegen von den Pferden und gingen zu Fuß bergauf.[362]

»Ist der General hier?« fragte der Adjutant, als sie an die oberste Kuppe gelangt waren.

»Eben war er noch hier; er ist dorthin geritten«, antworteten ihm die Soldaten und wiesen dabei nach rechts.

Der Adjutant sah sich nach Pierre um, als wüßte er nicht, was er nun mit ihm anfangen sollte.

»Lassen Sie sich durch mich von nichts abhalten«, sagte Pierre. »Ich werde auf die Kuppe hinaufsteigen; darf ich?«

»Ja, steigen Sie nur hinauf; von da ist alles zu sehen, und es ist nicht besonders gefährlich. Ich hole Sie nachher wieder ab.«

Pierre ging zu der Batterie hinauf, und der Adjutant ritt weiter. Sie sahen einander nicht mehr wieder, und erst lange nachher erfuhr Pierre, daß dem Adjutanten an diesem Tag ein Arm weggerissen worden war.

Die Kuppe, auf die Pierre hinaufstieg, war jene berühmte Schanze, die nachher bei den Russen unter dem Namen »Hügelbatterie« oder »Rajewski-Batterie« und bei den Franzosen unter dem Namen »die große Redoute«, »die verhängnisvolle Redoute«, »die Redoute des Zentrums« bekannt wurde, jener Ort, um den herum sehr bedeutende Truppenmassen aufgestellt waren und den die Franzosen für den wichtigsten Punkt der Position hielten.

Diese Redoute bestand aus einer Kuppe, bei der auf drei Seiten Gräben gezogen waren. Auf dem von den Gräben eingeschlossenen Platz standen zehn feuernde Kanonen, die in die Öffnungen der Wälle vorgezogen waren.

In einer Linie mit der Kuppe standen auf beiden Seiten noch andere Kanonen, die ebenfalls unaufhörlich schossen. Ein wenig hinter den Kanonen war Infanterie aufgestellt. Als Pierre diese Kuppe betrat, glaubte er in keiner Weise, daß dieser mit kleinen Gräben umschlossene Raum, auf dem ein paar[363] Kanonen standen und schossen, der wichtigste Punkt des Schlachtfeldes sei.

Im Gegenteil schien es ihm, daß dieser Platz (gerade deshalb, weil er selbst sich dort befand) einer der bedeutungslosesten des Schlachtfeldes sei.

Nachdem Pierre auf die Kuppe gekommen war, setzte er sich am Ende des Grabens nieder, der die Batterie umschloß, und betrachtete mit einem unwillkürlichen frohen Lächeln das, was um ihn herum vorging. Ab und zu stand er, immer mit demselben Lächeln, auf und ging in der Batterie umher, wobei er sich bemühte, den Soldaten nicht hinderlich zu sein, die die Geschütze luden und zurechtschoben und fortwährend mit Kartuschbeuteln und Geschossen an ihm vorbeiliefen. Die Kanonen dieser Batterie schossen unaufhörlich eine nach der andern mit betäubendem Krachen und hüllten alles ringsumher in Pulverdampf.

Im Gegensatz zu der Beklommenheit, die sich bei den Infanteristen der Bedeckung fühlbar machte, herrschte hier auf der Batterie, wo eine kleine Anzahl von Menschen von den andern durch einen Graben abgegrenzt und getrennt und ganz von ihrer Tätigkeit in Anspruch genommen war, eine gleichmäßige, allgemeine Lebhaftigkeit und ein Gefühl, als ob sie alle eine Familie bildeten.

Das Erscheinen der unmilitärischen Gestalt Pierres mit seinem weißen Hut hatte diese Leute anfangs überrascht und ihr Mißfallen erregt. Die Soldaten, die an ihm vorbeikamen, schielten erstaunt und sogar scheu nach seiner Figur hin. Der Artillerieoberst, ein älterer, großer, langbeiniger, pockennarbiger Mann, kam, wie wenn er die Wirkung des am Ende der Reihe stehenden Geschützes beobachten wollte, in Pierres Nähe und musterte ihn neugierig.

Ein blutjunger Offizier mit rundem Gesicht, noch völlig Kind[364] und offenbar eben erst aus dem Kadettenkorps entlassen, der mit großem Eifer bei den beiden ihm überwiesenen Kanonen Anordnungen erteilte, wandte sich mit strenger Miene zu Pierre.

»Mein Herr, gestatten Sie, daß ich Sie ersuche, aus dem Weg zu gehen«, sagte er. »Hier dürfen Sie nicht stehen.«

Auch die Soldaten sahen Pierre mißbilligend an und schüttelten die Köpfe.

Aber als alle sich allmählich überzeugt hatten, daß dieser Mensch mit dem weißen Hut nichts Übles tat, sondern entweder friedlich auf der Böschung des Walles saß oder schüchtern lächelnd und vor den Soldaten höflich zur Seite tretend in der Batterie unter den Schüssen so ruhig umherwanderte wie auf einem Boulevard, da ging nach und nach das Gefühl mißgünstiger Verwunderung über ihn in ein freundliches, scherzhaftes Interesse über, ähnlich dem, das die Soldaten für ihre Tiere hegen: für die Hunde, Hähne, Ziegen und sonstigen Tiere, die bei den Truppen gehalten werden. Diese Soldaten nahmen nun Pierre unverzüglich in ihre Familie auf, betrachteten ihn als den Ihrigen und gaben ihm einen Spitznamen. »Unser gnädiger Herr« nannten sie ihn und lachten vergnügt über ihn untereinander.

Eine Kanonenkugel wühlte zwei Schritte von Pierre entfernt die Erde auf. Er klopfte sich von den Kleidern die Erde ab, die ihm die Kugel daraufgespritzt hatte, und blickte lächelnd um sich.

»Fürchten Sie sich denn gar nicht, gnädiger Herr? Wahrhaftig wunderbar!« wandte sich ein stämmiger Soldat mit rotem Gesicht an Pierre und zeigte, vergnügt grinsend, seine kräftigen, weißen Zähne.

»Nun, fürchtest du dich denn etwa?« fragte Pierre.

»Aber gewiß!« antwortete der Soldat. »So eine Kugel hat kein Mitleid. Wenn die auf einen niederquatscht, drückt sie einem die Därme heraus. Da muß man sich schon fürchten«, sagte er lachend.[365]

Einige Soldaten blieben mit vergnügten, freundlichen Gesichtern bei Pierre stehen. Sie schienen von vornherein erwartet zu haben, daß er anders reden werde wie alle anderen Leute, und die Entdeckung, daß dem wirklich so war, freute sie.

»Wir sind nun einmal Soldaten. Aber so ein vornehmer Herr, das ist erstaunlich! So einen vornehmen Herrn findet man selten!«

»An die Plätze!« rief der junge Offizier den Soldaten zu, die sich um Pierre angesammelt hatten.

Dieser junge Offizier verrichtete seinen Dienst offenbar erst zum ersten- oder zweitenmal und benahm sich deshalb den Soldaten und den Vorgesetzten gegenüber mit besonderer Akkuratesse und Förmlichkeit.

Das stetig rollende Donnern der Kanonenschüsse und das Knattern des Gewehrfeuers verstärkte sich über das ganze Feld hin, und namentlich zur Linken, da, wo sich die Pfeilschanzen Bagrations befanden; aber wegen des Rauches der Schüsse war von Pierres Standplatz aus fast nichts zu sehen. Außerdem nahm die Beobachtung dieses sozusagen Familienkreises, den die von allen andern abgetrennten Leute in der Batterie bildeten, Pierres ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Die erste unwillkürlich freudige Erregung, die der Anblick und die Töne des Schlachtfeldes bei ihm hervorgerufen hatten, war jetzt, namentlich nach dem Anblick des allein auf der Wiese liegenden Soldaten, von einem anderen Gefühl abgelöst worden. Während er jetzt auf der Böschung des Grabens saß, beobachtete er die ihn umgebenden Personen.

Um zehn Uhr waren bereits gegen zwanzig Mann aus der Batterie weggetragen; zwei Geschütze waren zerschossen, und immer häufiger fielen in der Batterie Kanonenkugeln nieder und kamen summend und pfeifend von fernher Flintenkugeln hereingeflogen.[366] Aber die Leute in der Batterie schienen das gar nicht zu bemerken; auf allen Seiten waren heitere Gespräche und Scherze zu hören.

»Eine gefüllte!« schrie ein Soldat mit Bezug auf eine Granate, die pfeifend herbeigeflogen kam.

»Sie kommt nicht hierher! Zur Infanterie!« fügte lachend ein anderer hinzu, als er bemerkte, daß die Granate vorüberflog und in die Reihen der Bedeckungsmannschaft einschlug.

»Das ist wohl eine gute Bekannte von dir, daß du dich so verbeugst?« sagte ein anderer Soldat lachend zu einem Bauern, der sich beim Vorbeifliegen einer Kanonenkugel duckte.

Einige Soldaten sammelten sich am Wall und betrachteten, was da vorn, beim Feind, geschah.

»Auch die Vorpostenkette haben sie zurückgenommen, siehst du wohl; sie sind zurückgegangen«, sagten sie, über den Wall hinüberweisend.

»Kümmert euch um das, was ihr zu tun habt!« schrie sie ein alter Unteroffizier an. »Wenn sie zurückgegangen sind, dann müssen wir ihnen von hinten nachhelfen.«

Der Unteroffizier faßte einen der Soldaten von hinten an den Schultern und stieß ihn mit dem Knie. Die Umstehenden lachten.

»An das fünfte Geschütz! Rückt es vor!« wurde von der einen Seite gerufen.

»Zugleich, alle mit einemmal, wie die Schiffsknechte!« schrien die Soldaten fröhlich, während sie die Kanone vorschoben.

»Ei, sieh mal, die hätte unserm gnädigen Herrn beinah den Hut vom Kopf geschlagen«, rief der Spaßmacher mit dem roten Gesicht, sich über Pierre lustig machend, und zeigte lachend seine Zähne. »Ach, du ungeschicktes Ding!« fügte er vorwurfsvoll für[367] die Kugel hinzu, die auf ein Rad und auf das Bein eines Menschen gefallen war.

»Nun, ihr Füchse? Kommt ihr geschlichen?« redete ein anderer lachend die Landwehrleute an, die in gebückter Haltung in die Batterie kamen, um den Verwundeten zu holen.

»Was macht ihr denn für Gesichter? Euch schmeckt wohl die Grütze nicht? Ach, ihr Maulaffen, ihr steht ja wie die Holzklötze da!« riefen die Soldaten den Landwehrleuten zu, die vor dem Soldaten mit dem abgeschossenen Bein unschlüssig stehenblieben.

»Ja, ja, Kinderchen!« neckte man die Bauern. »Das will euch nicht gefallen!«

Pierre bemerkte, daß nach jeder einschlagenden Kanonenkugel, nach jedem Verlust die allgemeine Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit immer mehr aufflammte.

Wie aus einer heranziehenden Gewitterwolke, so zuckten auf den Gesichtern aller dieser Menschen (gleichsam dem, was sich da vollzog, zum Trotz) immer häufiger und immer heller die Blitze eines verborgen brennenden Feuers auf.

Pierre blickte nicht mehr nach vorn auf das Schlachtfeld und hatte kein Interesse mehr daran, zu erfahren, was dort geschah; er war ganz in die Beobachtung dieses immer mehr und mehr auflodernden Feuers vertieft, das, wie er fühlte, ganz ebenso auch in seiner eigenen Seele brannte.

Um zehn Uhr zog sich die feindliche Infanterie, die der Batterie gegenüber in den Büschen und an dem Flüßchen Kamenka gestanden hatte, zurück. Man konnte von der Batterie aus sehen, wie sie an ihm entlang zurückliefen und dabei ihre Verwundeten auf den Flinten trugen. Ein General mit seiner Suite kam auf die Kuppe, redete ein paar Worte mit dem Obersten, warf Pierre einen ärgerlichen Blick zu und stieg dann wieder hinunter, nachdem[368] er noch der Infanterie, die als Bedeckung hinter der Batterie stand, befohlen hatte, sich hinzulegen, um den Kugeln weniger ausgesetzt zu sein. Bald darauf hörte man bei der Infanterie rechts von der Batterie Trommeln und Kommandorufe und konnte von der Batterie aus sehen, wie die Reihen der Infanterie sich vorwärts in Marsch setzten.

Pierre blickte über den Wall. Ein einzelnes Gesicht fiel ihm besonders in die Augen. Es war dies ein Offizier, der mit seinem blassen, jugendlichen Gesicht, den Degen gesenkt haltend, vor seinen Leuten rückwärts ging und sich dabei unruhig umblickte.

Die Reihen der Infanteristen verschwanden im Pulverdampf; man hörte ihr langgezogenes Geschrei und häufiges Gewehrfeuer. Einige Minuten darauf kam eine Menge von Verwundeten, zu Fuß oder auf Tragbahren, von dort zurück. In die Batterie schlugen die Kanonenkugeln noch häufiger ein. Einige Soldaten, die getroffen waren, lagen da, ohne weggeschafft zu werden. Die Mannschaft bewegte sich in noch lebhafterer Geschäftigkeit um die Kanonen. Niemand kümmerte sich mehr um Pierre. Ein paarmal wurde er zornig angeschrien, weil er im Weg wäre. Der Oberst, der ein sehr finsteres Gesicht machte, ging mit großen, schnellen Schritten von einem Geschütz zum andern. Der junge Offizier, dessen Gesicht sich noch mehr gerötet hatte, erteilte den Soldaten seine Befehle mit noch größerem Eifer. Die Soldaten tummelten sich hurtig, reichten die Geschosse hin, luden und erfüllten ihre Aufgabe mit stolzem Selbstbewußtsein. Sie gingen so elastisch wie auf Sprungfedern.

Die Gewitterwolke war herangerückt, und hell brannte auf allen Gesichtern jenes Feuer, dessen Aufflammen Pierre verfolgt hatte. Er stand neben dem Obersten. Der junge Offizier kam zu dem Obersten herangelaufen, die Hand am Tschako.

»Ich habe die Ehre zu melden, Herr Oberst, daß nur noch acht[369] Ladungen vorhanden sind. Befehlen Sie, das Feuer fortzusetzen?«

»Kartätschen!« schrie der Oberst nach einem Blick über den Wall, ohne auf die Frage zu antworten.

Plötzlich begab sich etwas: der junge Offizier stöhnte auf, krümmte sich zusammen und setzte sich auf die Erde wie ein im Flug geschossener Vogel. Pierre hatte die Empfindung, daß sich vor seinen Augen alles in seltsamer Weise verwandle, undeutlich und trübe werde.

In rascher Folge kamen Kanonenkugeln pfeifend geflogen und schlugen in die Brustwehr, in die Mannschaft und in die Geschütze ein. Pierre, der früher nicht auf diese Töne hingehört hatte, hörte jetzt weiter nichts als sie. Seitwärts von der Batterie, zur Rechten, liefen Soldaten mit Hurrageschrei nicht vorwärts, sondern zurück, wie es Pierre vorkam.

Eine Kanonenkugel schlug gerade in den Rand des Walles, bei dem Pierre stand, schüttete eine Menge Erde herunter, huschte vor seinen Augen wie ein schwarzer Ball vorbei und klatschte in demselben Augenblick in etwas hinein. Die Landwehrleute, die gerade in die Batterie hereinkommen wollten, liefen wieder zurück.

»Alle mit Kartätschen!« schrie der Oberst.

Ein Unteroffizier kam zu ihm gelaufen und flüsterte ihm ängstlich zu (in der Art, wie bei einem Diner der Haushofmeister dem Hausherrn meldet, daß von der gewünschten Sorte Wein nichts mehr da ist), es sei keine Munition mehr vorhanden.

»Die Halunken, was machen sie mir für Geschichten!« schrie der Oberst, sich zu Pierre umwendend.

Das Gesicht des Obersten war rot und von Schweiß bedeckt; seine finster blickenden Augen blitzten.

»Lauf zur Reserve und hole die Munitionskasten!« schrie er,[370] indem er zornig mit seinem Blick Pierre vermied und sich an seinen Untergebenen wandte.

»Ich werde hingehen«, sagte Pierre.

Ohne ihm zu antworten, ging der Oberst mit großen Schritten nach der andern Seite.

»Nicht schießen! Warten!« rief er.

Der Unteroffizier, dem befohlen war Munition zu holen, stieß mit Pierre zusammen.

»Ach, gnädiger Herr, das ist für dich hier nicht der richtige Platz«, sagte er und lief bergab.

Pierre lief ihm nach, indem er im Bogen die Stelle umging, wo der junge Offizier saß.

Eine Kugel, eine zweite, eine dritte flogen über ihn hin und schlugen vor ihm, neben ihm, hinter ihm ein. Pierre lief hinunter. »Wohin laufe ich eigentlich?« fragte er sich auf einmal, als er schon zu den grünen Munitionskasten gekommen war. Er blieb stehen, unschlüssig, ob er zurück- oder vorwärtsgehen solle. Plötzlich warf ihn ein furchtbarer Stoß rückwärts auf die Erde. In demselben Augenblick beleuchtete ihn der Glanz eines großen Feuers, und gleichzeitig erscholl ein betäubendes, in den Ohren dröhnendes Donnern, Krachen und Pfeifen.

Als Pierre wieder zu sich kam, saß er auf der Erde, auf die er sich mit den Händen stützte; der Munitionskasten, neben dem er gestanden hatte, war nicht mehr da; nur angekohlte grüne Bretter und Lappen lagen auf dem versengten Gras umher, und das eine Pferd jagte, mit den Trümmern der Gabeldeichsel um sich schlagend, von ihm weg, das andere lag, ebenso wie Pierre selbst, auf der Erde und stieß ein durchdringendes, langgezogenes Kreischen aus.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 3, S. 359-371.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon