[51] Am 8. September kam in die Remise zu den Gefangenen ein Offizier, und zwar von sehr hohem Rang, nach dem Respekt zu urteilen, den ihm die Wachmannschaft erwies. Dieser Offizier, wahrscheinlich einer vom Stab, rief, mit einem Verzeichnis in der Hand, alle Russen bei Namen auf, wobei er Pierre so bezeichnete: »Der, der seinen Namen nicht angibt.« Gleichgültig und lässig ließ er seinen Blick über die Gefangenen hinschweifen und befahl dem Wachoffizier, dafür zu sorgen, daß sie gewaschen, gekämmt und ordentlich gekleidet seien, wenn sie zum Marschall geführt würden. Eine Stunde darauf erschien eine Kompanie Soldaten, und Pierre wurde mit den andern dreizehn auf das[51] Jungfernfeld gebracht. Es war, nachdem es vorher geregnet hatte, ein klarer, sonniger Tag geworden, und die Luft war ungewöhnlich rein. Der Rauch breitete sich nicht unten aus, wie an dem Tag, als Pierre von der Hauptwache am Subowski-Wall weggeführt wurde, sondern stieg in der klaren Luft säulenförmig in die Höhe. Feuer von Bränden war nirgends sichtbar; aber Rauchsäulen erhoben sich auf allen Seiten, und ganz Moskau, alles, was Pierre nur sehen konnte, war eine einzige Brandstätte. Ringsum sah man leere Hausstellen mit Öfen und Schornsteinen und an einzelnen Orten die ausgebrannten Mauern steinerner Häuser. Pierre blickte nach den Brandstätten hin und erkannte die ihm so wohlbekannten Stadtteile nicht wieder. Hier und da standen Kirchen, die verschont geblieben waren. Der Kreml war nicht zerstört; seine Türme leuchteten aus der Ferne weiß herüber, darunter der mächtige Glockenturm Iwan Weliki. In der Nähe glänzte fröhlich die Kuppel des Nowodjewitschi-Klosters, und das Geläut erklang von dorther an diesem Tag besonders hell. Bei diesem Geläut erinnerte sich Pierre daran, daß Sonntag war und Mariä Geburt. Aber niemand schien dieses Fest feiern zu wollen: überall sah man nur die Verwüstung des Brandes, und von der russischen Bevölkerung zeigten sich nur hier und da zerlumpte, ängstliche Gestalten, die sich beim Anblick der Franzosen versteckten.
Rußlands Mutterstadt war augenscheinlich zerstört und vernichtet; aber es drängte sich Pierre die Wahrnehmung auf, daß nach Vernichtung der russischen Lebensordnung in dieser zerstörten Mutterstadt sich eine eigenartige, ganz andere Ordnung, die feste französische Ordnung, etabliert hatte. Er merkte das beim Anblick dieser flott und munter in regelmäßigen Reihen marschierenden Soldaten, die ihn nebst den anderen Arrestanten eskortierten; er merkte es beim Anblick eines höheren französischen[52] Beamten, der ihnen in einer zweispännigen, von einem Soldaten gelenkten Kalesche begegnete. Er merkte es an den lustigen Klängen einer Regimentsmusik, die von der linken Seite des Feldes herübertönte, und namentlich war es ihm durch jene Liste zum Gefühl und zum Verständnis gekommen, nach welcher der an diesem Morgen erschienene französische Offizier die Gefangenen aufgerufen hatte. Pierre war nur durch eine Patrouille arretiert und dann mit soundsoviel anderen Menschen zuerst nach dem einen, dann nach einem anderen Ort transportiert worden; man hätte meinen mögen, daß er vergessen oder mit andern verwechselt werden konnte. Aber nein: seine Antworten, die er beim Verhör gegeben hatte, hatte man ihm unter der Bezeichnung: »Der, der seinen Namen nicht angibt«, angeschrieben. Und unter dieser Bezeichnung, die ihm fürchterlich war, transportierten ihn jetzt die Soldaten irgendwohin, mit der auf ihren Gesichtern zu lesenden zweifellosen Überzeugung, daß er und die übrigen Gefangenen die richtigen Personen seien und nach dem richtigen Ort geführt würden. Pierre kam sich wie ein winziges Spänchen vor, das in die Räder einer ihm unbekannten, aber regelrecht arbeitenden Maschine hineingeraten war.
Pierre wurde mit den anderen Arrestanten nach der rechten Seite des Jungfernfeldes gebracht, nicht weit vom Kloster, nach einem großen, weißen Haus mit einem gewaltigen Garten. Es war das Haus des Fürsten Schtscherbatow, in welchem Pierre früher gesellschaftlich viel verkehrt hatte und wo jetzt, wie er aus dem Gespräch der Soldaten erfuhr, der Marschall Herzog von Eggmühl wohnte.
Sie wurden zur Haustür geführt und einzeln in das Haus hineingeleitet. Pierre kam dabei als sechster an die Reihe. Durch eine Glasgalerie, einen Flur und ein Vorzimmer, lauter Räumlichkeiten, die Pierre wohl kannte, wurde er in ein langes,[53] niedriges Arbeitszimmer geführt, an dessen Tür ein Adjutant stand.
Davout saß am Ende des Zimmers an einem Tisch; er trug eine Brille. Pierre trat nahe an ihn heran. Davout hob die Augen nicht in die Höhe: er war offenbar damit beschäftigt, sich aus einem vor ihm liegenden Aktenstück zu informieren. Mit leiser Stimme fragte er: »Wer sind Sie?«
Pierre schwieg, weil er nicht imstande war, ein Wort herauszubringen. Davout war für Pierre nicht einfach nur ein französischer General, sondern ein durch seine Grausamkeit berüchtigter Mensch. Pierre blickte in das kalte Gesicht Davouts, der, wie ein strenger Lehrer, sich dazu verstand, eine Weile Geduld zu haben und auf die Antwort zu warten, und sagte sich, daß jeder Augenblick des Zögerns ihm das Leben kosten könne; aber er wußte nicht, was er sagen sollte. Dasselbe zu sagen, was er bei dem ersten Verhör gesagt hatte, dazu konnte er sich nicht entschließen; aber seinen Namen und Stand anzugeben schien ihm gefährlich und beschämend. Pierre schwieg. Aber ehe er noch zu einem Entschluß gekommen war, hob Davout den Kopf in die Höhe, schob die Brille auf die Stirn, kniff die Augen zusammen und blickte Pierre forschend an.
»Ich kenne diesen Menschen«, sagte er in gemessenem, kaltem Ton, der offenbar darauf berechnet war, Pierre in Angst zu versetzen.
Der kalte Schauer, der vorher Pierre den Rücken entlanggelaufen war, erfaßte jetzt seinen Kopf, und Pierre hatte ein Gefühl, als würde ihm dieser in einem Schraubstock zusammengepreßt.
»Sie können mich nicht kennen, General«, sagte er, »ich habe Sie noch nie gesehen ...«
»Es ist ein russischer Spion«, unterbrach ihn Davout, zu einem[54] andern General gewendet, der im Zimmer anwesend war, den aber Pierre bisher nicht bemerkt hatte.
Davout wendete sich von ihm ab. Mit unerwartet lauter, erregter Stimme sagte Pierre auf einmal schnell: »Nein, Monseigneur« (es war ihm plötzlich eingefallen, daß Davout Herzog war), »nein, Monseigneur, Sie können mich nicht kennen. Ich bin Landwehroffizier und habe Moskau nicht verlassen.«
»Ihr Name?« fragte Davout wieder.
»Besuchow.«
»Was beweist mir, daß Sie nicht lügen?«
»Monseigneur!« rief Pierre nicht in beleidigtem, sondern in bittendem Ton.
Davout hob die Augen in die Höhe und richtete einen prüfenden Blick auf Pierre. Einige Sekunden lang sahen sie einander an, und dieser Blick war Pierres Rettung. Durch diesen Blick bildeten sich, ohne alle Rücksicht auf Krieg und Gericht, zwischen diesen beiden Menschen menschliche Beziehungen. Beide machten in dieser kurzen Spanne Zeit eine unzählige Menge von Empfindungen durch, ohne sich derselben eigentlich klar bewußt zu werden, und kamen zu der Erkenntnis, daß sie beide Kinder der Menschheit, daß sie Brüder seien.
Vorhin, als Davout nur den Kopf von seiner Liste erhoben hatte, in der die Handlungen von Menschen und das Leben von Menschen mit Nummern bezeichnet waren, da war Pierre für ihn beim ersten Blick nur ein Gegenstand gewesen, und er hätte ihn können erschießen lassen, ohne sich aus dieser Untat ein Gewissen zu machen; aber jetzt erblickte er in ihm schon einen Menschen. Er überlegte einen Augenblick lang.
»Wie können Sie mir die Wahrheit dessen, was Sie mir sagen, Beweisen?« fragte er kalt.[55]
Pierre dachte an Ramballe und nannte dessen Regiment und Namen sowie die Straße, in der das betreffende Haus lag.
»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben«, sagte Davout wieder.
Pierre begann mit zitternder, stockender Stimme Beweise für die Richtigkeit seiner Angabe vorzubringen.
Aber in diesem Augenblick trat ein Adjutant ein und meldete dem Marschall etwas.
Davouts Gesicht strahlte bei der Nachricht, die ihm der Adjutant überbrachte, plötzlich auf, und er knöpfte sich die Uniform zu. Offenbar hatte er Pierre vollständig vergessen.
Als der Adjutant ihn an den Gefangenen erinnerte, machte er ein finsteres Gesicht und sagte, indem er mit dem Kopf nach Pierre hindeutete, man solle ihn abführen. Aber wohin er abgeführt werden sollte, das wußte Pierre nicht: ob in die Remise zurück oder nach dem bereits zurechtgemachten Richtplatz, den ihm seine Schicksalsgefährten, als sie über das Jungfernfeld gingen, gezeigt hatten.
Er drehte den Kopf zurück und sah, daß der Adjutant den Marschall noch nach etwas fragte.
»Jawohl, selbstverständlich!« antwortete Davout; aber was mit dem »Jawohl« gemeint war, das wußte Pierre nicht.
Pierre hatte kein Bewußtsein, wie und wie lange und wohin er ging. In einem Zustand völliger Stumpfheit und Benommenheit, ohne etwas um sich herum zu sehen, bewegte er mit den andern zusammen die Füße, bis alle stillstanden, und stand dann gleichfalls still. Diese ganze Zeit über hatte er nur einen einzigen Gedanken im Kopf: wer, wer war es denn nun eigentlich, der ihn zum Tod verurteilt hatte? Nicht jene Männer, die ihn in der Kommission verhört hatten; von denen hatte keiner es gewollt und auch augenscheinlich keiner die Berechtigung dazu[56] gehabt. Auch nicht Davout, der ihn so menschlich angeblickt hatte. Noch eine Minute, und Davout hätte eingesehen, daß sie unrecht taten; aber diese Minute hatte der eintretende Adjutant unterbrochen. Auch dieser Adjutant hatte offenbar nichts Böses beabsichtigt; aber warum war er gerade jetzt hereingekommen? Wer war es also eigentlich, der ihn hinrichtete, tötete, des Lebens beraubte, ihn, Pierre, mit allen seinen Erinnerungen, Bestrebungen, Hoffnungen und Ideen? Wer tat das? Pierre sagte sich, daß es niemand tat.
Es war der Gang der Dinge, das Zusammentreffen der Umstände.
Der Gang der Dinge tötete ihn, ihn, Pierre, und raubte ihm das Leben und alles und vernichtete ihn.
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