[117] Am Abend des folgenden Tages versammelten sich die Truppen an den ihnen bezeichneten Plätzen und rückten in der Nacht aus. Es war eine Herbstnacht mit dunkelvioletten Wolken, aber ohne Regen. Die Erde war feucht, jedoch nicht aufgeweicht, und die Truppen marschierten ohne Geräusch, nur das Klirren der Artillerie war mitunter leise zu hören. Laute Gespräche zu führen, Tabak zu rauchen und Feuer zu schlagen war verboten; die Pferde wurden vom Wiehern zurückgehalten. Die Heimlichkeit des Unternehmens steigerte seinen Reiz noch. Die Mannschaften marschierten in fröhlicher Stimmung. Einige Kolonnen[117] machten halt, in der Meinung, an der richtigen Stelle angelangt zu sein, stellten die Gewehre zusammen und lagerten sich auf der kalten Erde; andere, die Mehrzahl, marschierten die ganze Nacht hindurch, gelangten aber ohne Zweifel nicht dahin, wohin sie hätten gelangen sollen.
Graf Orlow-Denisow mit seinen Kosaken (die unbedeutendste Abteilung von allen) war der einzige, der an seinen Bestimmungsort gelangte, und zwar zur richtigen Zeit. Diese Abteilung machte am Rand eines Waldes halt, bei einem Fußweg, der von dem Dorf Stromilowa nach dem Dorf Dmitrowskoje führte.
Vor Tagesanbruch wurde Graf Orlow, der eingeschlafen war, geweckt: man brachte einen Überläufer aus dem französischen Lager zu ihm. Es war ein polnischer Unteroffizier von Poniatowskis Korps. Dieser Unteroffizier setzte auf polnisch auseinander, er sei deswegen übergelaufen, weil man ihn im Dienst gekränkt habe; er hätte schon längst Offizier sein müssen, da er der Tapferste von allen sei, und deshalb habe er jene verlassen und wolle sich nun an ihnen rächen. Er sagte, Murat habe in dieser Nacht sein Lager eine Werst von ihnen entfernt, und wenn man ihm hundert Mann mitgebe, so könne er ihn lebend gefangennehmen. Graf Orlow-Denisow beriet sich mit seinen Kameraden. Das Anerbieten war zu verlockend, als daß man es hätte von der Hand weisen mögen. Alle erboten sich mitzureiten, alle rieten zu einem Versuch. Nach vielem Hin- und Herstreiten und langen Überlegungen wurde beschlossen, Generalmajor Grekow mit zwei Kosakenregimentern sollte mit dem Unteroffizier hinreiten.
»Nun, aber vergiß nicht«, sagte Graf Orlow-Denisow zu dem Unteroffizier, als er ihn von sich ließ: »Hast du gelogen, so lasse ich dich aufhängen wie einen Hund; hast du die Wahrheit gesagt, so bekommst du hundert Dukaten.«[118]
Der Unteroffizier setzte sich, ohne eine Miene zu verziehen und ohne auf diese Ankündigung ein Wort zu antworten, zu Pferde und ritt mit Grekow und dessen Leuten, die sich schnell fertiggemacht hatten, davon. Sie verschwanden im Wald. Graf Orlow trat, nachdem er von Grekow Abschied genommen hatte, aus dem Wald heraus und begann, sich etwas zusammenkrümmend infolge der Kälte des dämmernden Morgens und erregt durch das auf eigene Verantwortung unternommene Wagnis, das feindliche Lager, das jetzt bei der beginnenden Helle undeutlich sichtbar wurde, und die niedergebrannten Wachfeuer zu betrachten. Rechts vom Grafen Orlow-Denisow mußten auf dem freien Abhang sich unsere Kolonnen zeigen. Graf Orlow blickte dorthin; aber trotzdem sie aus weiter Entfernung wahrnehmbar gewesen wären, war nichts von ihnen zu sehen. Im französischen Lager schien es dem Grafen Orlow-Denisow lebendig zu werden, und sein mit sehr guten Augen begabter Adjutant bestätigte ihm dies.
»Ach, es ist wahrhaftig zu spät«, sagte Graf Orlow, nach dem Lager hinschauend.
Wie das oft so geht, wenn wir jemand, dem wir Vertrauen geschenkt haben, nicht mehr mit Augen sehen, war es ihm plötzlich völlig klar und sicher geworden, daß dieser Unteroffizier ein Betrüger sei, gelogen habe und den ganzen Angriffsplan durch das Fehlen dieser beiden Regimenter zerstöre, die er Gott weiß wohin führen werde. Als ob es überhaupt möglich wäre, aus einer solchen Masse von Truppen den Oberkommandierenden herauszugreifen!
»Wahrhaftig, er hat gelogen, dieser Schurke!« sagte der Graf.
»Man kann sie noch zurückholen«, bemerkte jemand aus der Suite, dem ebenso wie dem Grafen Orlow-Denisow beim Anblick des Lagers Bedenken in betreff des Unternehmens aufgestiegen waren.[119]
»Ja? Wirklich ...? Wie denken Sie darüber? Oder sollen wir sie lassen? Oder nicht?«
»Befehlen Sie, sie zurückzuholen?«
»Ja, wir wollen sie zurückholen!« sagte nach einem Blick auf die Uhr Graf Orlow plötzlich in entschiedenem Ton. »Es wird zu spät; es ist ja schon ganz hell.«
Der Adjutant jagte durch den Wald hinter Grekow her, und dieser kehrte denn auch zurück. Graf Orlow-Denisow aber, der sowohl durch dieses rückgängig gemachte Unternehmen als auch durch das vergebliche Warten auf die Infanteriekolonnen, die sich immer noch nicht zeigen wollten, und durch die Nähe des Feindes in Aufregung geraten war (alle Leute seiner Abteilung hatten dasselbe Gefühl), entschloß sich nun anzugreifen.
Flüsternd kommandierte er: »Aufsitzen!« Die Mannschaften ordneten sich, bekreuzten sich ... »Mit Gott!«
»Hurraaaaa!« schallte es durch den Wald, und eine Eskadron nach der andern, wie Nüsse, die aus einem Sack geschüttelt werden, flogen die Kosaken fröhlich mit eingelegten Lanzen über den Bach auf das Lager los.
Ein einziger erschrockener, verzweifelter Aufschrei des ersten Franzosen, der die Kosaken erblickte – und alles, was im Lager war, ließ Kanonen, Gewehre und Pferde im Stich und lief, noch halb im Schlaf, unangezogen, davon, wohin einen jeden die Füße trugen.
Hätten die Kosaken die Franzosen verfolgt, ohne sich um das zu kümmern, was hinter ihnen und um sie herum war, so hätten sie Murat und alle seine Leute gefangengenommen. Die Offiziere wollten das auch. Aber es war nicht möglich, die Kosaken vom Fleck wegzubekommen, da sie zu eifrig waren, im Lager Beute und Gefangene zu machen. Niemand hörte auf einen Befehl. Es wurden gleich dort im Lager fünfzehnhundert Gefangene[120] gemacht und achtunddreißig Geschütze und mehrere Fahnen erbeutet sowie das, was den Kosaken das Wichtigste war, Pferde, Sättel, Decken und allerlei andre Dinge. Das alles mußte nach ihren Begriffen erst erledigt werden: man mußte sich einen möglichst großen Anteil von den Gefangenen und den Geschützen zueignen, die Beute teilen, ein gewaltiges Geschrei dabei machen und sich sogar untereinander prügeln; mit alledem hatten die Kosaken hinlänglich zu tun.
Die Franzosen kamen, als sie sich nicht mehr verfolgt sahen, wieder zur Besinnung, sammelten sich abteilungsweise und fingen an zu schießen. Orlow-Denisow wartete immer noch auf die Infanteriekolonnen und griff nicht weiter an.
Unterdessen waren gemäß der Disposition: »Die erste Kolonne marschiert usw.« die vermißten Infanteriekolonnen, die zu Bennigsens Truppen gehörten, nach Tolls Direktiven ordnungsgemäß ausgerückt und, wie das stets der Fall ist, irgendwohin gelangt, aber nicht nach dem ihnen angewiesenen Ort. Und wie das stets der Fall ist, fingen die Mannschaften, die so munter ausmarschiert waren, nun beim Haltmachen an verdrossen zu werden; Äußerungen der Unzufriedenheit wurden vernehmbar; sie merkten, daß Konfusion entstanden war; es wurde nach einer andern Richtung zurückmarschiert. Die hin und her sprengenden Adjutanten und Generale schrien, ereiferten sich, zankten, sagten, daß das eine ganz falsche Stelle sei und sie zu spät gekommen seien, schalten jemand aus usw., und schließlich ergaben sich alle drein und marschierten nur, um irgendwohin zu kommen. »Irgendwohin werden wir schon kommen!« Und sie kamen auch wirklich irgendwohin, aber die meisten nicht an die richtige Stelle, und einige, die an die richtige Stelle kamen, verspäteten sich dermaßen, daß sie nun ohne jeden Nutzen hinkamen, lediglich um beschossen zu werden. Toll, der in dieser Schlacht dieselbe Rolle[121] spielte wie Weyrother bei Austerlitz, jagte eifrig von einer Stelle zur andern und fand, daß überall alles den verkehrten Gang ging. So kam er zu dem Korps des Generals Bagowut herangesprengt, das, als es schon ganz hell war, sich noch im Wald befand, während es doch schon längst da vorn bei Orlow-Denisow hätte sein sollen. Erregt und erbittert darüber, daß alles nicht stimmte, ritt Toll, der sich sagte, es müsse doch jemand die Schuld daran tragen, zu dem Korpskommandeur heran und machte ihm in strengem Ton Vorwürfe, wobei er ihm unter anderm sagte, er verdiene dafür erschossen zu werden. Bagowut, ein alter, erfahrener, ruhiger General, der aber gleichfalls durch das wiederholte Haltmachen, den Wirrwarr und die einander widersprechenden Befehle in eine gereizte Stimmung hineingekommen war, geriet zur Verwunderung aller ganz gegen seinen sonstigen Charakter in Wut und sagte Toll recht unangenehme Dinge.
»Ich lasse mir von niemandem Vorhaltungen machen, und mit meinen Soldaten zu sterben, verstehe ich ebensogut wie jeder andere«, sagte er und marschierte mit einer einzigen Division vorwärts.
Als er auf das freie Feld in den Schußbereich der Franzosen kam, überlegte der tapfere Bagowut nicht lange, ob es nützlich oder schädlich sei, wenn er in diesem Augenblick und mit einer einzigen Division sich in einen Kampf einließe, sondern marschierte geradeaus und führte seine Truppen in das feindliche Feuer. Gefahr, Kanonen- und Flintenkugeln, das gerade war es, was er in seiner zornigen Gemütsverfassung brauchte. Eine der ersten Kugeln tötete ihn; die folgenden streckten eine Menge von Soldaten nieder. Und seine Division stand eine Zeitlang nutzlos im feindlichen Feuer.
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