[140] Am 6. Oktober frühmorgens war Pierre aus der Baracke herausgegangen und nach seiner Rückkehr an der Tür stehengeblieben, wo er mit einem langgestreckten, kurz- und krummbeinigen Hündchen von bläulichgrauer Farbe spielte, das um ihn herumsprang. Dieser Hund lebte bei ihnen in der Baracke und lag die Nacht über bei Karatajew, lief aber manchmal irgendwohin in die Stadt und kehrte dann wieder zurück. Er hatte wahrscheinlich nie jemandem gehört, war auch jetzt herrenlos und hatte keinen Namen. Die Franzosen nannten ihn Azor; der Soldat, der immer die Märchen erzählte, nannte ihn Femgalka, Karatajew und andere nannten ihn »Grauer«, manchmal auch »Strolch«. Daß er niemandem gehörte, keinen ordentlichen Namen führte, keiner Rasse angehörte und nicht einmal eine bestimmte Farbe hatte, grämte ihn nicht im geringsten. Sein buschiger Schweif stand fest und rundlich nach oben wie ein Helmbusch; seine krummen Beine leisteten ihm so gute Dienste, daß er oft, wie wenn er es verschmähte, sie alle vier zu gebrauchen, graziös das eine Hinterbein in die Höhe hob und sehr geschickt und schnell auf drei Pfoten lief. Alles war für ihn ein Anlaß vergnügt zu sein. Bald wälzte er sich winselnd vor Freude auf dem Rücken, bald wärmte er sich mit ernster, nachdenklicher Miene in der Sonne; bald trieb er Mutwillen, indem er mit einem Holzspänchen oder mit einem Strohhalm spielte.
Pierres Kleidung bestand jetzt aus einem schmutzigen, zerrissenen[140] Hemd, dem einzigen Überrest seiner früheren Kleidung, einer Soldatenhose, die er sich um des besseren Warmhaltens willen auf Karatajews Rat an den Knöcheln mit Bindfaden zusammengebunden hatte, einem Kaftan und einer Bauernmütze. Körperlich hatte er sich während dieser Zeit sehr verändert. Er sah nicht mehr dick aus, obgleich man ihm noch ebenso wie vorher die in seinem Geschlecht erbliche Derbheit und Kraft ansah. Ein Bart bedeckte den unteren Teil seines Gesichtes; das lang gewordene, wirre, von Läusen wimmelnde Kopfhaar hatte jetzt das Aussehen einer krausen Mütze. Der Ausdruck seiner Augen war fest und ruhig, aber dabei frisch und lebhaft, ein Ausdruck, wie ihn Pierres Blick früher nie gehabt hatte. An die Stelle seiner früheren Schlaffheit, die sich auch in seinem Blick bekundet hatte, war jetzt eine energische, zum Handeln und zum Widerstand bereite Spannkraft getreten. Seine Füße waren nackt.
Pierre blickte bald hinunter auf das Feld, über welches an diesem Morgen Fuhrwerke und Reiter hinzogen, bald über den Fluß hinüber in die Ferne, bald nach dem Hündchen, das sich stellte, als wolle es ihn ernstlich beißen, bald nach seinen nackten Füßen, die er mit einem eigenartigen Vergnügen bald so, bald anders hinstellte, wobei er seine schmutzigen, großen, dicken Zehen hin und her bewegte. Und jedesmal, wenn er seine nackten Füße ansah, lief über sein Gesicht ein Lächeln heiterer Befriedigung. Der Anblick dieser nackten Füße rief ihm alles das ins Gedächtnis, was er in der letzten Zeit durchlebt und erkannt hatte, und diese Erinnerung war ihm angenehm.
Das Wetter war schon seit mehreren Tagen still und klar, mit leichten Morgenfrösten – der sogenannte Altweibersommer.
Die Luft war, wo die Sonne schien, warm, und diese Wärme nebst der stärkenden Frische des Morgenfrostes, der in der Luft noch zu spüren war, wirkte sehr angenehm.[141]
Auf allem, auf fernen und nahen Gegenständen, lag jener zauberhafte Kristallglanz, der nur dieser Herbstzeit eigen ist. In der Ferne waren die Sperlingsberge sichtbar, mit dem Dorf, der Kirche und dem großen, weißen Haus. Die kahlen Bäume und der Sand und die Steine und die Dächer der Häuser und die grüne Kirchturmspitze und die Ecken des fernen, weißen Hauses, das alles hob sich außerordentlich deutlich, in ganz scharfen Linien in der reinen Luft ab. In der Nähe sah Pierre die ihm wohlbekannten Ruinen eines halbverbrannten Herrenhauses, in welchem Franzosen wohnten, und die noch dunkelgrünen Fliederbüsche, die an der Einfriedigung entlang wuchsen. Und selbst dieses trümmerhafte, rauchgeschwärzte Haus, das bei trübem Wetter durch seine Häßlichkeit etwas Abstoßendes hatte, machte jetzt bei dem hellen Sonnenschein und der stillen Luft einen schönen, gewissermaßen beruhigenden Eindruck.
Ein französischer Korporal, den Rock häuslich-bequem aufgeknöpft, auf dem Kopf eine Zipfelmütze, zwischen den Zähnen eine kurze Pfeife, kam um eine Ecke der Baracke herum und trat, freundlich mit den Augen zwinkernd, zu Pierre heran.
»Was für ein prächtiger Sonnenschein! Nicht wahr, Monsieur Kirill?« (So wurde Pierre von allen Franzosen genannt.) »Der reine Frühling!«
Der Korporal lehnte sich an die Tür und bot Pierre seine Pfeife an, obgleich er sie ihm schon oftmals angeboten und Pierre jedesmal dankend abgelehnt hatte.
»Das wäre ein schönes Marschwetter ...«, begann er.
Pierre fragte ihn, was über das Ausrücken verlaute, und der Korporal erzählte ihm, es seien schon beinahe alle Truppen im Abmarsch begriffen, und es müsse heute ein Befehl über die Gefangenen kommen. In der Baracke, in welcher Pierre untergebracht war, lag ein Soldat namens Sokolow, todkrank, und[142] Pierre sagte dem Korporal, es müßten für diesen Soldaten die nötigen Anordnungen getroffen werden. Der Korporal erwiderte, Pierre könne darüber beruhigt sein; dafür seien mobile und stationäre Lazarette vorhanden, und es würde schon in betreff der Kranken das Erforderliche angeordnet werden; überhaupt seien die Vorgesetzten im voraus auf alles bedacht, was möglicherweise eintreten könne.
»Und dann, Monsieur Kirill, brauchen Sie ja nur dem Kapitän ein Wort zu sagen. Wissen Sie, das ist ein prächtiger Mann; der vergißt nie etwas. Sagen Sie es dem Kapitän, wenn er seinen Rundgang macht. Ihnen zuliebe tut er alles.«
Der Kapitän, von dem der Korporal sprach, unterhielt sich oft lange mit Pierre und erwies ihm alle möglichen Freundlichkeiten.
»›Siehst du, St. Thomas‹, sagte er neulich zu mir, ›Kirill, das ist ein Mann, der eine gute Bildung besitzt und französisch spricht; er ist ein vornehmer Russe, der Unglück gehabt hat; aber er ist ein tüchtiger Mensch. Und er versteht etwas. Wenn er einen Wunsch hat, dann mag er es mir sagen; ich werde ihm nichts abschlagen. Siehst du, wenn man selbst studiert hat, dann liebt man die Bildung und die gebildeten Menschen.‹ Das erzähle ich Ihnen aus Freundschaft wieder, Monsieur Kirill. Bei der Affäre neulich, wenn Sie da nicht eingegriffen hätten, dann hätte die Sache ein schlimmes Ende genommen.«
Nachdem der Korporal noch ein Weilchen geplaudert hatte, ging er weg. (Der neuliche Vorfall, dessen der Korporal Erwähnung getan hatte, war eine Schlägerei zwischen Gefangenen und Franzosen gewesen, bei der es Pierre gelungen war, seine Kameraden zu besänftigen.) Einige Gefangene hatten Pierres Gespräch mit dem Korporal gehört und erkundigten sich nun sofort, was der Korporal gesagt habe. Während Pierre seinen Kameraden berichtete, was ihm der Korporal über den Abmarsch[143] mitgeteilt hatte, näherte sich der Tür der Baracke ein französischer Soldat von hagerer Gestalt, mit gelblicher Hautfarbe, in zerlumpter Kleidung. Nachdem er mit einer schnellen, schüchternen Bewegung die Finger zum Zeichen des Grußes an die Stirn gehoben hatte, wandte er sich an Pierre und fragte ihn, ob in dieser Baracke ein Soldat Platoche wohne, dem er den Auftrag gegeben habe, ihm ein Hemd zu nähen.
Eine Woche vorher war den Franzosen Leder und Leinwand geliefert worden, und sie hatten dieses Material den gefangenen Soldaten übergeben, damit sie ihnen daraus Stiefel machten und Hemden nähten.
»Es ist fertig, es ist fertig, mein lieber Falke!« sagte Karatajew, der, ein sauber zusammengelegtes Hemd in der Hand, heraustrat.
Weil es so warmes Wetter war und um bei der Arbeit unbehindert zu sein, hatte Karatajew nur Hosen und ein zerrissenes Hemd an, daß so schwarz wie Erde aussah. Die Haare hatte er sich, wie das Handwerker zu tun pflegen, mit einem Baststreifen zusammengebunden, und sein rundliches Gesicht sah dadurch noch rundlicher und freundlicher aus.
»Versprechen und Halten ziemt Jungen und Alten. Wie ich gesagt habe: ›Zum Freitag‹, so habe ich es auch gemacht«, sagte Platon lächelnd und faltete das von ihm verfertigte Hemd auseinander.
Der Franzose blickte unruhig um sich, und wie wenn er sein Bedenken überwunden hätte, warf er schnell seinen Uniformrock ab und zog das Hemd an. Unter dem Rock hatte er kein Hemd angehabt; er trug auf dem nackten, gelben, hageren Körper nur eine lange, schmierige, geblümte, seidene Weste. Er fürchtete offenbar, die Gefangenen, die ihn ansähen, könnten über ihn lachen, und steckte eilig den Kopf in das Hemd hinein. Aber keiner der Gefangenen sagte ein Wort.[144]
»Siehst du wohl, es paßt, gleich auf den ersten Hieb«, sagte Platon und zupfte das Hemd zurecht.
Nachdem der Franzose Kopf und Arme durchgesteckt hatte, betrachtete er, ohne die Augen zu erheben, das Hemd an seinem Leib und prüfte die Nähte.
»Na ja, mein lieber Falke, eine Schneiderwerkstatt ist ja hier nicht, und ordentliches Handwerkszeug habe ich auch nicht; und man pflegt zu sagen: Ohne Werkzeug kann man nicht einmal eine Laus totschlagen«, sagte Platon mit vergnügtem Lächeln und hatte offenbar selbst seine Freude an seiner Arbeit.
»Schön, schön, danke; aber du mußt von der Leinwand noch etwas übrigbehalten haben«, sagte der Franzose.
»Es wird dir noch besser sitzen, wenn du es auf den bloßen Leib anziehst«, sagte Karatajew, der fortfuhr, sich über sein Machwerk zu freuen. »Es wird dir gute Dienste leisten und eine angenehme Empfindung machen ...«
»Danke, danke, Alterchen; nun die Reste ...«, wiederholte der Franzose lächelnd, zog eine Banknote heraus und gab sie Karatajew. »Aber die Reste ...«
Pierre merkte, daß Platon nicht verstehen wollte, was der Franzose sagte, und sah die beiden an, ohne sich einzumischen. Karatajew bedankte sich für das Geld und hörte nicht auf, liebevoll seine Arbeit zu betrachten. Der Franzose beharrte auf seinem Verlangen nach Herausgabe der Reste und bat Pierre, das, was er gesagt hatte, zu übersetzen.
»Was kann er denn mit den Resten anfangen?« erwiderte Karatajew. »Für uns aber würden sich prächtige Fußlappen daraus machen lassen. Na, wenn er sie durchaus will, meinetwegen!«
Und mit plötzlich verändertem, traurig gewordenem Gesicht holte Karatajew hinter seiner Hemdbrust ein Päckchen Zeugschnitzel[145] hervor und reichte es, ohne hinzublicken, dem Franzosen hin. »Schade, schade!« sagte Karatajew und ging zurück. Der Franzose sah die Leinwand ein Weilchen an, überlegte, richtete einen fragenden Blick auf Pierre, und Pierres antwortender Blick schien ihm etwas zu sagen.
»Platoche, hör mal, Platoche«, rief der Franzose auf einmal errötend mit schriller Stimme. »Behalte das für dich!« Und damit reichte er ihm die Reste hin, wandte sich um und ging weg.
»Na, da sieht man's!« sagte Karatajew, den Kopf hin und her wiegend. »Es heißt immer, die seien keine Christen; aber sie haben doch auch eine Seele. Die Alten haben ganz recht, wenn sie sagen: Schweißige Hand ist freigebig, aber trockene Hand ist geizig. Er ist selbst nackt und bloß und hat doch noch etwas weggegeben.«
Karatajew schwieg ein Weilchen und betrachtete, nachdenklich lächelnd, die Leinwandreste.
»Aber prächtige Fußlappen können wir uns daraus machen, lieber Freund«, sagte er und kehrte in die Baracke zurück.
Buchempfehlung
In elf Briefen erzählt Peter Schlemihl die wundersame Geschichte wie er einem Mann begegnet, der ihm für viel Geld seinen Schatten abkauft. Erst als es zu spät ist, bemerkt Peter wie wichtig ihm der nutzlos geglaubte Schatten in der Gesellschaft ist. Er verliert sein Ansehen und seine Liebe trotz seines vielen Geldes. Doch Fortuna wendet sich ihm wieder zu.
56 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.
396 Seiten, 19.80 Euro