[175] Von dem Eintreffen dieser Nachricht an bis zum Ende des Feldzuges besteht Kutusows Tätigkeit ausschließlich darin, durch seine Amtsgewalt, durch List und Bitten seine Truppen von nutzlosen Angriffen, Manövern und Zusammenstößen mit dem Feind, dessen Verderben sowieso besiegelt war, zurückzuhalten. Dochturow geht nach Malo-Jaroslawez, Kutusow aber zaudert mit dem Gros der Armee und gibt Befehl zur Räumung Kalugas, weil es ihm sehr wohl möglich scheint, sich hinter diese Stadt zurückzuziehen.
Kutusow zieht sich überall zurück; der Feind aber flieht, ohne den Rückzug des Gegners abzuwarten, nach der entgegengesetzten Seite.
Die Geschichtsschreiber Napoleons beschreiben uns sein kunstvolles Manöver gegen Tarutino und Malo-Jaroslawez und stellen Vermutungen darüber auf, was geschehen sein würde, wenn es Napoleon gelungen wäre, nach den reichen südlichen Gouvernements durchzudringen.
Aber um gar nicht davon zu reden, daß ihn ja nichts hinderte, nach diesen südlichen Gouvernements zu ziehen, da die russische Armee ihm freien Weg ließ, so vergessen die Historiker, daß[175] Napoleons Armee durch nichts zu retten war, weil sie schon da mals die nicht zu behebenden Ursachen des Verderbens in sich trug. Diese Armee, die in Moskau so überreichen Proviant vorgefunden hatte und nicht imstande gewesen war, ihn sich zu erhalten, sondern ihn unter die Füße getreten hatte, diese Armee, die, als sie nachher nach Smolensk kam, die Lebensmittel, statt sie ordnungsmäßig zu verteilen, zuchtlos raubte, weshalb hätte diese Armee sich im Gouvernement Kaluga besser benehmen sollen, wo doch ebensolche Russen wohnten wie in Moskau und wo das Feuer dieselbe Eigenschaft besaß, das, was man anzündete, zu zerstören?
Die Armee konnte nirgends besser werden. Seit der Schlacht bei Borodino und der Plünderung Moskaus trug sie bereits sozusagen die chemischen Keime der Zersetzung in sich.
Die Soldaten dieser ehemaligen Armee flüchteten mit ihren Anführern, ohne selbst zu wissen wohin, und hatten (Napoleon und jeder Soldat) nur einen Wunsch: so schnell als möglich für ihre Person aus der verzweifelten Lage herauszukommen, deren sie sich alle, wenn auch nur unklar, bewußt waren.
Nur dies war der Grund, weshalb bei dem Kriegsrat in Malo-Jaroslawez, wo die Generale taten, als berieten sie, und allerlei Meinungen vorbrachten, das zuletzt ausgesprochene Votum des Marschalls Mouton, eines schlichten Soldaten, alle zum Schweigen brachte; dieser sagte nämlich das, was alle dachten: man müsse so schnell wie möglich davonzukommen suchen. Niemand, auch Napoleon nicht, konnte gegen diesen Satz, von dessen Richtigkeit alle überzeugt waren, etwas einwenden.
Aber obgleich sie alle wußten, daß sie suchen mußten davonzukommen, blieb es ihnen doch noch ein beschämendes Gefühl, daß sie genötigt seien zu fliehen. Und es bedurfte eines äußeren Anstoßes, um dieses Gefühl der Scham zu überwältigen. Und[176] dieser Anstoß erfolgte zur rechten Zeit. Es war das, was die Franzosen als le Hourra de l'Empereur bezeichneten.
Am Tag nach dem Kriegsrat tat Napoleon, als wolle er die Truppen und die Stätte der vorangegangenen und der bevorstehenden Schlacht besichtigen, und ritt mit einer Suite von Marschällen und mit einer Eskorte mitten zwischen den Linien der Truppenstellung umher. Kosaken, die nach Beute umherschweiften, stießen auf den Kaiser selbst und hätten ihn beinahe gefangengenommen. Wenn die Kosaken bei dieser Gelegenheit Napoleon nicht gefangennahmen, so rettete ihn ebendasselbe, was den Franzosen zum Verderben gereichte: das Trachten nach Beute; denn sowohl in Tarutino als auch an dieser Stelle stürzten sich die Kosaken, ohne sich um die Menschen zu kümmern, auf die Beute. Ohne dem Kaiser Beachtung zuzuwenden, machten sie sich über die Beute her, und Napoleon fand Zeit zu entkommen.
Wenn nun die »Söhne des Don« die Möglichkeit hatten, den Kaiser selbst mitten in seiner Armee zum Gefangenen zu machen, so war einleuchtend, daß nichts weiter zu tun war, als möglichst schnell auf dem nächsten bekannten Weg zu fliehen. Napoleon, der sich mit seinem vierzigjährigen Embonpoint nicht mehr so beweglich und unternehmungslustig fühlte wie früher, verstand diesen Fingerzeig. Und unter der Einwirkung der Furcht, die er vor den Kosaken bekommen hatte, schloß er sich sofort der Ansicht Moutons an und erteilte, wie die Historiker sagen, den Befehl zum Rückzug auf die Smolensker Straße.
Daraus, daß Napoleon sich der Ansicht Moutons anschloß und die Truppen zurückmarschierten, folgt nicht, daß er dies befohlen hat, sondern daß diejenigen Kräfte, die auf die ganze Armee wirkten und ihr die Richtung nach der Moschaisker Straße gaben, gleichzeitig auch auf Napoleon ihre Wirkung ausübten.