XI

[230] Schnell suchte sich im Halbdunkel ein jeder von der Mannschaft sein Pferd, band es los, zog den Sattelgurt straff, und dann ordneten sie sich abteilungsweise. Denisow stand bei dem Wächterhäuschen und gab die letzten Befehle. Das Fußvolk der Freischar, mit hundert Beinen durch die Nässe patschend, zog voran, um die Landstraße einzuschlagen, und verschwand in dem Nebel, der dem Tagesanbruch vorherging, schnell zwischen den Bäumen. Der Jesaul erteilte den Kosaken noch einen Befehl. Petja hielt sein Pferd am Zügel und wartete ungeduldig auf den Befehl zum Aufsitzen. Sein Gesicht, das er sich mit kaltem Wasser gewaschen hatte, und besonders die Augen brannten ihm wie Feuer, ein Frösteln lief ihm über den Rücken, und durch seinen ganzen Körper ging ein schnelles, gleichmäßiges Zittern.

»Nun, ist bei euch alles bereit?« sagte Denisow. »Mein Pferd!«

Das Pferd wurde gebracht. Denisow wurde auf den Kosaken zornig, weil der Sattelgurt zu schlaff sei; unter heftigen Schimpfreden auf ihn stieg er auf. Petja griff nach dem Steigbügel. Das Pferd wollte ihn seiner Gewohnheit nach ins Bein beißen; aber Petja, der sein Gewicht gar nicht fühlte, sprang schnell in den Sattel, warf noch einen Blick nach den Husaren, die hinter ihm in der Dunkelheit anritten, und sprengte zu Denisow hin.

»Wasili Fedorowitsch, Sie werden mir doch irgendeinen Auftrag geben? Ich bitte Sie dringend ... inständig ...«, sagte er.

Denisow hatte, wie es schien, Petjas Existenz ganz vergessen gehabt. Er sah sich nach ihm um.[230]

»Ich bitte dich nur um eines«, sagte er in strengem Ton. »Gehorche mir und mische dich in nichts hinein.«

Auf dem ganzen Weg sprach Denisow kein Wort mehr mit Petja und ritt schweigend dahin. Als sie an den Saum des Waldes gelangten, fing es auf dem Feld schon an merklich hell zu werden. Denisow sprach flüsternd etwas mit dem Jesaul, und darauf ritten die Kosaken an Petja und Denisow vorbei. Als sie alle vorbei waren, trieb Denisow sein Pferd an und ritt bergab. Sich auf die Hinterteile setzend und gleitend, stiegen die Pferde mit ihren Reitern in den Grund hinab. Petja ritt neben Denisow. Das Zittern in seinem ganzen Körper nahm immer mehr zu. Es wurde immer heller und heller; nur der Nebel verbarg die ferneren Gegenstände. Als sie unten angelangt waren, blickte Denisow zurück und nickte dann einem neben ihm haltenden Kosaken mit dem Kopf zu.

»Das Signal!« sagte er.

Der Kosak hob den einen Arm in die Höhe; ein Schuß krachte. Und in demselben Augenblick erscholl vorn der Hufschlag dahinjagender Pferde, Schreien von verschiedenen Seiten und noch mehr Schüsse.

In dem Augenblick, als die ersten Töne der Hufschläge und des Geschreis vernehmbar wurden, versetzte Petja seinem Pferd einen Schlag mit der Peitsche, ließ ihm die Zügel und jagte, ohne auf Denisow zu hören, der ihm nachschrie, im Galopp vorwärts. Er hatte die Empfindung, als sei es plötzlich in dem Augenblick, wo der Schuß gefallen war, völlig hell wie am Mittag geworden. Er sprengte auf die Brücke zu. Vor ihm auf der Landstraße jagten die Kosaken dahin. Auf der Brücke stieß er mit einem zurückgebliebenen Kosaken zusammen und sprengte weiter. Vorn liefen irgendwelche Menschen (wahrscheinlich waren es Franzosen) von der rechten Seite der Landstraße nach der linken hinüber.[231] Einer fiel unter den Füßen von Petjas Pferd in den Schmutz.

Bei einem Bauernhaus drängten sich mehrere Kosaken zusammen und taten irgend etwas. Aus der Mitte des Haufens erscholl ein furchtbarer Schrei. Petja jagte zu diesem Haufen hin, und das erste, was er sah, war ein Franzose, der den Schaft einer gegen ihn gerichteten Pike gepackt hielt; das Gesicht des Franzosen war blaß, und sein Unterkiefer zitterte.

»Hurra ...! Kinder ... Wir haben gesiegt ...«, schrie Petja, ließ dem aufgeregten Pferd die Zügel und jagte auf der Dorfstraße vorwärts.

Vorn waren Schüsse zu hören. Kosaken, Husaren und zerlumpte russische Gefangene kamen von beiden Seiten der Landstraße eilig herbei und schrien alle laut und mißtönend etwas, was Petja nicht verstehen konnte. Ein kräftiger, mutiger Franzose, ohne Kopfbedeckung, in einem blauen Mantel, mit rotem, finsterem Gesicht, verteidigte sich mit dem Bajonett gegen mehrere Husaren. Als Petja herangesprengt kam, war der Franzose bereits gefallen. »Wieder zu spät gekommen!« fuhr es Petja durch den Kopf, und er jagte dorthin, von wo die vielen Schüsse ertönten. Die Schüsse wurden auf dem Hof des Gutshauses abgefeuert, wo Petja in der vergangenen Nacht mit Dolochow gewesen war. Die Franzosen hatten dort hinter dem geflochtenen Zaun in dem dicht mit Gebüsch bewachsenen Garten Stellung genommen und schossen auf die Kosaken, die sich am Tor zusammendrängten. Als Petja an das Tor heranritt, erblickte er im Pulverdampf Dolochow, der mit blassem, grünlichem Gesicht seinen Leuten etwas zuschrie. »Nach der Seite herumreiten! Auf das Fußvolk warten!« rief er gerade in dem Augenblick, als Petja sich ihm näherte.

»Warten ...? Hurra ...!« schrie Petja und sprengte, ohne auch[232] nur einen Augenblick zu zaudern, nach der Stelle hin, von wo die Schüsse ertönten und wo der Pulverdampf am dichtesten war.

Eine Salve erscholl, Kugeln pfiffen, sowohl solche, die nichts trafen, als auch solche, die gegen irgend etwas anklatschten. Die Kosaken und Dolochow jagten hinter Petja her in das Hoftor hinein. Die Franzosen, die in dem dichten, wogenden Rauch steckten, warfen teils die Waffen weg und liefen aus den Büschen heraus den Kosaken entgegen, teils liefen sie bergab nach dem Teich zu. Petja sprengte auf seinem Pferd über den Hof des Gutshauses; aber statt die Zügel festzuhalten, schwenkte er seltsam und schnell beide Arme und glitt immer weiter vom Sattel auf die eine Seite. Das Pferd rannte auf ein Wachfeuer zu, das im Morgenlicht schwelte, prallte zurück, und Petja fiel schwer auf die feuchte Erde nieder. Die Kosaken sahen, wie seine Arme und Beine hastig zuckten, obgleich sein Kopf sich nicht bewegte. Eine Kugel hatte ihn in den Kopf getroffen.

Der höchste bei dieser Abteilung befindliche französische Offizier kam mit einem weißen Tuch am Degen hinter dem Haus hervor zu Dolochow und erklärte, daß sie sich ergäben. Dolochow verhandelte mit ihm, stieg dann vom Pferd und trat zu Petja hin, der regunglos mit ausgebreiteten Armen dalag.

»Der ist fertig«, sagte er mit finsterem Gesicht und ging nach dem Tor, dem herbeireitenden Denisow entgegen.

»Tot?!« schrie Denisow auf, als er schon von weitem sah, in welcher Art Petjas Körper dalag, eine Lage, die ihm nur zu gut bekannt war und zweifellos auf den Tod schließen ließ.

»Der ist fertig«, sagte Dolochow noch einmal, als ob es ihm ein besonderes Vergnügen machte, diese Worte auszusprechen, und begab sich schnell zu den Gefangenen, um welche sich die Kosaken in eiliger Tätigkeit drängten. »Wir nehmen sie nicht mit!« rief er Denisow zu.[233]

Denisow antwortete nicht; er ritt zu Petja heran, stieg vom Pferd und wandte mit zitternden Händen Petjas mit Blut und Schmutz beflecktes, schon erblaßtes Gesicht zu sich hin.

»Ich bin gewöhnt, etwas Süßes zu essen. Vorzügliche Rosinen; nehmen Sie sie alle«, diese Worte Petjas fielen ihm ein. Und die Kosaken blickten sich erstaunt nach den einem Hundegebell ähnlichen Lauten um, mit denen Denisow sich schnell abwandte, an den Zaun trat und sich an ihm festhielt.

Unter den von Denisow und Dolochow befreiten russischen Gefangenen befand sich auch Pierre Besuchow.

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 230-234.
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