XVII

[338] »Sie wohnt als mein Gast bei mir«, sagte Prinzessin Marja. »In den nächsten Tagen kommen auch der Graf und die Gräfin. Die Gräfin befindet sich in einem schrecklichen Zustand. Aber auch Natascha selbst muß sich ärztlich behandeln lassen. Die Eltern haben sie mit Gewalt mit mir hierhergeschickt.«

»Ja, gibt es wohl eine Familie, die nicht ihr eigenes Leid hätte?« sagte Pierre, zu Natascha gewendet. »Sie wissen, es geschah gerade an dem Tag, als wir befreit wurden. Ich habe ihn gesehen. Was war er für ein allerliebster Junge!«

Natascha sah ihn an; als Antwort auf seine Worte öffneten sich nur ihre Augen noch weiter und leuchteten auf.

»Was könnte man da zum Trost sagen oder ersinnen?« fuhr Pierre fort. »Nichts. Warum mußte ein so prächtiger, lebensfrischer Junge sterben?«

»Ja, ohne Glauben wäre es in unserer Zeit schwer, zu leben«, sagte Prinzessin Marja.

»Ja, ja. Das ist eine tiefe Wahrheit«, unterbrach Pierre sie schnell.

»Warum ist das schwer?« fragte Natascha und blickte Pierre aufmerksam in die Augen.

»Warum das schwer ist?« erwiderte Prinzessin Marja. »Schon der bloße Gedanke an das, was uns dort erwartet ...«

Natascha hörte nicht zu Ende, was Prinzessin Marja sagen[338] wollte, sondern richtete wieder einen fragenden Blick auf Pierre.

»Und auch deswegen«, fuhr Pierre fort, »weil nur derjenige, der an einen Gott glaubt, der über uns waltet, einen solchen Verlust tragen kann, wie der der Prinzessin und ... der Ihrige.«

Natascha öffnete schon den Mund, in der Absicht, etwas zu sagen, hielt aber plötzlich inne. Pierre drehte sich hastig von ihr weg und wandte sich an Prinzessin Marja mit der Frage nach den letzten Lebenstagen seines Freundes.

Pierres Verlegenheit war jetzt fast ganz verschwunden; aber zugleich fühlte er, daß seine ganze frühere Freiheit verschwunden war. Er fühlte, daß es für jedes seiner Worte, für jede seiner Handlungen jetzt einen Richter gab, dessen Urteil ihm wertvoller war als das Urteil aller Menschen in der Welt. Wenn er jetzt sprach, so suchte er während des Sprechens sich über den Eindruck klarzuwerden, den seine Worte auf Natascha hervorbrachten. Er sprach nicht absichtlich so, daß es ihr gefallen sollte; aber bei allem, was er sagte, beurteilte er sich selbst von ihrem Gesichtspunkt aus.

Prinzessin Marja begann nur ungern, wie das immer so der Fall zu sein pflegt, von dem Zustand zu sprechen, in dem sie den Fürsten Andrei vorgefunden hatte. Aber Pierres Fragen und sein lebhafter, unruhiger Blick und sein vor Erregung zuckendes Gesicht brachten sie allmählich dazu, auf Einzelheiten einzugehen, die sie sich scheute, sich ins Gedächtnis zurückrufen, wenn sie mit ihren Gedanken allein war.

»Ja, ja, gut so, gut so ...«, sagte Pierre, der sich mit seinem ganzen Körper zu Prinzessin Marja vorbeugte und mit gespannter Aufmerksamkeit ihrer Erzählung folgte. »Ja, ja; also er war ruhiger und milder geworden? Er hat stets mit aller Kraft seiner Seele so eifrig nach dem einen Ziel gestrebt, ein[339] vollkommen guter Mensch zu sein, daß er den Tod nicht zu fürchten brauchte. Die Fehler, die er hatte, wenn er überhaupt solche hatte, entsprangen nicht aus seinem Wesen. Also er war milder geworden?« sagte Pierre »Welch ein Glück, daß er Sie wiedergesehen hat«, sagte er zu Natascha, indem er sich plötzlich zu ihr wandte und sie mit Augen, die voll Tränen standen, anblickte.

Nataschas Gesicht zuckte. Sie zog die Brauen zusammen und senkte einen Augenblick lang die Augen. Eine Weile schwankte sie, ob sie reden sollte oder nicht.

»Ja, es war ein Glück«, sagte sie mit leiser Bruststimme; »für mich war es sicherlich ein Glück.« Sie schwieg einen Augenblick. »Und er ... er ... er sagte, er habe es gerade in dem Augenblick gewünscht, als ich zu ihm gekommen wäre.«

Die Stimme versagte ihr. Sie errötete, preßte die Hände auf den Knien zusammen und hob dann auf einmal, sich augenscheinlich dazu zwingend, den Kopf in die Höhe und begann schnell zu sprechen.

»Ich wußte nichts, als wir aus Moskau wegfuhren. Ich hatte nicht gewagt, nach ihm zu fragen. Und auf einmal sagte mir Sonja, daß er mit uns zusammen führe. Ich hatte keinen klaren Gedanken und konnte mir nicht vorstellen, in welchem Zustand er sich befinden mochte; nur sehen mußte ich ihn und bei ihm sein«, sagte sie zitternd und nur mühsam atmend.

Und ohne sich unterbrechen zu lassen, erzählte sie, was sie noch nie jemandem erzählt hatte: alles, was sie in jenen drei Wochen ihrer Reise und des Aufenthalts in Jaroslawl durchlebt hatte.

Pierre hörte ihr mit offenem Mund zu und wandte die Augen, die ihm voll Tränen standen, nicht von ihr weg. Während er ihr zuhörte, dachte er weder an den Fürsten Andrei, noch an[340] den Tod, noch an das, was sie erzählte. Er hörte ihr zu und bemitleidete sie nur wegen des Schmerzes, den sie jetzt beim Erzählen empfand.

Die Prinzessin runzelte die Stirn, um die Tränen zurückzuhalten, setzte sich neben Natascha und hörte zum erstenmal die Geschichte dieser letzten Tage der Liebe ihres Bruders und Nataschas.

Für Natascha war diese ihr zugleich qualvolle und freudenreiche Erzählung offenbar ein Bedürfnis.

Sie erzählte in buntem Durcheinander die unbedeutendsten Einzelheiten und die tiefsten Seelengeheimnisse und schien gar nicht enden zu können. Mehrmals wiederholte sie dasselbe.

Durch die Tür hindurch wurde die Stimme Dessalles' vernehmbar, der fragte, ob Nikolenka hereinkommen dürfe, um gute Nacht zu sagen.

»Das ist alles, ja, das ist alles«, sagte Natascha.

Sie stand in dem Augenblick, als Nikolenka hereinkam, schnell auf, eilte fast laufend zur Tür, stieß sich mit dem Kopf an der Tür, die mit einer Portiere verhängt war, und stürzte mit einem Stöhnen halb des physischen Schmerzes, halb des Grames aus dem Zimmer.

Pierre blickte nach der Tür, durch die sie hinausgegangen war, und begriff nicht, woher es kam, daß er auf einmal in der ganzen Welt so allein geblieben war.

Prinzessin Marja weckte ihn aus seiner Zerstreutheit und lenkte seine Aufmerksamkeit auf ihren Neffen, der ins Zimmer getreten war.

Das Gesicht Nikolenkas, das mit dem seines Vaters Ähnlichkeit hatte, wirkte bei der weichen, gerührten Stimmung, in der sich Pierre in diesem Augenblick befand, auf ihn so stark, daß er, nachdem er den Knaben geküßt hatte, eilig aufstand, sein Taschentuch[341] ergriff und zum Fenster trat. Er wollte sich der Prinzessin Marja empfehlen; aber sie hielt ihn zurück.

»Nicht doch; Natascha und ich, wir gehen oft erst um drei Uhr schlafen; bitte, bleiben Sie noch. Ich werde Abendbrot bringen lassen. Gehen Sie nach unten; wir kommen sogleich nach.«

Bevor Pierre das Zimmer verließ, sagte die Prinzessin noch zu ihm:

»Das ist das erste Mal, daß sie so von ihm gesprochen hat.«

Quelle:
Tolstoj, Lev Nikolaevic: Krieg und Frieden. 4 Bde., Leipzig 1922, Band 4, S. 338-342.
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