Auslandsberichte

[119] Wien, 19. November. Aus Amsterdam wird uns gemeldet: Nach Mitteilungen der pariser Presse hat der ›Daily Telegraph‹ ein Telegramm des ›New York Herald‹ aus Konstantinopel erhalten. Danach soll die Brotkarte in Berlin eingeführt werden.

Zeitungsmeldung aus dem Krieg


Was im Ausland von den Korrespondenten der großen Zeitungen verlangt wird, ist heller Wahnsinn. Die ungeheuern Spesen, mit denen sich die großen Zeitungsverlage belasten, gehen monatlich in die fünfstelligen Zahlen: es wird telefoniert und telegrafiert, telegrafiert und telefoniert. Was wird telefoniert?

Es gehört kein übermäßig geübtes Auge des Routiniers dazu, um den Kern jedes Auslandsberichts sofort zu erkennen. Man wird nach der Lektüre dieser Meldungen immer fragen: Woher hat er das? In den meisten Fällen kann man antworten: Aus einer andern Zeitung. Ungefähr neunzig Prozent aller Auslandsmeldungen enthalten Pressestimmen, das heißt: Verwertung fremder Nachrichten, das heißt: Resultate einer Arbeit, die man ebensogut in Berlin tun könnte. Die Zeitung nimmt die Zeitung wichtig, das kann man verstehen. Aber ganz abgesehen davon, daß Auszüge aus Zeitungsartikeln nicht immer klare Bilder ergeben, fehlt ja diesen Zitaten völlig die Atmosphäre, in der die zitierten Pressestimmen entstanden sind. In den meisten Fällen kennt der Leser den jeweiligen Charakter der fremden Zeitung nicht, er kann sie nicht richtig auseinanderhalten, und das französische ›Zwölf-Uhr-Mittagsblatt‹, der französische ›Lokalanzeiger‹ und der französische ›Börsencourier‹ werden ihm meist alle hintereinander ohne Kommentar serviert; er ist nicht in der Lage, Schwere und Bedeutung der einzelnen Zeitungen richtig abzuwägen, er kennt in den wenigsten Fällen ihre Auflageziffern, geschweige denn Parteizugehörigkeit, Interessentengruppe, Nuance und öffentliche Geltung. An Fälschungen und Dummheiten denke ich dabei gar nicht. Wenn der ›Berliner Lokalanzeiger‹ den ›Figaro‹ eines der bedeutendsten politischen Blätter nennt, so kann man sich aussuchen, ob die Unbildung oder die Böswilligkeit seiner Redakteure größer ist. Aber das Unmaß von Nachrichten, die gar keine sind, prasselt in der ganzen Sinnlosigkeit ihrer Quantität auf den Leser herunter, der sich hier ein Körnchen herauspickt und da eins und der in Wahrheit durch Überschriften angeregt, manchmal irregeleitet, aber nie unterrichtet wird.

Mit den Korrespondenzen steht es nicht besser. Um den ganzen Unfug dieses falschen Nachrichtenrummels zu begreifen, sehe man sich einmal eine kleinere deutsche Provinzzeitung an: da bekommt der Leser in[119] Bernau eine sinn- und zusammenhanglose Reihenfolge von lächerlichen Nachrichtenfetzen vorgesetzt, die auch für einen Kenner fremder Länder unverständlich sind.

Das Leben eines Landes spielt sich eben nicht in seinen Zeitungen ab. Man kann zwar aus diesen Zeitungen viel ersehen, wenn man auch sonst gut Bescheid weiß – ihre Macht soll nicht unterschätzt werden. Aber eine Zeitung ist keine Kamera – Journalisten sind Abzeichner. Man muß immer Bild und Wirklichkeit vergleichen.

Die deutschen Verleger verlangen von ihren Auslandskorrespondenten zunächst diesen wüsten Haufen von Nachrichten mit dem ganzen Anhängsel der Pressestimmen; sie verlangen ferner etwas, das sie für besonders lebendig und instruktiv halten: unpolitische faits divers. Auch diese faits divers sind in den allerseltensten Fällen vom Berichtenden selbst beobachtet; sie sind wiederum aus Zeitungen abgeschrieben und geben, Kopie einer Imitation, blasse, schiefe, unrichtige Bilder. Diese Sensation war gar keine Sensation, das Tagesgespräch war ein Feuilleton, und die Wahrheit sieht ganz anders aus. Die faits divers sind auch schuld daran, daß die eine Nation die andre für einen Haufen tobsüchtig gewordener, ewig ehebrechender, halbirrer, sonderlinghafter, unter völlig desperaten Umständen lebender und mit Revolvern herumfuchtelnder Menschen hält. Wie sich der englische Hochadel zur Kirche stellt; was die jugoslawische Universitätsjugend für Ausbildungsmöglichkeiten hat; wie das Ausgabenbuch einer amerikanischen Mittelstandsfamilie aussieht – davon erfahre ich nichts. Aber da ist kein Ehebruchprozeß unsauber und dumm, keine blöde Wette von Rennjobbern albern, keine Toilette eines Theatergirls belanglos genug, als daß mich meine Leibblätter nicht ausführlich darüber unterrichteten. Der Grund ist sehr einfach: jene Fragen zu behandeln kostet viele Reisen und mühsame Kleinarbeit – den kindischen Klatsch kann man aus der Zeitung abschreiben.

Die deutschen Auslandskorrespondenten versenken sich in die ausländischen Zeitungen und blicken viel zu selten auf. Das hat einen ganz bestimmten Grund.

Die deutschen Journalisten im Ausland haben kein Geld.

Sie sind gar nicht in der Lage, ernsthaft mit ihrem englischen und amerikanischen Kollegen zu rivalisieren, weil sie nicht auftreten, weil sie die soziale Stufenleiter nicht genügend herauf- und herunterklettern können, weil ihr soziologischer Horizont zu klein ist.

Der unendliche Stolz eines deutschen Journalisten, der ein paar Ministerialindiskretionen aufgeschnappt hat, zeigt deutlich, wie kümmerlich sonst seine Quellen sein müssen. Sie können nicht ergiebiger sein; denn es gibt keinen deutschen Verlag, der einsieht, wie seine Auslandskorrespondenten auftreten müßten.

Mag sein, daß dabei die unleidliche Eitelkeit der Bürohierarchie von der ›Zentrale‹ mitspricht, die nicht dulden kann, daß irgendein londoner[120] Vertreter besser bezahlt wird als ein leitender Mann in Berlin (obgleich ihre Aufgaben und Aufwendungen ganz verschieden voneinander sind); mag sein, daß sich der Verleger, leider mit einigem Recht, sagt, daß es auch so gehe: auf jeden Fall ist festzustellen, daß die deutschen Auslandsjournalisten ihre Aufgabe nicht erfüllen können.

Ich habe hier hinzuzufügen, daß mir bei dieser Feststellung nichts ferner liegt als ein verhüllter persönlicher Angriff: die deutschen Zeitungsvertreter, die ich zum Beispiel in Paris kennengelernt habe, sind gebildete, saubere und stets hilfsbereite Männer, die der sehr anstrengende Dienst voll ausfüllt. Mehr können sie nicht hergeben. Es fehlt ihnen an der Zeit, mehr zu tun – und es fehlt ihnen am Geld.

Es ist möglich, nach sehr langem Aufenthalt auch ohne größere Mittel über manche Gebiete eines fremden Landes gute Berichte zu machen; andre faßt man nie, wenn man kein Geld hat.

Man hat mir hier in Paris mit Recht gesagt, die Franzosen würden es als taktlos empfinden, wenn ein Deutscher, also der Angehörige einer Nation, die Frankreich Geld schuldet, wie ein Dollarmillionär aufträte. Das ist richtig. Aber zwischen einem solchen Auftreten und der Verfügung über absolut nötige Betriebsspesen ist noch ein großer Unterschied. Alles Wichtige, was ein guter Beobachter erfährt, erfährt er in Unterhaltungen mit Menschen, und zwar nicht mit Menschen, die er bei seinem Interview zum ersten Male sieht, sondern mit Menschen, zu denen er durch gesellschaftlichen Verkehr bereits einen nähern Kontakt hat. Die Herstellung dieses Kontaktes macht Kosten.

Das, was für viele zehntausend Mark jetzt getrieben wird, ist Unfug. Das Zeug unterrichtet keinen und führt höchstens zu innenpolitischem Mißbrauch. Man mag die Abstimmung über einen Kammerantrag telegrafieren, und wohin Herr Painlevé gereist ist – was die ›Liberté‹ und der ›Matin‹ und das ›Echo de Paris‹ dazu sagen, ist viel weniger beachtenswert, als die deutschen Verleger glauben.

Fontane erzählt aus seiner Kreuzzeitungs-Zeit, wie oft die englischen Berichte zu Hause geschrieben wurden, und er macht sich ein bißchen darüber lustig. Aber nur ein bißchen. Die Schreiber waren und machten keine Wippchen. Es waren kenntnisreiche Männer, die die englische Presse genau kannten und Wirkung und Ausmaß jeder Nachricht durchaus abzuschätzen verstanden. Das kann man auch in Berlin, und dazu braucht man niemand nach London zu schicken.

Was man aber in Berlin nicht kann, ist dieses:

Zwanzig verschiedene Milieus im fremden Lande immer wieder aufsuchen: Akademiker, Gewerkschaftssekretäre, Geistlichkeit, den Adel, die Industrie, die Bauern und die Volksschullehrer. Was man in Berlin nicht kann, ist: im gesellschaftlichen Verkehr mit den Fremden auf jene Halbtöne zu horchen, auf die es so sehr ankommt, jene unwägbare Stimmung einzufangen, Zufälligkeiten vom Prinzipiellen zu sondern[121] und Typen zu sehen. Um das zu erreichen, muß der Beobachter finanziell völlig frei sein und das besonders im Ausland, wo man andre Tischsitten und eine viel größere Geselligkeit beim Essen hat. Die dazu nötigen Spesen bewilligt keine deutsche Zeitung. Sie wirft ihr Geld zum Telefon hinaus.

Selbstverständlich ist das, was ein so profunder Kenner Frankreichs wie René Schickele nach Hause geschrieben hat, tausendmal wichtiger als dreihundert Telefonate, aus denen man sich beim besten Willen kein Bild machen kann. Trennt man die geschickte ›Aufmachung‹ des kümmerlichen Stoffs von seiner Substanz, so sieht man erst, wie dürftig die Quellen rinnen.

Es gibt wohl nur eine Gruppe, die in ihrem Fach wirklich gut über das Ausland unterrichtet ist: das sind die Industriellen.

Da wird mit den Spesen nicht gespart – aber diese Leute berichten auch nicht, was in den fremden Fachzeitschriften steht, sondern sie gehen umher, machen die Augen und Ohren auf und erfahren wirklich etwas. Die Presse dagegen schreibt sich selbst aus.

Alle Einwände, daß die deutsche Presse solche Spesen für ihre Auslandsjournalisten nicht tragen könne, sind falsch. Sie trägt sie ja für die Durchführung eines total mißverstandenen Nachrichtendienstes, der seinen Zweck verfehlt. Wer nur einmal den ›Temps‹ oder die ›Times‹ in der Hand gehabt hat, weiß, wie ausgezeichnet da die Journalisten unterrichtet sind: sie haben eben nicht nur kalt interviewt, sondern sie haben mit aller Welt einmal gefrühstückt, zu Abend gegessen, sind mit allen einmal ins Theater, zum Rennen, in die Ausstellungen gegangen, haben die andern reden lassen, haben gefragt und zugehört. Die Verlage haben es sich etwas kosten lassen und eine gute Ware bekommen. Unsre Leute: eine schlechte. Die sozialdemokratischen und pazifistischen Blätter mit inbegriffen – sie sind im Ausland entweder überhaupt nicht oder meist elend vertreten.

Die deutsche Presse erinnert sich jährlich mindestens zweimal an ihre Kulturpflicht. Was das Gebiet des Nachrichtenwesens angeht, so ist zu sagen: sie erfüllt sie nicht.


  • · Ignaz Wrobel
    Die Weltbühne, 12.05.1925, Nr. 19, S. 694, wieder in: Mit 5 PS.

Quelle:
Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 4, Reinbek bei Hamburg 1975, S. 119-122.
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