|
[229] »Der Chinese stürzte sich auf den Schwarzen, der die Tür der Stahlkammer ins Schloß schmetterte. Jenny warf sich herum und stierte den Detektiv fassungslos an. ›Mord!‹ sagte Herr Engel kurz.«
Hunderttausend ernster Geschäftsleute, die tagsüber Butter und Seide und Kuxe gehandelt haben, lesen abends, mit leicht gerunzelter Stirn, die Lippen um die Pfeife gepreßt, Kriminalromane. Warum? Was geht Herrn Buttermann der Chinese in der Stahlkammer an? Was Herrn Seidemann das Attentat auf den londoner Zirkusbesitzer Poiccart? Was Herrn Makler Kuxmann das Komplott der Mörderbande gegen den großen Bill –? Eben weil es sie nichts angeht, lesen sie es.
Es ist die Flucht aus dem Alltag in die Romantik – aber in eine, in der es genau so logisch, so folgerichtig, so scharf zugeht wie im Leben – nur die Voraussetzung und das Schlußergebnis sind verschieden. Im Leben unterliegen bekanntlich immer beide Parteien – in den Kriminalromanen siegt einer unbedingt, vollkommen, ganz und gar, und das ist eine Befriedigung für den Leser, jener nicht unähnlich, die wir empfunden haben, wenn die arithmetische Aufgabe in der Schule mit Null aufging . . .
Jede Zeit hat die Räuberromane, die ihr angemessen sind: das achtzehnte Jahrhundert die moralischen oder unmoralischen, was auf dasselbe[229] herauskommt; das neunzehnte die idyllischen, mit einem Rinaldo Rinaldini, der zweihundertundachtzig Seiten braucht, ehe er zum Schuß kommt – und heute geht es schnell und fix zu, klipp-klapp: Verbrechen, der Detektiv sog an der mächtigen Pfeife, das Auto braust in die Vorstadt, Blausäure, Brandstiftung, die schwarze Mündung des Revolvers richtete sich auf den erblaßten Billy, und auf Seite zweihundert ist alles in Ordnung. Das hat der Geschäftsmann gern – es ist eine klare Bilanz. Tempo! Tempo!
Der Kriminalroman ist die Ausspannung von der alltäglichen Tätigkeit: wer in der Geisbergstraße wohnt, eingetragen auf dem Einwohnermeldeamt, mit Steuerbogen, Führerschein, Geburtszeugnis und Impfattest, der liebt die Pyramiden, in deren Innern sich die arabischen Wüstenräuber aufhalten . . . Die neueren Kriminalromane bestehen aus einem Minimum an Reflexion und einem Maximum an Handlung. Man kann nicht einmal sagen, daß hier die Tugend siege oder das Verbrechen: – die Aktivität siegt, der Schnellere siegt, der, der besser Auto fahren, der besser denken kann, der die schnellere Entschlußkraft besitzt. Es ist eine Entspannung für den, dem tagsüber am Telefon, im Geschäft, im Büro nichts schnell genug gehen kann – hier funktioniert es Schlag auf Schlag, und man weiß, woran man ist.
Aber es ist eine nicht ganz ungefährliche Entspannung. Lies vier Kriminalromane hintereinander, und dir wirbelt langsam der Kopf; diese Lektüre hat etwas Narkotisches, hinterher schmeckt nichts mehr anderes . . .
Aber mitunter, in der Eisenbahn, im Flugzeug, in der Sommerfrische, in der Elektrischen ist es ganz heiter. Die Umwelt versinkt, vergessen Chef, Angestellte und der Ärger mit Abteilung IIIb, vergessen Registratur und Intrigen des Assistenten, vergessen Geschäft, Kurszettel und Hypothek . . . »Der Detektiv hielt eine verwelkte Rosenknospe in der Hand und roch sorgfältig an ihr. In diesem Augenblick ertönte eine ungeheure Detonation, alle eilten ans Fenster . . . .« Die Herren Doyle, Wallace & Co. seien gesegnet für und für, wenn alles schief geht, nehmen wir ihre Werke zur Hand und flüchten uns aus dem sauber parzellierten Alltag in die unkontrollierbaren Länder der Verbrecher-Romantik. Es gibt allerdings ein Gebiet, in dem es noch toller zugeht als dort: und das ist das Leben.