|
[141] Am folgenden Morgen gegen sechs Uhr verließ ein reizender Yawl von fünfundvierzig bis fünfzig Tonnen, die »Clorinda«, den kleinen Hafen von Jona, und segelte bei leichter, nordöstlicher Brise mit Steuerbordhalfen dicht am Wind auf das hohe Meer hinaus.
Die »Clorinda« entführte Miß Campbell, Olivier Sinclair, Bruder Sam, Bruder Sib, Frau Beß und Patridge.
Es versteht sich von selbst, daß der unglückselige Aristobulos Ursiclos nicht mit an Bord war.[141]
Nach dem Abenteuer des Vortages hatte man nämlich Folgendes beschlossen und unverzüglich in's Werk gesetzt:
Beim Niedersteigen vom Hügel der Abtei und der Rückkehr nach der Herberge hatte Miß Campbell in kurzem Tone gesagt:
»Meine Onkels, da Herr Aristobulos Ursiclos sich in den Kopf gesetzt zu haben scheint, noch länger auf Jona zu bleiben, so wollen wir Jona diesem Herrn Aristobulos Ursiclos überlassen. Zum ersten Male in Oban, zum zweiten Male hier hat er unsere Beobachtungen zu nichte gemacht. Wir werden nicht einen Tag länger hier bleiben, wo dieser Unselige offenbar ein Vorrecht genießt, Dummheiten zu begehen!«
Auf diese ebenso kurze wie bündige Erklärung konnten die Brüder Melvill keine Erwiderung finden. Uebrigens theilten auch sie die allgemeine Mißstimmung und verwünschten Aristobulos Ursiclos, so kräftig als ihre Natur das zuließ. Entschieden war die Situation ihres Prätendenten für immer erschüttert. Nichts konnte ihn wieder zu Miß Campbell zurückführen; sie mußten schon wohl oder übel auf die Erfüllung eines unmöglich gewordenen Projectes verzichten.
»Nun, glücklicher Weise, flüsterte Bruder Sam Bruder Sib, den er etwas auf die Seite genommen, zu, sind übereilt gegebene Versprechen keine eisernen Handschellen!«
Das bedeutete mit anderen Worten, daß man unter wesentlich veränderten Umständen unmöglich an ein, unter anderen Voraussetzungen gegebenes Wort gebunden sein kann, und unter deutlicher Geste hatte Bruder Sib auch seine Zustimmung gegeben, daß hier jenes schottische Sprichwort volle Anwendung fände.
Eben als man sich im unteren Saale des »Panzer Duncan's« verabschieden wollte, erklärte Miß Campbell:
»Wir reisen morgen ab, ich bleibe keinen Tag mehr hier!
– Ganz einverstanden, meine liebe Helena, antwortete Bruder Sam, doch wohin werden wir gehen?
– Dahin, wo wir sicher sind, diesen Herrn Ursiclos nicht wieder anzutreffen. Es ist also von Wesenheit, Niemand erfahren zu lassen, sowohl daß wir von Jona weg-, noch auch wohin wir gehen.
– Ganz recht, meinte Bruder Sib; aber, liebe Tochter, wie sollen wir abreisen und wohin uns wenden?
– O, rief Miß Campbell, wir sollten nicht mit Tagesanbruch ein Mittel finden, diese Insel zu verlassen? Das Ufer Schottlands böte uns keinen unbewohnten,[142] noch lieber unbewohnbaren Punkt, wo wir unserer Beobachtung in Frieden nachgehen könnten?«
Die beiden Brüder wenigstens hätten auf diese doppelte, übrigens in einem Tone gestellte Frage, der keine Ausflucht gestattete, nicht zu antworten vermocht. Zu ihrem Glücke war Olivier Sinclair noch bei der Hand.
»Miß Campbell, sagte er, das läßt sich Alles arrangiren, und zwar wie folgt: nicht weit von hier bietet sich eine, für unsere Beobachtung höchst geeignete Insel, eigentlich nur ein Eiland, und da wird kein Störenfried uns nahen.
– Welche meinen Sie?
– Nun Staffa, das Sie höchstens zwei Meilen im Norden von Jona wahrnehmen können.
– Ist es möglich, dort zu leben und dahin zu gelangen? fragte Miß Campbell.
– Gewiß, versicherte Olivier Sinclair, und noch dazu ganz leicht. Im Hafen von Jona hab' ich eine jener Yachten gesehen, welche immer bereit sind, in See zu gehen, eine Yacht, wie man deren während der schönen Jahreszeit ja in allen englischen Häfen findet. Der Capitän derselben wie die Mannschaft stehen dem ersten besten Touristen zur Verfügung, der ihre Dienste in Anspruch nimmt, um nach dem Canal, nach der Nordsee oder nach Irland zu gehen. Nun, wer hindert uns, diese Yacht zu heuern, auf derselben, da Staffa selbst keine Hilfsquellen bietet, für vierzehn Tage Proviant einzuschiffen und morgen mit dem ersten Tagesgrauen davonzusegeln?
– Herr Sinclair, antwortete Miß Campbell, wir werden morgen heimlich diese Insel verlassen haben, und seien Sie überzeugt, daß ich mich Ihnen zu großem Danke verpflichtet fühlen werde.
– Morgen, im Laufe des Vormittags, vorausgesetzt, daß sich nur eine leichte Morgenbrise erhebt, werden wir schon auf Staffa sein, versicherte Olivier Sinclair, und abgesehen von dem gewöhnlichen Besuche der Touristen, der zweimal in der Woche etwa eine Stunde dauert, werden wir daselbst von keiner lebenden Seele gestört sein.«
Nach gewöhnlicher Sitte erklangen sofort wieder alle Rufnamen der Frau Beß.
»Bet!
– Beth!
– Beß![143]
– Betsey!
– Betty!«
Frau Beß erschien auf der Stelle.
»Wir reisen morgen ab, sagte Bruder Sam.
– Morgen ganz früh!« setzte Bruder Sib hinzu.
Ohne sich darüber eine weitere Frage vorzulegen, beschäftigten sich Frau Beß und Patridge gleich darauf mit den Vorbereitungen zum Aufbruch.
Inzwischen begab Olivier Sinclair sich nach dem Hafen und verhandelte daselbst mit John Olduck.
John Olduck war der Capitän der »Clorinda«, ein richtiger Seemann, bekleidet mit der traditionellen Mütze mit Goldborte, einer Art Jacke mit Metallknöpfen und mit Beinkleidern aus blauem Tuch. Nach Abschluß des Vertrags ging dieser sofort daran, mit seinen sechs Leuten alles zum Auslaufen klar zu machen. Diese sechs Matrosen waren eigentlich Fischer, versahen aber während des Sommers den Dienst auf diesen Yachten so vortrefflich, daß sie allen Seeleuten der Welt hätten als Muster gelten können.
Um sechs Uhr Morgens schifften sich die neuen Passagiere der »Clorinda« ein, ohne Jemand ein Wort über die Bestimmung der Yacht gesagt zu haben. Lebensmittel, frisches Fleisch, wie Conserven und die unentbehrlichen Getränke, waren in Eile reichlich herbeigeschafft worden. Uebrigens konnte der Koch der »Clorinda« sich noch nebenbei von dem Dampfer, welcher den regelmäßigen Dienst zwischen Oban und Staffa versieht, mit verschiedenem Anderen versorgen.
Mit Tagesanbruch hatte Miß Campbell von einem reizenden coquetten Zimmerchen Besitz genommen, das im Hintertheil der Yacht lag. Die beiden Brüder nahmen jenseits des Salons die Lagerstätten der »Main-Cabin« ein, die sich in dem breitesten Theile des Schiffes befand. Olivier Sinclair begnügte sich mit einer kleinen, hinter der nach dem Salon führenden Treppe gelegenen Cabine. Zu beiden Seiten des durch den Schaft des Großmastes durchbrochenen Speisesaals hatten Frau Beß und Patridge, der Eine rechts, die Andere links, ihre Matratzen-Lager, gleich hinter der Küche und hinter der Koje des Capitäns. Die Küche, in welcher der Koch gleich wohnte, lag also etwas weiter nach vorn; noch weiter das sogenannte Volkslogis mit den Hängematten für die sechs Matrosen. Nichts fehlte dem hübschen, von Ratsey in Cowes erbauten Yawl. Bei günstigem Wasser und guter Brise hätte derselbe bei allen Regattas des »Royal Thames Yachting Club« eine ehrenvolle Stelle behauptet.
[144]
Es gewährte Allen eine wirkliche Freude, als die »Clorinda« ihren Anker gelichtet und nun mit dem Großsegel, dem Gaffelsegel, dem Focksegel und dem Klüverjäger den Wind abfing. Sie neigte sich zierlich zur Seite, ohne daß ihr mit der Canada-Fichte gedieltes Deck nur von einem Tropfen Wasser benetzt worden wäre, so scharf durchschnitt der senkrecht construirte Vordersteven die leichten, gegen ihn anlaufenden Wellen.
Die Entfernung, welche diese zwei kleinen Hebriden, Jona und Staffa, trennt, ist nur eine sehr kurze. Bei ganz günstiger Windrichtung hätten wohl[145] zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten hingereicht, sie zu durchmessen, mindestens mit einer Yacht, welche, wie die »Clorinda«, ihre acht Seemeilen in der Stunde zurücklegen konnte. Heute hatte man aber den Wind, wenn auch nur in Form einer leichten Brise, fast genau von vorn; dabei war das Meer im Fallen, und so wurde es nöthig, die immerhin merkbare Strömung durch wiederholtes Laviren zu überwinden, ehe die »Clorinda« auf die Höhe von Staffa gelangen konnte.
Miß Campbell legte darauf keinen besonderen Werth; ihr war es genug, daß die »Clorinda« mit ihnen dahinsegelte. Eine Stunde später verschwamm Jona im Morgennebel, und mit der Insel das Bild jenes Störenfrieds, den Helena am liebsten bis auf den Namen vergessen hätte.
So sagte sie auch freimüthig zu ihren Onkels:
»Nun, hab' ich nicht Recht, Papa Sam?
– Ganz recht, meine liebe Helena.
– Und stimmt Mama nicht auch damit überein?
– Vollkommen!
– Nun also, fuhr sie fort, die Arme um beide Männer schlingend, so vereinigen wir uns Alle in der Erkenntniß, daß zwei herzliebe Onkels, welche mir einen solchen Ehemann aufhängen wollten, eine besonders glückliche Idee nicht gehabt haben!«
Beide Männer verneigten sich zustimmend.
Die überaus angenehme Seefahrt hatte nur den einen Fehler, zu kurz zu sein. Was hinderte aber, sie auszudehnen, den »Yawl« dem Grünen Strahl entgegensegeln zu lassen und diesen mitten im Atlantischen Ocean aufzusuchen? Doch nein! Laut Uebereinkunft begab man sich nach Staffa, John Olduck traf seine Maßregeln, dieses berühmteste Eiland der Kleinen Hebriden mit dem Wiederansteigen der Fluth zu erreichen.
Gegen acht Uhr wurde im Speisesaale der »Clorinda« das erste, aus Thee, Butter und Sandwichs bestehende Frühstück aufgetragen.
In rosigster Laune thaten alle Tischgenossen ihm volle Ehre an, und vergaßen dabei schon ganz die einladende Tafel der Herberge in Jona. Diese Undankbaren!
Als Miß Campbell nach dem Deck zurückkam, hatte die Yacht die Fahrtrichtung gewechselt. Sie näherte sich jetzt dem schönen, auf den Rissen von Skerryvore errichteten Leuchthurm, dessen Feuer erster Ordnung hundertfünfzig[146] Fuß über dem Meeresniveau glüht. Und doch »schnitt sie die Feder ab«, um die schottische Bezeichnung für die Schnelligkeit ihrer Fahrt zu gebrauchen.
Halb ausgestreckt lag Miß Campbell auf dem Hintertheile der Yacht auf einem jener großen Kissen aus starker Leinwand, wie man solche auf allen englischen Lustyachten antrifft. Sie ergötzte sich über die schnelle Fortbewegung, ohne das Stoßen beim Fahren auf einem Landwagen oder das Zittern und Schütteln eines Eisenbahnzugs – diese Schnelligkeit eines Schlittschuhläufers, der über einen hartgefrorenen See dahinfliegt. Man konnte kaum etwas Graziöseres sehen als diese elegante, auf den leicht schäumenden Wogen mäßig geneigt liegende »Clorinda«, wie sie sich mit den Wellen hob und senkte. Wahrlich, sie schien mehr die Luft zu durchschneiden, gleich einem ungeheuren Vogel, den seine mächtigen Flügel tragen.
Dieser im Norden und im Süden durch die Großen Hebriden gedeckte, im Osten durch eine Küste geschützte Meerestheil glich fast einem Binnensee, dessen Gewässer der Wind noch nicht hatte aufregen können.
Die Yacht segelte in schräger Richtung auf Staffa zu, auf diesen großen, seitwärts der Insel Mull vereinzelt aufragenden Felsen, der sich kaum hundert Fuß über das Hochwasser erhebt. Man hätte glauben können, daß dieser es war, welcher unaufhörlich seinen Ort wechselte, da er einmal das hohe steile Ufer im Westen, dann wieder die wild aufeinander gethürmten Steinmassen seiner Ostseite zeigte. In Folge einer erklärlichen Gesichtstäuschung schien sich die ganze Masse auf einem Zapfen zu drehen, je nach den Winkeln, welche die Fahrtrichtung der »Clorinda« mit den einzelnen Theilen des Eilandes bildete.
Trotz der Strömung und des Gegenwindes kam die Yacht doch allmählich vorwärts. Wenn sie nach Westen, über die äußerste Spitze von Mull hinaussegelte, schüttelte sie das Meer ziemlich kräftig, obwohl sie eigentlich nur lustiger auf den aus der offenen See sich hinwälzenden Wogen tanzte; bei der nächstfolgenden Wendung- oder bei dem nächsten »Schlage«, wie man die beim Laviren im Zickzack zurückgelegten Einzelstrecken nennt – kam sie wieder in stilles Wasser, das sie sanft wie eine Kinderwiege schaukelte.
Gegen elf Uhr war die »Clorinda«weit genug nördlich hinausgekommen, um nun geraden Wegs auf Staffa zuzuhalten. Die Schoten wurden also gelöst, der Klüverjäger sank herab, und der Capitän traf Vorbereitung, vor Anker zu gehen.[147]
Einen Hafen besitzt zwar Staffa nicht, es ist jedoch bei jeder Windrichtung nicht schwierig, längs der Ostseite, innerhalb der, durch frühere geologische Vorgänge launenhaft daneben verstreuten Felsen – einem wirklichen Scheerengürtel – an das Eiland zu gelangen. Bei ganz schwerem Wetter könnte hier freilich ein Schiff von einigermaßen großem Tonnengehalt kaum zu bleiben wagen.
Die »Clorinda« wand sich also zwischen diesem Gürtel von schwarzem Basalt hin; sie folgte gehorsam der geschickten Führung des Capitäns und ließ auf der einen Seite den Felsen von Bouchaillie liegen, von dem das jetzt noch immer niedrige Meer die unteren, zu Bündeln vereinigten Schäfte bloß gelegt hatte, und auf der andern Seite, zur Linken, den Weg, der längs des Ufers hinläuft. Hier ist der beste Ankerplatz des Eilandes, und hier nahmen auch die Dampfer, welche Touristen nach Staffa brachten, diese nach Vollendung ihres Spazierganges nach den Sehenswürdigkeiten der Insel wieder auf.
Die »Clorinda« lief in eine ganz kleine Bucht, fast am Eingang der Grotte von Clam Shell ein. Das Obersegel wurde herabgelassen, das Großsegel völlig gelöst, und der Anker sank rasselnd in den Grund.
Eine Minute später landeten Miß Campbell und ihre Gefährten an den ersten Basaltstufen zur Linken der berühmten Grotte. Hier befand sich eine mit Geländer versehene Holztreppe, welche vom Ufer bis zum abgerundeten Rücken der Insel hinausführt.
Alle begaben sich auf derselben nach dem oberen Plateau.
Sie waren endlich in Staffa, so abgeschieden von der bewohnten Welt, als ob ein Sturm sie auf die ödeste Insel des Stillen Oceans verschlagen hätte.
Buchempfehlung
Der junge Vagabund Florin kann dem Grafen Schwarzenberg während einer Jagd das Leben retten und begleitet ihn als Gast auf sein Schloß. Dort lernt er Juliane, die Tochter des Grafen, kennen, die aber ist mit Eduard von Usingen verlobt. Ob das gut geht?
134 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro