|
[156] Wenn der Capitän der »Clorinda« sich im Laufe der letzten vierundzwanzig Stunden in einem der Häfen des Vereinigten Königreichs befunden hätte, würde er Kenntniß von einem meteorologischen Bulletin gehabt haben, das für die auf der Fahrt über den Atlantischen Ocean befindlichen Schiffe nicht besonders günstig lautete.
Durch den Draht war nämlich von New-York aus ein heftiger Sturm angezeigt worden. Nachdem er den Ocean von Westen nach Nordosten durchflogen, drohte derselbe mit voller Gewalt über das Gestade Irlands und Schottlands hereinzubrausen, um sich nachher jenseits der Küsten Norwegens zu verlieren.
Doch auch ohne dieses Telegramm verrieth schon das Barometer der Yacht eine nahe bevorstehende atmosphärische Störung, mit welcher ein vorsichtiger Seemann wohl rechnen mußte.
Am Morgen des 8. September begab sich deshalb der Capitän John Olduck etwas beunruhigt nach dem Felsenstrande, der Staffa nach Westen begrenzt, um den Zustand des Himmels und des Meeres besser überblicken zu können.
Wolken von ziemlich unbestimmter Gestalt, mehr Dunstsetzen als eigentliche Wolken, jagten da schon mit großer Schnelligkeit dahin. Der Wind gewann immer mehr an Stärke und mußte bald in wirklichen Sturm umschlagen. Das schäumende Meer hatte draußen ein ganz weißes Aussehen, und donnernd brachen sich die Wogen an den Basaltpfeilern, welche als Basis der Insel emporstarren.[156]
John Olduck kam die Sache gar nicht heiter vor. Obgleich die »Clorinda« vor der Clam Shell-Grotte ziemlich geschützt lag, war das doch kein wirklich sicherer Ankerplatz, nicht einmal für ein Schiff von so geringen Dimensionen. Die Gewalt des Wassers, welche sich zwischen dem Wege auf dem Lande und den vorgelagerten Felsen ganz bemerkbar machen mußte, veranlaßte hier gewiß eine furchtbare Brandung, welche die Situation der Yacht nicht wenig gefährdete. Es galt also einen Entschluß zu fassen, und zwar eher, als die schmalen Fahrstraßen geradezu unpassirbar wurden.
Als der Capitän an Bord zurückkam, fand er daselbst seine Passagiere, denen er seine Befürchtungen kundgab und die Nothwendigkeit auseinandersetzte, so schnell als möglich von hier unter Segel zu gehen. Bei einer Verzögerung von nur wenig Stunden lief man Gefahr, das Wasser in der fünfzehn Meilen breiten Meerenge, welche Staffa von der Insel Mull trennt, in höchst aufgeregtem Zustande anzutreffen. Hinter letzterer Insel aber mußte man Zuflucht suchen, und speciell in dem kleinen Hafen von Achnagraig, wo die »Clorinda« von den Seewinden nichts zu fürchten hatte.
»Wir sollen Staffa verlassen, rief Miß Cambell, einen so vorzüglich freien Horizont verlieren?
– Ich glaube, daß es sehr gefährlich werden dürfte, vor Clam Shell liegen zu bleiben, antwortete John Olduck.
– Wenn's einmal sein muß, liebe Helena, sagte Bruder Sam.
– Ja, wenn's denn sein muß!« setzte Bruder Sib hinzu.
Da mischte sich Olivier Sinclair, der das Mißbehagen bemerkte, das diese urplötzliche Abreise Miß Campbell bereitete, ein, mit der Frage:
»Wie lange, meinen Sie, Capitän Olduck, daß dieser Sturm wohl andauern könnte?
– In dieser Jahreszeit höchstens zwei oder drei Tage, erklärte der Capitän.
– Und Sie meinen, daß es nothwendig ist, von hier fortzusegeln?
– Nothwendig und ebenso dringend.
– Was wäre also Ihre Absicht?
– Noch diesen Morgen die Anker zu lichten. Mit dem frischen Winde könnten wir noch vor dem Abend in Achnagraig landen, und würden erst, nachdem das Wetter vorübergegangen ist, nach Staffa zurückkehren.
– Warum wollen Sie nicht nach Jona zurücksegeln, wo die »Clorinda« binnen einer Stunde sein könnte? fragte Bruder Sam.[157]
– Nein... nein... nicht nach Jona! rief Miß Campbell, vor der schon der Schatten Aristobulos Ursiclos' aufstieg.
– Im Hafen von Jona wären wir kaum mehr in Sicherheit, als hier vor Staffa, wandte John Olduck dagegen ein.
– Nun wohl, Capitän, sagte Olivier Sinclair, so segeln Sie ab, segeln Sie unverzüglich nach Achnagraig und lassen Sie uns auf Staffa zurück.
– Auf Staffa, wiederholte John Olduck verwundert, wo Sie nicht einmal eine Hütte hätten, sich zu schützen?
– Kann die Grotte von Clam Shell nicht für einige Tage genügen? erwiderte Olivier Sinclair. Was soll uns da fehlen? – Nichts! Wir besitzen an Bord hinreichenden Proviant, Wäsche für unsere Schlafstätten, Kleider zum Wechseln, was man Alles schnell ausschiffen kann, und der Koch wird jedenfalls gern bei uns aushalten.
– Ja... ja... antwortete Miß Campbell, in die Hände klatschend, reisen Sie ab, Capitän. segeln Sie unverzüglich mit Ihrer Yacht nach Achnagraig und lassen Sie uns auf Staffa. Wir werden uns hier wie Ausgesetzte auf wüster Insel befinden; wir führen hier das Leben freiwilliger Schiffbrüchiger Wir erwarten dann die Rückkehr der »Clorinda« mit der Erregung, der ängstlichen Spannung jener Robinsons, welche ein Schiff in der Nähe ihrer Insel erblicken. Zu welchem Zwecke sind wir hierher gekommen? Einen Roman zu spielen, nicht wahr, Herr Sinclair, und was kann es romantischeres geben, als diese unsere Lage, liebe Onkels? Und mein ganzes Leben lang würde ich mir Vorwürfe machen, ein so erhabenes Schauspiel verfehlt zu haben, wenn ich nicht einen rasenden, über das Eiland fliegenden Wind, den Zorn eines nördlichen Meeres, die ossianhaften Kämpfe der entfesselten Elemente beobachtet hätte. Segeln Sie weg, Capitän Olduck! Wir bleiben hier, bis Sie wiederkommen!
– Indeß... stammelten die Brüder Melvill, denen dieses Wort der Besorgniß gleichzeitig entschlüpfte.
– Mir scheint, meine Onkels hätten etwas einzuwenden, schnitt ihnen Miß Campbell die Rede ab, doch ich glaube ein Mittel zu besitzen, um sie zu meiner Ansicht zu bekehren.«
Damit gab sie jedem den gewohnten Morgenkuß.
»So, das ist für Dich, Onkel Sam, und für Dich, Onkel Sib. Ich wette nun, daß Ihr nichts mehr zu sagen habt.«
Sie dachten gar nicht daran, eine Einwendung zu erheben.[158]
Weil es ihrer Nichte beliebte in Staffa bleiben zu wollen, warum sollten sie da nicht aushalten, und warum kamen sie überhaupt nicht von Anfang an auf diesen einfachen, natürlichen Gedanken, der Aller Interessen Rechnung trug?
Der Vorschlag rührte indessen von Olivier Sinclair her, und Miß Campbell glaubte ihm dafür ganz speciell danken zu müssen.
Nachdem also ihr Beschluß feststand, schifften die Matrosen die für mehrtägigen Aufenthalt nothwendigen Bedürfnisse aus. Clam Shell wurde unter dem Namen Melvill-House zur einstweiligen Wohnung umgestaltet, in der man mindestens ebenso gut untergebracht zu sein meinte, wie in der Herberge zu Jona. Der Koch ging sofort daran, eine für seine Obliegenheiten passende Stelle auszuwählen, die er nahe dem Eingang der Höhle in einer scheinbar zu solchen Zwecken geschaffenen Nische der Felswand entdeckte.
Dann verließen Miß Campbell und Olivier Sinclair, die Brüder Melvill, Frau Beß und Patridge die »Clorinda« und übernahmen das ihnen von John Olduck überlassene kleine Boot der Yacht, welches zum gelegentlichen Uebersetzen von einem Felsen zum andern von großem Vortheil sein mußte.
Eine Stunde später lichtete die »Clorinda« mit doppelt gerefften Segeln und eingezogenem Klüverjäger die Anker, und wandte sich nach der Nordseite der Insel Mull, um durch die schmale Wasserstraße zwischen der Insel und dem Festlande nach Achnagraig zu gelangen. Ihre Passagiere folgten ihr von der Höhe Staffas aus mit den Blicken, so lange sie das schmucke Schiff sehen konnten. Sich unter dem Wind neigend, gleich einer Möve, die mit den Flügeln dicht über das Wasser streicht, war dasselbe nach kaum einer halben Stunde hinter dem Eilande Geometra verschwunden.
Wenn die Witterung auch bedrohlich schien, blieb der Himmel vorläufig doch noch ziemlich klar, so daß die Sonne sehr häufig durch die Wolkenöffnungen blickte, welche der Wind im Zenith aufriß. Man konnte auf der Insel lustwandeln und rings um dieselbe dem Fuße des Basaltufers folgen. Miß Campbell's und der Brüder Melvill erstes Verlangen war denn auch, sich unter der Führung Olivier Sinclair's nach der berühmten Fingalshöhle zu begeben.
Die Lustreisenden, welche von Oban kommen, pflegen diese Höhle mittelst der Boote des Obaner Dampfers zu besuchen; man kann jedoch bis nach ihrem entlegensten Hintergrunde auch dadurch gelangen, daß man an den Felsen der rechten Seite landet, wo sich eine Art gangbarer Quai vorfindet.
[159]
Auf diese Weise wollte Olivier Sinclair seine Touristen führen, ohne das Canot der »Clorinda« zu benützen.
Alle verließen also Clam Shell und begaben sich nach der Straße, welche an der Ostseite der Insel verläuft. Das obere Ende der senkrecht eingelassenen Säulenschäfte, welche fast auf den Gedanken führten, daß ein Architekt sie in dieser Weise versenkt hätte, bot einen festen und trockenen Fußboden. Der nur wenige Minuten beanspruchende Weg wurde plaudernd zurückgelegt, während Alle die Schönheit der Eilande bewunderten, an denen die Brandung tobte und über
die hinaus das lichtgrüne Wasser bis auf den Grand[160] der Felsen zu blicken gestattete. Man konnte sich unmöglich einen schöneren Weg nach jener Grotte denken, welche an sich würdig erscheint, von einem Helden aus Tausend und einer Nacht bewohnt zu werden.
An der südöstlichen Ecke der Insel angelangt, ließ Olivier Sinclair seine Begleiter einige natürliche Stufen emporsteigen, welche sich mit der Treppe jedes Palastes hätten messen können. An dieser Treppenecke erhoben sich die äußersten Säulen, welche längs der Wand der Höhle stehen, wie die des kleinen Tempels[161] der Vesta in Rom, nur näher neben einander, wie um die unbearbeitete Wand zu verhüllen. Auf ihre Capitäle stützt sich die gewaltige Steinmasse, welche diesen Theil des Eilandes bildet. Die schräg verlaufenden Spalten dieser Felsen, welche nach dem Muster eines inneren Bogengewölbes angeordnet scheinen, contrastiren eigenthümlich mit der lothrechten Stellung der Säulen, welche sie tragen.
Am Fuße jener Stufen hob und senkte sich das Wasser, als ob es tief athmete, schon ein wenig stärker unter der Rückwirkung der hohen Wellen des offenen Meeres. Hier spiegelte sich der ganze Grund der Steinmasse wider, deren schwärzlicher Schatten auf den Wogen schwankte.
Am oberen Treppenabsatze angekommen, wendete sich Olivier Sinclair zur Linken und zeigte Miß Campbell eine Art schmalen Quai oder vielmehr natürlichen Absatz, der sich längs der Wand bis tief in die Höhle hineinzog. Ein dünnes Geländer von Eisenstangen, die im Basalt befestigt waren, diente als Handleitung zwischen der Wand und der scharfen Kante des Quais.
»O, sagte Miß Campbell, dieses Geländer verleidet mir ein wenig den Palast Fingal's.
– Sie haben Recht, meinte Olivier Sinclair, dieses Eingreifen der Menschenhand in das Werk der Natur stört einigermaßen.
– Doch, wenn es von Nutzen ist, muß man sich desselben bedienen, bemerkte Bruder Sam.
– Ich werde es thun!« setzte Bruder Sib hinzu.
Beim Eintritt in die Fingalshöhle blieben die Besucher auf den Rath ihres Führers stehen.
Vor ihnen öffnete sich eine Art hohes und tiefes Kirchenschiff voll geheimnißvollen Halbschattens. Im Meeresniveau maß der Raum zwischen beiden Wänden etwa vierunddreißig Fuß. Rechts und links verbargen Basaltpfeiler, welche dicht nebeneinander standen, wie in gewissen Kathedralen der letzten gothischen Periode, die Masse der Grundmauern. Auf die Capitäle diesen Pfeiler stützte sich der Anlauf einer ungeheuren gerippten Wölbung, die sich unter den Schlußsteinen fünfzig Fuß über dem Wasserstand erhob.
Trotz ihrer staunenden Bewunderung bei diesem ersten Anblick mußten sich Miß Campbell und ihre Begleiter doch endlich von der Betrachtung desselben losreißen und dem nach innen führenden Absatz der Wand folgen.
Hier streben in vollkommener Ordnung, aber verschiedener Größe, Hunderte prismatischer Säulen empor, gleich Erzeugnissen einer gigantischen Krystallisation.[162]
Ihre seinen Kanten heben sich so rein von einander ab, als hätte der Meißel eines Bildhauers diese Linien ausgearbeitet. An die nach rückwärts liegenden Winkel der einen schließen sich die nach vorn sehenden der anderen genau an. Die einen derselben zeigen drei Flächen, die anderen vier, fünf bis sieben und acht solche, was bei der allgemeinen Gleichförmigkeit des Styls eine angenehme Abwechslung hervorbringt, welche für den seinen Sinn des Künstlers der Natur ein schönes Zeugniß ablegt.
Das von außen eindringende Licht spielt auf allen facettirten Winkeln. Auf das Wasser unten treffend und wie von einem Spiegel zurückgestrahlt, schimmert es von submarinen Steinen, auf den grünen, dunkelrothen oder hellgelben Wasserpflanzen, und entzündet mit tausend Blitzen die Vorsprünge des Basaltes, der in unregelmäßigen Abtheilungen die Wölbung dieses Hypogäums, das in der Welt seines Gleichen nicht findet, reizvoll abschließt.
Darunter herrschte ein tönendes Schweigen – wenn man diese Worte in Verbindung setzen darf – das eigenartige Schweigen aller tiefen Aushöhlungen der Erde, welches die Besucher auch hier nicht zu unterbrechen wagten. Nur der Wind allein strich hindurch in langgezogenen Accorden, welche eine melancholische Reihenfolge einmal anschwellender und dann halb ersterbender Septimen, wie die Saiten einer Aeolsharfe, erklingen ließen. Ist es nicht dieser wunderbare Effect, von dem der Name »An-Na-Vine«, das ist die harmonische Grotte, hergeleitet ist, wie diese Höhle in der Sprache der alten Kelten genannt wurde?
»Und welcher Name konnte wohl passender erscheinen, sagte Olivier Sinclair, da Fingal der Vater Ossian's war, dessen Genius es gelang, Poesie und Musik in einer Kunst zu verschmelzen?
– Ohne Zweifel, stimmte ihm Bruder Sib bei; doch wie Ossian selbst sang: »Wann wird mein Ohr der Barden Lied vernehmen? Wann klopft mein Herz laut bei der Schilderung der Thaten meiner Väter? Ach, in den Wäldern von Sebora weckt des Echos Stimme keine Harfe mehr!«
– Ja, setzte Bruder Sib hinzu, »Nun steht er öd' der schimmernde Palast, kein Widerhall tönt mehr vom Sange früh'rer Zeiten!«
Die ganze Tiefe der Höhle wird auf ungefähr hundertfünfzig Fuß geschätzt. Im Hintergrunde des Kirchenschiffes erscheint eine Art Orgelchor, auf dem sich eine gewisse Anzahl Säulen von geringerem Durchmesser als am Eingang, dafür aber von tadelloser Reinheit der Linien erheben.[163]
Hier konnten Olivier Sinclair, Miß Campbell und deren beide Onkels einen Augenblick verweilen.
Von diesem Punkte aus bot sich eine bezaubernde, nach dem freien Himmel offene Perspective; das vom Licht durchdrungene Wasser ließ die Anordnung des unterseeischen Grundes erkennen, der aus Querschnitten von vier- bis siebenseitigen Säulenschäften bestand, welche gleich Mosaikpflaster dicht aneinander liegen. An den seitlichen Wänden wechselte ein wunderbares Spiel von Licht und Schatten. Alles erlosch, wenn eine Wolke, wie ein Gazevorhang auf der Bühne, vor der Mündung der Grotte vorüberzog. Alles glänzte dagegen und schmückte sich mit allen sieben Farben des Regenbogens, wenn ein vom Krystall des Grundes zurückgeworfener Sonnenstrahl sich in langen leuchtenden Streifen bis zur Decke der Wölbung erhob.
Weiterhin brandete das Meer an den ersten Pfeilern des ungeheuren Eingangsbogens. Dieser Rahmen, der sich so schwarz abhob, als ob er aus Ebenholz geschnitzt wäre, ließ alle Herrlichkeiten hinter sich desto voller zur Geltung kommen. Noch weiter draußen erschienen Himmel und Wasser in blendendem Glanze, und in weiter Ferne Jona, dessen weiße Klosterruinen deutlich hervorschimmerten.
Wirklich bezaubert durch diese feenhafte Pracht, vermochte Niemand seinen Empfindungen Worte zu verleihen.
»Welcher Zauberpalast! rief endlich Miß Campbell, und welch' prosaischer Geist müßte es sein, der nicht glauben könnte, Gott habe denselben für die Sylphen und Nixen geschaffen! Für wen sollten beim Athmen des Windes die Töne dieser Aeolsharfe erklingen? Ist das nicht jene überirdische Musik, welche Waverley in seinen Träumen hörte, jene Stimme Selmas, deren Accorde unser Romandichter aufgezeichnet hat, um damit seine Helden einzuschläfern?
– Sie haben Recht, Miß Campbell, sagte Olivier Sinclair; sicherlich dachte Walter Scott, wenn er seine Bilder in der poetischen Vergangenheit der Hochlande suchte, an den Palast Fingal's.
– O, hier möcht' ich den Schatten Ossian's anrufen! fuhr das schwärmerische junge Mädchen fort. Warum sollte der unsichtbare Barde nicht nach fünfzehnhundertjährigem Schlummer auf meine Stimme erscheinen! Ich stelle mir so gern vor, daß der Unglückliche, ebenso blind wie Homer und ebenso Dichter wie dieser, wenn er die großen Waffenthaten seiner Zeit besang, sich oftmals in diesen Palast geflüchtet hat, der noch heute den Namen seines Vaters trägt.[164]
Hier haben gewiß die Echos Fingal's häufig genug die epischen und lyrischen Eingebungen seines Geistes im reinsten gaëlischen Idiom wiedergeklungen. Glauben Sie nicht, Herr Sinclair, daß der alte Ossian auf demselben Platze gesessen haben könne, auf dem wir uns befinden, und daß die Töne seiner Harfe sich hier mit Selmas Stimme vermischten?
– Wie sollte ich nicht glauben, Miß Campbell, erwiderte Olivier Sinclair, was Sie mit so ausdrucksvoller Ueberzeugung aussprechen?
– Wenn ich ihn nun riefe?« murmelte Miß Campbell.
Und mit ihrer frischen Stimme ließ sie wiederholt den Namen des alten Barden durch das Zittern des Windes erschallen.
Doch trotz des sehnlichsten Verlangens der Miß Campbell, obwohl sie ihn dreimal gerufen, antwortete ihr doch nur das Echo. Der Schatten Ossian's erschien nicht im väterlichen Palaste.
Inzwischen war die Sonne hinter dichten Nebeln versanken. Die Grotte füllte sich mit düsteren Schatten und draußen wurde das Meer immer unruhiger; seine langen Wellen begannen sich schon an den letzten Basaltsäulen zu brechen.
Die Besucher begaben sich also nach der schmalen, schon halb von Wasserschaum bedeckten Galerie zu rück; sie gingen raschen Schrittes um die vom Winde heftig getroffene Ecke der Insel, gegen welche der Sturm von der Seeseite her andonnerte; weiterhin befanden sie sich vorläufig geschützt auf dem an der anderen Seite verlaufenden Uferdamm.
Die schlechte Witterung hatte sich seit zwei Stunden noch merkbar verschlimmert; der rasende Wind stieß sich schon an der hohen Küste Schottlands und drohte zum vollen Orkan anzuwachsen.
Durch die Basaltwand des Strandes gedeckt, konnte Miß Campbell mit ihren Begleitern jedoch Clam Shell bequem erreichen.
Am folgenden Tage entfesselte sich der Wind unter erneutem Sinken der Barometersäule mit furchtbarem Ungestüm; noch dichtere blaugraue Wolken erfüllten den Himmel und jagten ziemlich niedrig über die Erde hin. Noch regnete es zwar nicht, aber auch die Sonne blieb unsichtbar; höchstens schien sie einmal in langen Zwischenräumen.
Miß Campbell schien von diesem widrigen Wetter weniger verstimmt zu werden, als man es hätte glauben sollen.
Dieses Leben auf einem vom Sturm gepeitschten Eilande entsprach ganz ihrer feurigen Natur. Gleich einer Heroine Walter Scott's gefiel sie sich darin,[165] zwischen den Felsen von Staffa, in ganz eigenartig neue Gedanken versunken und meist allein, umherzuirren, wobei denn auch Niemand sich ihr zur Begleitung aufdrängte.
Wiederholt kehrte sie auch nach der Fingalshöhle zurück, deren poetische Eigenthümlichkeit sie lebhaft anzog. Hier verträumte sie ganze Stunden, ohne je der erhaltenen Warnung zu gedenken, sich nicht unachtsam in diesen unterirdischen Palast zu begeben.
Am nächsten Tage, dem 9. September, hatte sich das Minimum der Depression nach den Küsten Schottlands verschoben. Im Mittelpunkte dieses Wirbels bewegten sich die Luftströme mit unglaublicher Schnelligkeit – das war ein wirklicher Orkan. Es wäre unmöglich gewesen, ihm auf dem Oberlande der Insel Stand zu halten.
Gegen sieben Uhr Abends, eben als das Diner sie erwartete, bemächtigte sich Olivier Sinclairs und der Brüder Melvill eine namenlose Angst.
Miß Campbell, die seit drei Stunden, ohne zu sagen wohin, weggegangen war, hatte sich noch nicht wieder blicken lassen.
Vorher warteten Alle mit steigender Ungeduld bis um sechs Uhr... Miß Campbell erschien nicht.
Mehrmals stieg Olivier Sinclair nach dem Plateau der Insel hinaus... er sah keine Seele.
Der Sturm wüthete jetzt mit einer Gewalt ohnegleichen, und das sich zu Wogenbergen aufthürmende Meer donnerte ohne Unterlaß an die nach Südwesten gelegene Küste der Insel.
»Unglückliche Miß Campbell! rief plötzlich Olivier Sinclair, wenn sie sich jetzt noch in der Fingalshöhle befindet, muß ihr Hilfe werden, sonst ist sie rettungslos verloren.«[166]
Buchempfehlung
Diese »politische Komödie in einem Akt« spiegelt die Idee des souveränen Volkswillen aus der Märzrevolution wider.
30 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro