|
[83] Bevor der Zug die Station Gheok-Tepe erreichte, bin ich nach dem Waggon zurückgekehrt. Der Teufel hole jenes Dromedar! Hätt' es sich nicht so ungeschickt überfahren lassen, so wäre meine Nummer 11 mir kein Unbekannter mehr. Er[83] hätte seinen »Laden« geöffnet, wir hätten freundschaftlich ein Weilchen geplaudert und wären mit einem Händedruck von einander geschieden ... Jetzt muß der arme Teufel doch höchst unruhig sein, da er weiß, daß sein Betrug entdeckt ist, daß es Einen giebt, dessen Absichten er mißtrauen muß, Einen, der vielleicht gar nicht zögert, sein Geheimniß zu verrathen .... Und wenn er dann aus seinem Kasten geholt wird, dann setzt man ihn auf der nächsten Station in noch sichreren Gewahrsam, und Fräulein Zinca Klork wird ihn in der Hauptstadt des Himmlischen Reiches ganz vergeblich erwarten!
Ja, ja, ich muß ihn noch diese Nacht beruhigen. Das ist aber unthunlich, denn der Zug wird bald in Gheok-Tepe und später in Askhabad halten, von wo er mit Tagesanbruch weiter geht. Daß Popof weiter schliefe, ist auch nicht zu vermuthen.
Noch überleg' ich mir das hin und her, als die Locomotive um ein Uhr Nachts im Bahnhofe von Gheok-Tepe anhält. Von meinen Reisegenossen hat keiner sein Nachtlager verlassen.
Ich steige aus und gehe in der Nähe des Packwagens auf und ab. Jetzt wäre ein Versuch, in diesen zu gelangen, entschieden zu gefährlich. Die Stadt zu besuchen, von der ich so gern etwas gesehen hätte, verhindert mich die Finsterniß. Nach dem, was mir der Major Noltitz davon erzählt hat, zeigt sie noch immer die Spuren des furchtbaren Sturmangriffs durch Skobeleff im Jahre 1880, zerschossene Mauern, zerstörte Bastionen .... Ich muß mich begnügen, alles das nur mit den Augen des Majors gesehen zu haben.
Um zwei Uhr Morgens geht der Zug weiter, der jetzt noch einige Reisende, nach Popof's Aussage Turkmenen, aufgenommen hat. Diese werd' ich mir ansehen, wenn's erst hell ist.
Ein Aufenthalt von zehn Minuten gestattet mir, die Höhenzüge der persischen Grenze am fernen Horizonte undeutlich wahrzunehmen. Jenseits einer grünenden Oase mit zahlreichen Wasseradern fahren wir durch angebaute weite Ebenen hin, wo die Linie häufige Umwege – »Diversions«, sagt der Engländer – macht. Nachdem ich mich überzeugt, daß Popof gar nicht wieder an's Schlafen denkt, ziehe ich mich in meine Ecke zurück.
Um drei Uhr neuer Aufenthalt. Auf dem Perron wird der Name »Askhabad« ausgerufen. Da ich nicht still sitzen bleiben kann, steige ich auch hier aus, lasse meine Genossen in tiefem Schlummer liegen und schlendre geraden Wegs in die Stadt.[84]
Askhabad ist der Hauptort Transcaspiens, und ich erinnere mich gerade zur rechten Zeit dessen, was der Ingenieur Boulangier über seine höchst interessante Fahrt bis Merv mitgetheilt hat. Was ich selbst gesehen, als ich, den Bahnhof links liegen lassend, dahinschritt, beschränkt sich auf das Schattenbild des turkmenischen Forts, das die neue Stadt beherrscht, deren Einwohnerzahl sich seit 1887 verdoppelt hat. Dieser neue Stadttheil bildet ein Straßennetz hinter einem dichten Baumvorhang.
Um dreieinhalb Uhr zurückgekehrt. Jetzt geht Popof – zu welchem Zwecke weiß ich nicht – im Packwagen hin und her. Wie muß sich der junge Rumäne über diesen, an seinem Kasten vorüberkommenden Schritt beunruhigen!
Beim Wiedererscheinen Popof's frage ich:
»Nichts Neues?
– Nichts, Herr Bombarnae, höchstens der Morgenwind, der ziemlich frisch ist.
– Sogar sehr frisch .... Giebt's denn kein Wartezimmer im Bahnhof?
– O ja, zur Bequemlichkeit der Reisenden ....
– Und auch zum Besten der Bahnbeamten .... Natürlich .... Folgen Sie mir, Popos.«
Popof läßt sich nicht ein zweitesmal bitten.
Wenn die Gastzimmer auch offen sind, scheint es mir doch, als ob die Gäste darin bezüglich der Auswahl eines Labetrunkes sehr beschränkt wären. Hier giebt es nichts als »Kimis« (Kumiß), ein aus gegohrener Stutenmilch bereitetes Getränk von recht fadem Geschmack, das aber sehr nahrhaft sein soll. Man muß schon Tatare sein, um dieses Getränk nur ansehen zu können. Wenigstens auf mich hat es so gewirkt. Popof dagegen hat es vortrefflich gefunden, und das ist doch die Hauptsache.
Die meisten Sarten und Kirghisen, die in Askhabad den Zug verließen, wurden durch andere Reisende zweiter Classe ersetzt, durch Afghanen, von Beruf Händler und gewiß Schleichhändler, die, wie man sagt, mit allen Hunden gehetzt sind. Der gesammte in Mittelasien verzehrte grüne Thee wird von ihnen aus China über Indien hereingepascht, und obgleich das einen weit längeren Transport bedingt, liefern sie ihn doch billiger, als der russische Thee verkauft wird Selbstverständlich wurden die Gepäckstücke dieser Afghanen mit ganz besonderer Sorgsamkeit untersucht.
Der Zug ist um vier Uhr Morgens weiter gefahren. Unser Wagen bildet noch immer einen Sleeping-car. Ich beneide meine Reisegefährten um ihren Schlaf,[85] und da das Alles ist, was ich für sie thun kann, begebe ich mich nach der Plattform zurück.
Am Horizont des Ostens glüht der Frühschimmer des Tages. Da und dort zeigen sich Trümmer der alten Stadt, eine Citadelle mit hohen Wällen und eine Reihe breiter Thore, deren Durchmesser bei manchen bis fünfzehn Meter beträgt. Nachdem er verschiedene Dämme, die durch die Unebenheiten des Erdbodens hier bedingt sind, hinter sich gelassen, braust der Zug wieder auf die horizontale Steppe hinaus.
Wir fahren mit einer Schnelligkeit von sechzig Kilometern die Stunde und biegen nach Südosten hin ab, wobei die persische Grenze in der Nähe bleibt. Nur jenseits Duchak entfernt sich die Bahnlinie von ihr. Während dieser Fahrt von drei Stunden hält der Zug, zur Einnahme verschiedener Bedürfnisse, an zwei Stationen: Gheurs, dem Vereinigungspunkte mit der Linie nach Meschhed, von wo aus die Höhen des Plateaus von Iran sichtbar sind, und Artyk, wo sich zwar vieles, doch etwas salziges Wasser befindet.
Der Zug durchschreitet hierauf die Oase des Atek, eines nicht unbedeutenden Zuflusses des Caspisees. Hier sieht man überall grüne und dichte Bäume. Die Oase macht ihrem Namen Ehre, und würde die Sahara nicht verunzieren.
Sie erstreckt sich bis zur Station Duchak, d.i. bis zur sechshundertsechsten Werst, wo wir um sechs Uhr Morgens ankommen.
Zwei Stunden Aufenthalt sind gleich zwei Stunden Spaziergang. Ich bin unterwegs, um Duchak in Gesellschaft des Majors Noltitz, der mir wiederum als Führer dient, flüchtig zu besichtigen.
Ein Reisender hat den Bahnhof schon vor uns verlassen; ich erkenne Sir Francis Trevetiyan. Der Major macht mich aufmerksam, daß das Gesicht dieses Herrn noch verdrießlicher aussieht, daß seine Lippen einen noch verächtlicheren Ausdruck zeigen und seine Haltung mehr als je echt angelsächsisch ist.
»Und wissen Sie, warum, Herr Bombarnae? setzt er hinzu. Weil von hier, der Station Duchak, aus bis an den Endpunkt der Eisenbahnen Englisch-Indiens eine Linie, die die Grenze von Afghanistan, Kandahar, die Bergpässe von Bolan und die Oase von Pendjech durchzöge, hinreichen würde, beide Netze in Verbindung zu setzen.
– Und diese Linie würde messen? ...
– Kaum tausend Kilometer; die Engländer versteifen sich aber darauf, den Russen in keiner Weise die Hand zu bieten. Und welcher Vortheil wäre es für[86] ihren Handelsverkehr, binnen zwölf Tagen von London nach Calcutta gelangen zu können.«
So lustwandeln wir plaudernd durch Duchak dahin. Schon seit einer Reihe von Jahren sah man die Wichtigkeit voraus, die diese bescheidene Ortschaft erlangen würde Eine Zweiglinie verbindet sie mit Teheran in Persien, während nach den indischen Eisenbahnen hin noch keine solche geplant ist. So lange Leute von dem Schlage jenes Sir Francis Trevellyan im Vereinigten Königreiche die Majorität haben wird das asiatische Netz auch niemals völlig ausgebaut werden.
Ich stelle nun dem Major die Frage, wie es sich auf der Groß-Transasiatischen Bahn auf der Strecke durch Centralasien mit der wünschenswerthen Sicherheit verhält.
»In Turkestan, antwortet er mir, ist die Sicherheit vollständig gewährleistet. Hier überwachen russische Beamte unausgesetzt die Bahn; in der Nähe der Bahnhöfe befindet sich stets verläßliche Polizei, und da die Stationen nahe bei einander liegen, glaube ich nicht, daß die Reisenden hier irgend etwas zu fürchten haben. Die turkmenische Bevölkerung hat sich übrigens den oft harten Anforderungen der russischen Verwaltung fügen gelernt. Seit der Zeit, wo die Transcaspische Bahn betrieben wird, ist noch kein Zug durch einen Ueberfall aufgehalten worden.
– Das ist ja recht befriedigend, Herr Major. Was aber nun den weiteren Theil zwischen der Grenze und Peking angeht ...
– O, da liegt die Sache freilich anders, antwortet der Major Noltitz. Auf der Hochebene von Pamir und bis nach Kaschgar wird die Strecke scharf überwacht; darüber hinaus aber steht die Groß-Transasiatische Bahn unter der Aufsicht der chinesischen Verwaltung, zu der ich nur sehr beschränktes Vertrauen habe.
– Sind die Stationen dort weit entfernt von einander? ...
– Zuweilen sehr weit.
– Und treten dann an Stelle russischer nicht chinesische Beamte? ...
– Ja, nur mit Ausnahme unseres Popof, der den Zug bis zum Endpunkt begleitet.
– Dann werden wir also als Schaffner, Locomotivführer und Heizer lauter Söhne des Himmlischen Reiches haben? ... Ich muß gestehen, Herr Major, daß mich das etwas beunruhigt, und die Sicherheit der Reisenden ...[87]
– Sie irren, Herr Bombarnae, die Chinesen sind nicht minder zuverlässige Beamte als die unseren, und sie geben vortreffliche Maschinenführer ab Dasselbe gilt bezüglich der Ingenieure, die die Bahn durch das Himmlische Reich mit großer Geschicklichkeit hergestellt haben. Unzweifelhaft ist es eine intelligente Menschenrasse, diese gelbe Rasse, und für industrielle Fortschritte zugänglich.
– Ich glaub' es, Herr Major, da sie ja doch dereinst die Beherrscherin der Welt werden wird ... Natürlich erst nach der slavischen.[88]
– Was die Zukunft im Schooße birgt, weiß ich nicht, erwidert der Major lächelnd. Doch um auf die Chinesen zurückzukommen, so muß ich bekennen, daß sie ein lebhaftes Fassungsvermögen and eine erstaunliche Leichtigkeit besitzen, sich in etwas einzuleben. Ich habe sie bei der Arbeit beobachtet und spreche aus Erfahrung.
– Zugegeben; wenn aber von dieser Seite nichts Besonderes zu fürchten ist, so durchstreifen doch wohl zahlreiche Verbrecher die weiten Wüsten der Mongolei und des westlichen China? ...
– Und Sie glauben, daß diese Burschen frech genug sein könnten, einen Bahnzug zu überfallen?
– Gewiß, Herr Major; und das beruhigt mich einigermaßen.
– Wie? ... Das beruhigt Sie? ...
– Natürlich, denn mir liegt vorzüglich daran, daß sich bei unserer Fahrt ein kleines Unglück ereignet.
– Wahrhaftig, mein Herr Reporter, ich bewundere Sie! ... Sie brauchen Unglücksfälle, aufregende Ereignisse ...
– Ganz wie der Arzt Kranke braucht. Möge sich also bald ein hübsches, interessantes Abenteuer ereignen ....
– O, Herr Bombarnae, ich fürchte, daß Sie hierin nicht völlig enttäuscht werden, wenn es, wie ich gehört habe, wahr ist, daß die Gesellschaft mit gewissen Bandenführern in Unterhandlung getreten ist ....
– Wie die berüchtigte hellenische Verwaltung mit Hadji Stavros in About's Roman? ...
– Ganz richtig, und wer weiß, ob etwa auf seinen Vorschlag ...
– Freilich, freilich, das möcht' ich im Voraus glauben ....
– Warum auch nicht, antwortet der Major Noltitz Es wäre in der That sehr fin de siècle, dieses Mittel, die Sicherheit der Züge auf ihrer Fahrt durch das Himmlische Reich zu gewährleisten. Uebrigens giebt es noch einen berüchtigten Wegelagerer, der sich seine Unabhängigkeit, seine Handelsfreiheit zu erhalten strebt, das ist ein gewisser Ki-Tsang ...
– Was ist dieser Chinese?
– Ein kühner Räuberhauptmann, halb chinesischen, halb mongolischen Ursprungs. Nachdem er lange Zeit Yunnan gebrandschatzt, wo ihm schließlich der Boden unter den Füßen zu heiß wurde, ist er nach den Nordprovinzen übergesiedelt. Man hat auch seine Anwesenheit in den Gegenden[91] der Mongolei gemeldet, welche die Groß-Transasiatische Bahn durchschneidet ....
– Hallo! Da haben wir ja einen Lieferanten für Zeitungsberichte, wie man sich nur einen wünschen kann!
– Herr Bombarnae, die Zeitungsberichte, die Sie jenem Ki-Tsang zu verdanken hätten, würden ziemlich theuer werden.
– Bah, Herr Major, das ›XX. Jahrhundert‹ ist reich genug, seinen Ruhm zu bezahlen ....
– Mit seinem Gelde, ja; wir Andern könnten sie aber mit dem Leben bezahlen müssen! Zum Glück hat uns kein Mitreisender in dieser Weise sprechen hören, denn sonst würde man gewiß Ihre Entfernung aus dem Zuge verlangen. Also Vorsicht, und lassen Sie ja nichts von Ihren Reporterwünschen, so weit sie sich auf Abenteuer beziehen, vor Andern laut werden. Jedenfalls wollen wir mit jenem Ki-Tsang nichts zu schaffen haben, das ist sicherlich besser für die Reisenden ....
– Nicht aber für die Reise, Herr Major.«
Wir kehren nun nach dem Bahnhof zurück. Der Aufenthalt in Duchak soll noch eine halbe Stunde währen. Beim Auf- und Abgehen längs des Perrons beobachte ich einen Vorgang, der die Zusammenstellung unseres Zuges verändert.
Von Teheran ist auf der Zweiglinie über Meschhed, die die persische Hauptstadt mit der Transasiatischen Bahn verbindet, noch ein weiterer Packwagen eingetroffen.
Diesen wohlverschlossenen und plombierten Wagen begleitet eine Schaar von sechs bewaffneten Personen, deren Aufgabe es zu sein scheint, den Wagen nie aus den Augen zu verlieren.
Ich weiß nicht, ob es in meiner zufälligen Geistesverfassung liegt, doch es ist mir, als ob jener Packwagen etwas Besonderes, Geheimnißvolles an sich hätte, und nachdem mich der Major verlassen hat, wende ich mich an Popof, der den betreffenden Vorgang überwacht.
»Wohin geht dieser dritte Packwagen, Popos.
– Nach Peking, Herr Bombarnae.
– Und was befördert er?
– Was er befördert? ... Eine große Persönlichkeit.
– Wie? Eine Person von hohem Range?
– Das setzt Sie in Erstaunen?[92]
– Natürlich ... in einem solchen Güterwagen ...
– Ja, wenn er's nicht anders will.
– Nun, Popof, Sie werden mich aufmerksam machen, wenn die große Persönlichkeit aussteigt.
– Die wird gar nicht aussteigen.
– Warum nicht?
– Weil sie todt ist.
– Todt?
– Ja, es ist nur die Leiche des Mannes, die wir nach Peking schaffen, wo man ihr ein Begräbniß mit allen Ehrenbezeugungen gewähren wird«
Na, da haben wir ja nun eine wichtige Persönlichkeit in unserem Zuge ... aber nur als Leichnam. Thut nichts! Ich empfehle Popof, sich nach dem Namen des Verstorbenen zu erkundigen. Das muß ein Mandarin von hohem Rang sein. Sobald ich etwas Näheres erfahre, geht ein Telegramm an das »XX. Jahrhundert« ab.
Während ich den Packwagen betrachte, starrt ihn ein neuangekommener Reisender mit derselben Neugier wie ich an.
Dieser Reisende ist ein Mann von stolzem Aussehen, etwa vierzig Jahre alt, und trägt mit Eleganz das Costüm der reichen Mongolen. Er ist von hohem Wuchs, hat etwas finsteren Blick, einen wohlgepflegten Schnurrbart à la Scholl – ach, möcht' er auch dessen Geist besitzen ! – sehr blaßgelben Teint und Augenlider, die sich fast niemals bewegen.
»Da, sag' ich für mich, ein prächtiges Musterexemplar! Ich weiß nicht, ob er der Vertreter der ersten Rolle, den ich noch suche, werden wird, auf jeden Fall geb' ich ihm doch in meiner würdigen Gesellschaft die Nummer 12.«
Dieser Inhaber der noch freien ersten Rolle ist, wie ich von Popof erfuhr, der Seigneur Farusklar. Er ist von einem Mongolen niederen Ranges und gleichen Alters begleitet, der sich Ghangir nennt. Beide sehen auf den Packwagen, der am Ende des Zuges, doch vor dem letzten Güterwagen, angekoppelt wird. Sobald dieses Einrangieren beendet ist, nehmen die Perser in dem nächstvorderen Wagen zweiter Classe Platz, damit der kostbare Körper immer unter ihrer Ueberwachung bleibt.
Da hört man auf dem Perron des Bahnhofs lautes Schreien.
Diese Töne kenne ich; die kommen vom Baron Weißschnitzerdörser her, der einmal über's anderemal ruft: »Aufhalten! ... Fangt ihn auf!«[93]
Diesmal handelt es sich nicht um einen abgehenden Bahnzug, sondern nur um einen durchgegangenen Hut. Einige heftige Windstöße, die sich unter der Decke der Einsteigehalle verfangen haben – und diese steht allen Winden offen – haben den helmartigen bläulichen Hut des Barons rücksichtslos entführt. Er rollt über den Perron hin, über die Schienen, streift die Weichen und das Mauerwerk, und sein Eigenthümer rennt, daß ihm der Athem ausgeht, ohne den Flüchtling einholen zu können.
Angesichts dieser tollen Hetzjagd halten sich Herr und Frau Caterna krampfhaft die Seiten, der junge Chinese Pan-Chao will vor Lachen platzen, nur der Doctor Tio-King bewahrt seine unerschütterliche Ruhe.
Scharlachroth, athemlos, keuchend hält der Deutsche an. Mehrmals versucht er die Hand auf seine Kopfbedeckung zu legen – immer entwischt sie ihm, und dabei fällt er selbst noch der Länge nach hin, während die Schöße seines langen Rockes über seinem Kopfe zusammenschlagen, was Herrn Caterna die bekannte Melodie der Miß Helyett zu trällern veranlaßt:
Wie herrlich dies zu seh-e-en,
Was doch so schnell gescheh-e-en!
Ich kenne nichts Boshafteres und Lustigeres als einen Hut, der vom Winde entführt wird, der hin und her rollt, hüpft, springt, auf der Erde hinstreicht und gerade dann wieder davonfliegt, wenn man ihn schon in der Hand zu haben meint. Wenn mir das widerführe, würde ich Allen gern verzeihen, die über mich lachten.
Der Baron ist aber nicht in der Laune zu verzeihen. Er springt hierhin, er springt dorthin, er wagt sich auf das Gleis. »Achtung! In Acht nehmen!« rufen ihm Mehrere zu, denn der von Merv kommende Zug läuft eben in den Bahnhof ein. Das war des Hutes Tod: die Locomotive zermalmt ihn ohne Mitleid, und der Reisehelm ist nichts mehr als ein trauriger Fetzen, den man dem Baron zurückbringt. Natürlich regnet es nun wieder Vorwürfe und Drohungen gegen die Groß-Transasiatische Bahngesellschaft.
Das Abfahrtssignal ertönt und alte und neue Passagiere beeilen sich, Plätze zu suchen oder die ihrigen wieder einzunehmen. Unter den neuen bemerke ich drei Mongolen von verdächtigem Aussehen, die einen Wagen zweiter Classe besteigen.
Eben als ich den Fuß auf die Plattform setze, höre ich den jungen Chinesen zu seinem Begleiter sagen:[94]
»Ach, Doctor Tio-King, haben Sie jenen Deutschen mit seinem drolligen Hute gesehen? ... Nein, was ich gelacht habe!«
Wie correct spricht Pan-Chao französisch .... Was sag' ich, mehr als französisch, das ist ja parisisch! ... Das legt mir den Gedanken nahe, nun auch ihn anzusprechen!
Buchempfehlung
Die neunzehnjährige Else erfährt in den Ferien auf dem Rückweg vom Tennisplatz vom Konkurs ihres Vaters und wird von ihrer Mutter gebeten, eine große Summe Geld von einem Geschäftsfreund des Vaters zu leihen. Dieser verlangt als Gegenleistung Ungeheuerliches. Else treibt in einem inneren Monolog einer Verzweiflungstat entgegen.
54 Seiten, 4.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro