[347] Das war der erste Ausbruch des abscheulichen Complots, das von dem Kapitän Sarol im Verein mit seiner auf Standard-Island so gastfreundlich aufgenommenen Mannschaft geschmiedet worden war, und dem sich nun die auf Samoa eingeschifften Neu-Hebridier und Eingeborne von Erromango und andern Inseln anschlossen. Welchen Ausgang der plötzliche rohe Ueberfall nehmen würde, ließ sich unter den vorliegenden Verhältnissen nicht mit Gewißheit voraussagen.
Die Gruppe der Neuen Hebriden zählt nicht weniger als hundertfünfzig Inseln, die unter der Schutzherrschaft Englands ein geographisches Zubehör Australiens bilden. Hier wie auf den weiter nordwestlich gelegnen Salomons-Inseln ist die Frage des Protectorats der Zankapfel zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland. Auch die Vereinigten Staaten sehen nicht wohlwollenden Auges auf die Errichtung europäischer Colonien inmitten eines Oceans, über den sie sich gern selbst die Oberhoheit anmaßen möchten. Durch Hissung seiner Flagge auf den verschiednen Inselgruppen sacht Großbritannien sich eine Flottenstation zu schaffen, die ihm im Falle der Losreißung Australiens von der Foreign-Office unentbehrlich sein würde.
Die Bevölkerung der Neuen Hebriden besteht aus Negern und Malayen kanakischer Abstammung. Charakter, Temperament und Sitten der Eingebornen weichen aber stark von einander ab, je nachdem sie den nördlichen oder südlichen Inseln zugehören – wonach man den Archipel in der That in zwei Gruppen theilen kann.[347]
Auf der nördlichen Gruppe, auf der Insel Santo, an der Saint-Philippe's Bay ist der Typus ein höherer, die Hautfarbe weniger dunkel und das Haar minder krauswollig. Die untersetzten und kräftigen, dabei aber sanften und friedliebenden Männer haben sich nie eines Ueberfalls von Ansiedlern oder europäischen Schiffen schuldig gemacht. Dasselbe gilt für die Insel Vate oder Sandwich (nicht zu verwechseln mit Hawaii, dem Archipel der Sandwich-Inseln), auf der sich mehrere blühende Ortschaften befinden, darunter Port-Vila, die Hauptstadt der Gruppe, die auch den Namen Franceville führt, wo französische Ansiedler den ertragreichen Boden ausbeuten, die üppigen Weiden, die culturfähigen Felder und die zu Anpflanzungen von Kaffeebäumen, Bananen und Cocospalmen geeigneten Landstrecken bewirthschaften und sich der einträglichen Industrie der »Koprahmakers« widmen. Es ist die Industrie zur bessern Verwerthung der Cocosnüsse, die, nachdem sie gespalten und an der Sonne oder durch Feuer getrocknet sind, die unter dem Namen »Koprah« ausgeführte Masse liefern, welche jetzt bei der Seifenbereitung so vielfache Verwendung findet. Auf dieser Gruppe haben sich die Sitten der Eingebornen seit dem Erscheinen der Europäer vollständig verändert, und jene haben moralisch und intellectuell eine höhere Stufe erklommen. Dank der Bemühungen der Missionäre, kommen die greulichen, früher so häufigen Scenen von Cannibalismus gar nicht mehr vor. Leider ist die kanakische Rasse im Aussterben begriffen, und es liegt auf der Hand, daß sie schließlich ganz verschwinden wird... zum Schaden der nördlichen Gruppe, auf der die europäische Civilisation so erfreulichen Eingang gefunden hatte.
Dieses Bedauern wäre aber bezüglich der südlichen Theile des Archipels sehr unangebracht. Der Kapitän Sarol hat auch nicht ohne Grund die südliche Gruppe zur Ausführung seines verbrecherischen Anschlags gegen Standard-Island ausgewählt. Hier, auf Tanna wie auf Erromango, stehen die Eingebornen, leibhaftige Papuas, auf niedrigster Stufe der Menschheit. Vor allem für Erromango trifft das zu, was ein alter Leichterschiffer zum Doctor Hayno gesagt hat: »Wenn diese Insel sprechen könnte, würde sie Dinge erzählen, die Einem die Haare auf dem Kopfe zu Berge stehen ließen!«
In der That hat sich die Rasse dieser Kanaken niedrigeren Ursprungs nicht mit polynesischem Blute, wie auf den nördlichen Inseln, verbessert. Auf Erromango haben die anglikanischen Missionäre, von denen seit 1839 fünf grausam ermordet wurden, unter einer Bevölkerung von zweitausendfünfhundert Seelen kaum die Hälfte zu bekehren vermocht. Die übrigen sind Heiden geblieben.[348]
Ob übrigens bekehrt oder nicht, haben sie ihre frühere Wildheit in keiner Weise abgelegt und verdienen den schlechten Ruf, in dem sie stehen, obgleich sie an Wuchs kleiner und schwächlicherer Constitution sind, als die Eingebornen der Insel Santo und Sandwich. Alle Reisenden, die es unternehmen, die südlichen Inseln zu durchstreifen, müssen deshalb immer sehr auf ihrer Hut sein.
Zum Beweise hier einige Beispiele:
Vor nun fünfzig Jahren wurde die Brigg »Aurora« räuberisch überfallen, wofür Frankreich die Eingebornen mit aller Strenge bestrafte. – 1869 wurde der Missionär Gordon durch Keulenschläge getödtet. – 1875 erlag die ganze Besatzung eines englischen Schiffes einem verrätherischen Ueberfalle und wurde von den Cannibalen verzehrt. – 1884 fanden im benachbarten Archipel der Luisiaden, auf der Insel Rossel, ein französischer Händler nebst seinen Arbeitern und ein chinesischer Kapitän mit seiner Besatzung durch die Menschenfresser einen elenden Untergang. – Schließlich mußte der englische Kreuzer »Royalist« einen wirklichen Feldzug unternehmen, um die wilden Stämme für die Abschlachtung einer großen Menge von Europäern zu züchtigen. Als man das alles Pinchinat, der erst unlängst den Keulen der Fidschi-Insulaner entgangen war, mitheilte, unterließ er es freilich, mit den Achseln zu zucken.
Das sind die Völkerschaften, unter denen der Kapitän Sarol seine Helfershelfer erwählt hatte, unter der Zusage der Plünderung des Juwels des Stillen Oceans, dessen Bewohner alle niedergemacht werden sollten. Die Wilden, die auf das Eintreffen Standard-Islands lauerten, waren sowohl aus Erromango, als auch von den nur durch schmale Wasserstraßen davon getrennten Nachbarinseln, vorzüglich von dem fünfunddreißig (See-) Meilen weiter im Süden gelegnen Tanna herbeigeströmt. Diese Insel hat die kraftstrotzenden Urbewohner des Bezirks Wanissi, die wilden Verehrer des Gottes Teapolo, entsendet, die fast ganz unbekleidet gehen, ebenso wie die Eingebornen der Plage-Noire von Sangalli, die als die schlimmsten Gesellen des Archipels gelten.
Ist die nördliche Gruppe aber auch weniger verwildert, so darf man daraus nicht schließen, daß sie dem Kapitän Sarol gar keine Hilfskräfte gesendet hätte. Im Norden der Insel Sandwich liegt z. B. die Insel Api, mit achtzehntausend Bewohnern, wo man die Gefangnen noch heute verzehrt und dabei deren Rumpf den jungen Leuten, die Arme und die Schenkel den erwachsnen Frauen zutheilt, und die Eingeweide den Hunden und den Schweinen hinwirft. Die wilden Stämme einer andern, der Insel Paama, stehen in der Rohheit ihrer[349] Bewohner den Eingebornen von Api keineswegs nach. Hier giebt es ferner die Insel Mallicolo mit menschenfressenden Kanaken; endlich die Insel Aurora, die allerverrufenste des Archipels, auf der sich kein Weißer ansiedelt und wo noch vor wenigen Jahren die ganze Mannschaft eines französischen Schiffes hingemordet wurde. Von diesen verschiednen Inseln hat sich der Kapitän Sarol seine Spießgesellen geholt.
Binnen wenigen Minuten stürmen drei- bis viertausend Wilde über in der Wasserlinie liegende Felsblöcke hervor.
Die Gefahr ist sehr ernst, denn die auf die Stadt der Milliardeser gehetzten Neu-Hebridier scheuen gewiß vor keinem Gewaltact, vor keiner Missethat zurück. Sie haben den Vortheil des überraschenden Angriffs für sich und sind nicht allein mit langen Zagaien mit Knochenspitzen, die sehr gefährliche Wunden verursachen, und mit Pfeilen, die sie mit einem scharfen Pflanzengifte zu bestreichen pflegen, sondern auch mit Snydergewehren ausgerüstet, die im ganzen Archipel weite Verbreitung gefunden haben.
Vom Beginn des von langer Hand vorbereiteten Kampfes an – denn der Kapitän Sarol befindet sich an der Spitze der Angreifer – mußten die Milizen, die Seeleute, die Beamten und alle irgend kampffähigen Männer zur Abwehr aufgerufen werden.
Cyrus Bikerstaff, der Commodore Simcoë, wie der Colonel Stewart haben die gewohnte Ruhe bewahrt. Der König von Malecarlien stellt sich sofort zur Verfügung, und fehlt ihm auch die Kraft der Jugend, so gebricht es ihm doch nicht an Muth. Noch sind die Eingebornen an der Seite des Backbordhafens ziemlich fern, und hier bemüht sich der dienstthuende Officier, den ersten Widerstand zu organisieren. Unzweifelhaft werden sich die Banden aber auch bald auf die Stadt selbst stürzen.
Zunächst wird Befehl ertheilt, die Thore von Milliard-City zu schließen, worin ja fast die ganze Bevölkerung wegen der Hochzeitsfeierlichkeiten schon versammelt ist. Daß Park und Feld verwüstet werden, muß man ruhig geschehen lassen; freilich liegt auch die Befürchtung nahe, daß die beiden Häfen und die Elektricitätswerke der Zerstörung verfallen; ebenso ist die Demolierung der Rammsvorn- und der Achterbatterie nicht zu verhindern. Das schlimmste Unglück wäre es aber, wenn die Artillerie von Standard-Island gar gegen die Stadt verwendet würde, denn es ist ja nicht ausgeschlossen, daß die Malayen sich auf die Geschützbedienung verstehen...[350]
Vor allem werden auf den Rath des Königs von Malecarlieu die meisten Frauen und Kinder im Stadthause in Sicherheit gebracht.
Das geräumige Bauwerk liegt, wie die ganze Insel, in tiefer Finsterniß; die elektrischen Maschinen fungieren nicht mehr, da die Mechaniker vor den Angreifern hatten flüchten müssen.
Inzwischen sind durch den Commodore Simcoë an die Milizen und die Seeleute Waffen, die im Stadthause aufbewahrt lagen, vertheilt worden, und an Munition ist auch kein Mangel. Nachdem er Miß Dy der Obhut der Mrs. Tankerdon und der Mrs. Coverley übergeben hat, schließt sich Walter dem kleinen Trupp an, dem Tankerdon, Nat Coverley, Calistus Munbar und die vier Franzosen angehören.
»Nun, hatte ich nicht Recht, daß die Geschichte in dieser Weise endigen würde? knurrt der Violoncellist.
– Sie endigt ja noch gar nicht! widerspricht ihm der Oberintendant. Nein, sie endigt noch nicht! Einer solchen Handvoll Kanaken wird unser Standard-Island niemals erliegen!«
Schön gesagt, Calistus Munbar! Man begreift wohl, daß der Ingrimm Dich verzehrt bei dem Gedanken, daß diese Schurken von Neu-Hebridiern ein so herrlich ausgedachtes Fest unterbrochen haben. Hoffentlich gelingt es, sie zurückzutreiben. Leider sind sie aber nicht nur an Zahl überlegen, sondern haben auch noch den Vortheil der Offensive.
Inzwischen prasselt das Gewehrfeuer, jetzt von beiden Häfen her, weiter. Der Kapitän Sarol hat die Bewegung der Propeller aufzuhalten gewußt, damit Standard-Island sich von Erromango, seiner Operationsbasis, nicht entfernen könne.
Der Gouverneur, der König von Malecarlieu, der Commodore Simcoë und der Colonel Stewart, die zu einem Vertheidigungscomité zusammengetreten sind, haben zuerst daran gedacht, einen Ausfall zu wagen; doch nein, damit wären nur so und so viele Vertheidiger geopfert worden, die man so nöthig brauchte. Von den wilden Eingebornen ist ebensowenig Gnade zu erhoffen, wie von den Raubthieren, die vor kaum vierzehn Tagen Standard-Island überfielen. Uebrigens könnten jene versuchen, die Propeller-Insel auf den Felsen von Erromango zum Stranden zu bringen, um sie dann der Plünderung preiszugeben.
Eine Stunde später sind die Angreifer bis zu den Gitterthoren von Milliard-City vorgedrungen. Sie versuchen sie zu sprengen. Vergeblich. Sie wollten darüber hinwegklettern, da pfeifen ihnen die Kugeln entgegen.[351]
Da die Stadt nicht auf den ersten Anlauf überrumpelt werden konnte, macht es nun Schwierigkeiten, die eiserne Umzäunung bei der tiefen Finsterniß zu stürmen. Der Kapitän Sarol führt die Eingebornen auch schon nach dem Parke und den Feldern zurück, um hier den Tag abzuwarten.
Zwischen vier und fünf Uhr leuchtete der erste bleiche Schein am östlichen Horizonte auf. Die vom Commodore Simcoë und Colonel Stewart angeführten Milizen und Seeleute, von denen die Hälfte am Stadthause zurückbleibt, begeben sich nach dem Square des Observatoriums in der Meinung, daß der Kapitän Sarol versuchen könnte, die Gitterthore von dieser Seite her zu stürmen. Da auf Hilfe von außen nicht zu rechnen ist, gilt es vor allem, das Eindringen der Wilden in die Stadt zu verhindern.
Das Quartett schließt sich der Mannschaft an, die von ihren Officieren nach dem Ausgange der Ersten Avenue geleitet wird.
»Den Cannibalen der Fidschi-Inseln entgangen zu sein, ruft Pinchinat, und hier die eignen Coteletten gegen die Cannibalen der Neuen Hebriden vertheidigen zu müssen, das ist wahrlich reizend!
– Nun, zum Teufel, sie werden uns nicht so schnell mit Stumpf und Stiel aufessen, antwortet Frascolin.
– Ich wehre mich wenigstens, wie der Held Labiche's, so lange noch ein Stück von mir übrig ist!« setzt Yvernes hinzu.
Nur Sebastian Zorn verhält sich schweigend. Man weiß ja, was er von diesem Abenteuer denkt, obwohl ihn das nicht hindern wird, seine Pflicht zu thun.
Mit dem ersten Tageslichte werden durch das Gitter des Squares schon Schüsse gewechselt. Innerhalb des Bereichs des Observatoriums kommt es zur muthigsten Vertheidigung. Auf beiden Seiten kostet es Opfer. Von den Milliardesern wird schon Tankerdon an der Schulter, jedoch nur so leicht verwundet, daß er seinen Posten nicht verlassen will. Nat Coverley und Walter kämpfen in den ersten Reihen. Der König von Malecarlien, der den Kugeln der Snydergewehre trotzt, nimmt den Kapitän Sarol aufs Korn, der sich in der Mitte der Eingebornen keiner Gefahr scheut.
Der Angreifer sind nur gar zu viele! Alles, was Erromango, Tanna und die Nachbarinseln an Combattanten aufzubringen vermochten, ist gegen Milliard-City ausgezogen. Ein glücklicher Umstand, der dem Commodore Simcoë nicht entging, war es wenigstens, daß Standard-Island nicht näher nach Erromango, sondern von einer leichten Strömung weiter nach der nördlichen Gruppe getragenwurde, obgleich es besser gewesen wäre, wenn man hätte die offne See gewinnen können.
Inzwischen verstreicht die Zeit; die Eingebornen verdoppeln ihre Anstrengungen, und endlich ist es trotz tapfersten Widerstandes nicht mehr möglich, sie aufzuhalten. Gegen zehn Uhr werden die Thore gesprengt. Vor der heulenden Rotte, die auf den Square eindringt. muß sich der Commodore Simcoë kämpfend nach dem Stadthause zurückziehen, wo er sich, wie in einer Festung, zu vertheidigen gedenkt.
Die Milizen und die Seeleute weichen nur Schritt für Schritt vom Platze. Jetzt, wo die Eingebornen die Umzäunung der Stadt durchbrochen haben, zerstreuen sie sich, von Plünderungslust getrieben, vielleicht in die verschiednen Quartiere, und die Milliardeser könnten einige Vortheile über sie erringen...
Vergebliche Hoffnung! Der Kapitän Sarol hält die Eingebornen alle in der Ersten Avenue zusammen. um das Stadthaus vereinigt anzugreifen. Hat er sich dieses Gebäudes bemeistert, so ist der Sieg vollkommen, und dann hat auch die Stunde der Plünderung geschlagen.
»Wahrlich, es sind ihrer doch zu viele!« wiederholt Frascolin, dem eine Zagaie den Arm gestreift hat.
Immerfort regnet es Pfeile und Kugeln, während der Rückzug weiter von Statten geht.
Gegen zwei Uhr sind die Vertheidiger schon bis zum Square des Stadthauses gedrängt. Todte hat es auf beiden Seiten gegen fünfzig gegeben, Verwundete zwei- oder dreimal so viele. Ehe das Stadthaus von den Wilden gestürmt wird, flüchteten alle hinein. Die Thüren desselben werden geschlossen und die Frauen und Kinder in den unterirdischen Gelassen untergebracht, wo sie wenigstens vorläufig geschützt sind. Cyrus Bikerstaff, der König von Malecarlien, der Commodore Simcoë, Colonel Stewart, Jem Tankerdon, Nat Coverley, ihre Freunde, die Milizen und die Seeleute eilen an die Fenster und eröffnen von hier aus aufs neue das Feuer.
»Hier müssen wir aushalten, sagt der Gouverneur. Es ist unsre letzte Zuflucht, und Gott möge ein Wunder thun, um uns zu retten!«
Der Angriff unter Kapitän Sarol läßt nicht auf sich warten. Der Malaye rechnet trotz aller Schwierigkeiten auf seinen endlichen Sieg. Die Thore und Thüren sind sehr fest, und es scheint kaum möglich, sie ohne die Hilfe von Geschützen zu zerstören. Die Eingebornen donnern mit Aexten daran, unbekümmert um das[355] Gewehrfeuer aus den Fenstern, durch das sie starke Verluste erleiden. Dadurch läßt sich ihr Anführer aber nicht abschrecken, und doch, wenn dieser fiele, würde sein Tod dem Kampfe eine andre Wendung geben.
So vergehen zwei Stunden, das Stadthaus leistet noch immer Widerstand. Wenn die Kugeln auch die Angreifer decimieren, so füllen doch andre die Lücken wieder aus. Vergebens versuchen die besten Schützen, Jem Tankerdon und der Colonel Stewart, den Kapitän Sarol vor die Flinte zu bekommen. Während viele seiner Leute rundum getroffen werden, scheint er unverwundbar zu sein.
Während der ruchlose Räuber im dichtesten Kugelregen verschont bleibt, wird Cyrus Bikerstaff auf dem Mittelbalkon des Stadthauses von einer Kugel ins Herz getroffen. Er stürzt zusammen, kann nur noch wenige kaum vernehmbare Worte flüstern, und das Blut rinnt ihm aus der Wunde. In das Innre des Hauses getragen, haucht er bald seinen letzten Seufzer aus. So endete der, der der erste Gouverneur von Standard-Island, ein höchst gewandter Beamter und ein edelmüthiges, großes Herz gewesen war.
Der Ansturm dauert mit unverminderter Wuth fort. Die Thüren drohen den Axtschlägen der Wilden nachzugeben, und niemand wußte Rath, wie die Eroberung dieses letzten festen Punktes von Standard-Island zu verhindern sei, wie die Frauen, die Kinder und alle übrigen, die sich darin befinden, vor einer elenden Hinschlachtung gerettet werden könnten.
Der König von Malecarlien, Ethel Simcoë und der Colonel Stewart erörtern schon die Frage der Flucht durch die Hintergebäude des Stadthauses. Doch wo sollte man dann Schutz suchen? Bei der Achterbatterie?... Wird man diese erreichen können?... In einem der Häfen?... Diese sind ja schon von den Eingebornen besetzt... Und sollte man die schon zahlreichen Verwundeten ihrem Schicksal überlassen?
Da fällt ein glücklicher Schuß, der der Gesammtlage plötzlich eine andre Wendung giebt.
Der König von Malecarlien ist, ohne auf die Kugeln und Pfeile um ihn her zu achten, auf den Balkon hinausgetreten. Er legt die Büchse an, zielt auf den Kapitän Sarol, gerade als einige Feinde schon durch eine gesprengte Thür eindringen wollen.... Der Kapitän Sarol stürzt getroffen zur Erde.
Durch den Tod ihres Anführers erschreckt, weichen die Malayen, den Gefallnen mitschleppend, zurück und von Furcht getrieben fliehen die meisten nach dem Gitterthore des Square zu.[356]
Fast gleichzeitig entsteht ein neues Lärmen weit oben in der Ersten Avenue, wo ein plötzliches Gewehrfeuer beginnt.
Was mag da vorgehen?... Hatten die Vertheidiger der Häfen und der Batterie wieder die Oberhand gewonnen? Marschieren sie auf die Stadt zu? Wollen sie trotz ihrer kleinen Zahl dem Feind in den Rücken fallen?
»Von der Seite des Observatoriums her wird das Feuer wieder lebhafter, sagt der Colonel Stewart.
– Da werden die Schurken eine Verstärkung erhalten haben, meint der Commodore Simcoë.
– Das denk' ich nicht, bemerkt der König von Malecarlien, denn was sollte dann das Gewehrfeuer bedeuten?...
– Ja, ja, dort geht etwas neues vor, ruft Pinchinat, und etwas neues zu unserm Vortheil....
– Seht... seht, sagt Calistus Munbar, die Spitzbuben geben alle Fersengeld...
– Vorwärts, meine Herrn, ruft der König von Malecarlien, jagen wir die Mordbande aus der Stadt! Vorwärts!«
Officiere, Milizen, Seeleute und alle übrigen eilen wieder hinunter, und zur großen Thür hinaus...
Der Square ist leer, die Wilden fliehen kopfüber, die einen die Erste Avenue hinunter, die andern durch die Nachbarstraßen.
Die Ursache der schnellen und unerwarteten Veränderung der Lage war nicht sofort zu durchschauen, wenn auch der Tod des Kapitän Sarol und damit der Mangel jeder Führung dazu beigetragen haben mochte. Immerhin konnte man kaum annehmen, daß die an Zahl weit überlegnen Angreifer durch den Tod ihres Anführers so entmuthigt worden wären, vorzüglich in dem Augenblicke, wo sie das Stadthaus gleich in ihrer Gewalt haben mußten.
Vom Commodore Simcoë und dem Colonel Stewart mit fortgerissen, stürmte man, etwa zweihundert Mann Seeleute und Milizen und mit ihnen Jem und Walter Tankerdon, Nat Coverley, Frascolin und seine Kameraden, die Erste Avenue hinab und trieb die Fliehenden vor sich her, die sich nicht einmal mehr umkehren, um ihnen eine Kugel oder einen Pfeil entgegenzusenden, sondern Gewehre, Bogen und Zagaien einfach wegwerfen.
»Vorwärts! Drauf und dran!« ruft der Commodore Simcoë mit weitschallender Stimme.[357]
Inzwischen verdoppelt sich das Gewehrfeuer in der Nähe des Observatoriums. Offenbar ist hier ein hitziger Kampf entbrannt.
Hat Standard-Island Hilfe erhalten?... Doch welche Hilfe... und woher kam sie?
Wie dem auch sein mochte, jedenfalls flohen die Feinde, von unbeschreiblichem Schrecken ergriffen, nach allen Richtungen. Es sieht aus, als wären sie vom Backbordhafen her angegriffen worden.
Ja... Gegen eintausend Neu-Hebridier sind unter Führung französischer Ansiedler von der Insel Sandwich nach Standard-Island geeilt.
Was Wunder, daß das Quartett, als es mit den tapfern Landsleuten zusammentraf, sich in der Muttersprache angeredet sah.
Diese unerwartete, man möchte fast sagen, wunderbare Unterstützung war unter folgenden Verhältnissen zu Stande gekommen:
Während der vorhergehenden Nacht und seit Tagesanbruch war Standard-Island immer mehr nach der Insel Sandwich getrieben worden, wo, wie erwähnt, eine französische Colonie angesiedelt war. Sobald die Colonisten nun Wind von dem Ueberfall durch den Kapitän Sarol bekamen, beschlossen sie, mit tausend unter ihrem Einfluß stehenden Eingebornen der Propeller-Insel zu Hilfe zu kommen. Zu ihrer Ueberführung erwiesen sich freilich die Boote auf der Insel Sandwich als nicht zureichend...
Da kann man sich wohl die Freude der Ansiedler vorstellen, als Standard-Island, von der Strömung getrieben, am Morgen bis zur Höhe der Insel Sandwich kam. Sofort warfen sich alle, und die Eingebornen nach ihnen, in einfache Fischerboote – viele schwammen gleich nach der bedrängten Insel – und liefen im Backbordhafen ein.
In kürzester Zeit konnten sich die Mannschaften der Rammsporn- und der Achterbatterie, sowie die wenigen, die sich in den Häfen noch gehalten hatten, mit ihnen vereinigen. Durch Feld und Park stürmten sie auf Milliard City zu, und Dank diesem kühnen Angriff fiel das Stadthaus nicht in die Hand der Wilden, die durch den Tod ihres Anführers schon in Verwirrung gerathen waren.
Zwei Stunden später suchten die von allen Seiten verfolgten Neu-Hebridier ihr Heil nur noch darin, daß sie sich ins Meer stürzten, um nach der Insel Sandwich zu gelangen, wobei noch viele von den Kugeln der Miliz ereilt wurden.
Jetzt hat Standard-Island nichts mehr zu fürchten: es ist gerettet vor der Plünderung, dem Gemetzel und der Vernichtung.[358]
Man hätte doch erwarten sollen, daß der Ausgang dieser entsetzlichen Geschichte Anlaß zu öffentlichen Ausdrücken der Freude, zu wohlthätigen Handlungen geben müßte... Nein, diese Amerikaner sind nur sich selbst ähnlich! Es sah aus, als ob der endliche Aus gang sie gar nicht in Erstaunen setzte... als hätten sie den vorausgesehen. Und doch, es hing eigentlich nur an einem Haar, daß der Ueberfall des Kapitän Sarol zu einer entsetzlichen Katastrophe führte.
Jedenfalls darf man aber glauben, daß die Haupteigenthümer Standard-Islands sich wenigstens heimlich beglückwünschten, einen Werth von zwei Milliarden gerettet zu haben, und das in einem Augenblick, wo die Verehelichung Walter Tankerdon's und der Miß Dy Coverley die Zukunft dieses Besitzthums noch mehr sichern sollte.
Beim ersten Wiedersehen der beiden Verlobten fielen sie sich ohne Scheu in die Arme. Uebrigens erkannte darin niemand einen Verstoß gegen die gute Sitte Eigentlich hätten sie ja seit vierundzwanzig Stunden schon Mann und Frau sein sollen.
Wo man aber kein Beispiel ultra-amerikanischer Zurückhaltung suchen durfte, das war bei dem Empfang, den die Pariser Künstler den Colonisten von der Insel Sandwich bereiteten. Da gab es einmal Händedrücke! Und welche Glückwünsche wurden dem Quartett von seinen Landsleuten zu Theil. Haben die Kugeln sie auch verschont, so hatten sie doch nicht minder tapfer ihre Pflicht gethan, die beiden Violinen, die Bratsche und das Violoncell! Der vortreffliche Athanase Dorémus war freilich im Saale des Casinos zurückgeblieben, weil er einen Schüler erwartete, der sich nun einmal darauf versteift, niemals zu erscheinen. Doch wer hätte das Männchen deshalb tadeln sollen?
Eine Ausnahme von dem allgemeinen Verhalten macht nur der Oberintendant. Ein so Ultra-Yankee er auch ist, kennt sein Jubel doch keine Grenzen. Was Wunder? In seinen Adern fließt ja das Blut des berühmten Barnum, und man wird es erklärlich finden, daß der Abkömmling eines solchen Vorfahren nicht so sui compos ist, wie seine Mitbürger von Nordamerika.
Nach Beendigung des Kampfes hat sich der König von Malecarlieu in Begleitung der Königin wieder nach seiner Wohnung in der Siebenunddreißigsten Avenue begeben, wo ihm der Rath der Notabeln den Dank darbringen wird, den sein Muth und seine Hingebung für das Allgemeine gewiß verdienen.
Standard-Island ist also heil und gesund. Seine Rettung kam ihm freilich theuer zu stehen... wurde doch Cyrus Bikerstaff zur Zeit des hitzigsten Gefechts[359] getödtet, etwa sechzig Milizen und Seeleute von Kugeln und Pfeilen getroffen, und daneben fast noch ebenso viele von den Beamten, den Arbeitern und den Händlern, die sich alle mit Todesmuth geschlagen haben. Die ganze Einwohnerschaft nimmt an der Trauer darum Antheil und auf dem Juwel des Stillen Oceans wird die Erinnerung an diese Tage niemals er löschen.
Mit der ihnen eignen Schnelligkeit gehen die Milliardeser daran, alles wieder in Stand zu setzen. Nach Verlauf weniger Tage, die an der Insel Sandwich zugebracht werden, ist jede Spur von dem blutigen Kampf verschwunden.
[360] Die Frage der militärischen Gewalt, die in der Hand des Commodore Simcoë bleibt, macht keine Schwierigkeit und wird von keiner Seite bestritten. Weder Jem Tankerdon noch Nat Coverley erheben einen diesbezüglichen Anspruch. Später soll eine allgemeine Wahl auch die Angelegenheit wegen eines neuen Gouverneurs für Standard-Island regeln.
Am nächsten Tage ruft eine ergreifende Feierlichkeit die ganze Einwohnerschaft nach dem Quai des Steuerbordhafens. Die Leichen der Malayen und Eingebornen werden einfach ins Meer geworfen, dasselbe darf aber mit denen,[361] die für die Vertheidigung Standard-Islands gefallen sind, natürlich nicht geschehen. Ihre sorgsam aufgehobnen Körper werden nach dem Tempel oder nach der Kathedrale geschafft, wo ihnen die letzten Ehren erwiesen werden. Für den Gouverneur Bikerstaff wie für die Niedrigsten sprechen Alle gleiche Gebete und geben einem gleichen Schmerze Ausdruck.
Dann wird die traurige Ladung einem der schnellsten Dampfer von Standard-Island anvertraut, und dieser geht nach der Madeleinebay ab, um die kostbaren Ueberreste der Beerdigung in christlicher Erde zuzuführen.
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