Neunundzwanzigstes Capitel.
Verschiedene Vermuthungen. – Was war zu beginnen? – Ein Kanonenschuß. – Die Haifischinsel. – Eine Recognoscirung bis zum Strande. – Ein verlassenes Canot. – Einschiffung. – »Schießt nicht!«

[414] Es war jetzt halb drei Uhr Nachmittag. Der Mangobaum hatte ein so dichtes Blattwerk, daß es die fast senkrechten Sonnenstrahlen nicht zu durchdringen vermochten. Fritz und die anderen liefen also keine Gefahr, in der hochgelegenen Wohnstätte von Falkenhorst, die den an der Insel gelandeten Wilden jedenfalls noch unbekannt war, so leicht aufgespürt zu werden.

Fünf halbnackte Männer mit schwarzer Haut, gleich den Eingeborenen des westlichen Australiens, schritten, mit Pfeil und Bogen bewaffnet, die Allee daher. Daß sie gesehen worden wären, und daß das Gelobte Land jetzt auch noch andere Insassen berge, als die Bewohner Felsenheims, konnten sie natürlich gar nicht ahnen. Doch was war aus dem älteren Zermatt und den Seinigen geworden? Hatten sie sich noch flüchten können, oder waren sie in einem ungleichen Kampfe umgekommen?

Es ließ sich doch, wie John Block bemerkte, kaum annehmen, daß sich die Zahl der auf der Insel eingedrungenen Eingeborenen auf dieses halbe Dutzend Männer beschränkte. Bei einer solchen Minderheit hätten sie den älteren Zermatt, dessen beide Söhne und Herrn Wolston, selbst bei einer Ueberrumpelung, wohl nicht überwältigen können. Jedenfalls war es eine ganze Bande auf einer Flottille von Piroguen, die die Neue Schweiz überfallen hatte. Die Flottille lag jetzt vermuthlich in der kleinen Bucht mit der Schaluppe und der Pinasse. Von der Höhe von Falkenhorst aus war das freilich nicht zu sehen, da die Spitze der Rettungsbucht nach dieser Seite hin die Aussicht beschränkte.

Doch wo befanden sich die Familien Zermatt und Wolston? Ließ sich aus dem Umstande, daß man sie weder in Falkenhorst noch in dessen Umgebung getroffen hatte, der Schluß ziehen, daß sie als Gefangene in Felsenheim wären, daß sie weder Zeit noch Gelegenheit gefunden hätten, nach einer der anderen Meiereien zu flüchten... oder daß sie gar niedergemetzelt wären?

Damit hätte sich freilich alles erklärt: die Verwüstung in Falkenhorst, die Verlassenheit in dem Theile des Gelobten Landes zwischen dem Canal des[414] Schwanensees und dem Küstenlande. Fritz, Franz und Jenny waren von dem schwersten Unglück betroffen, das ihnen je begegnen konnte; selbst James, seine Frau und seine Schwester fühlten das mit ihnen. Wie hätte man jetzt eine. wenn auch noch so schwache Hoffnung bewahren können? Und während Harry Gould und der Obersteuermann die Eingeborenen nicht aus den Augen verloren, ließen jene ihren Thränen, ihrer Verzweiflung freien Lauf.

Dennoch blieb noch eine weitere Vermuthung übrig: die beiden Familien hatten sich vielleicht nach Westen zu irgendwohin auf der Insel, etwa nach jenseit der Perlenbai, retten können. Denn hatten sie die Piroguen schon aus der Ferne über die Rettungsbucht herankommen sehen, so konnten sie wohl auch Zeit gefunden haben, im Wagen zu entfliehen und Mundvorräthe nebst Waffen mitzunehmen... Und doch wagte hier niemand an diese Möglichkeit zu glauben.

Harry Gould und John Block beobachteten unausgesetzt die Annäherung der Wilden.

Wollten diese nochmals in den Hof und dann in die schon geplünderte Wohnung eindringen? War da nicht zu befürchten, daß sie schließlich auch die Thüre zur Treppe entdeckten? In diesem Falle würde man sich, da es nur fünf bis sechs waren, ihrer wohl ohne große Anstrengung erwehren können. Wenn sie auf der Plattform immer nur einzeln – und anders war es nicht möglich – auftauchten, würden sie einer nach dem anderen gepackt und über das Geländer vierzig bis fünfzig Faß tief hinabgestürzt werden.

Und hatten sie, wie der Obersteuermann erklärte, dann noch Beine, um darauf nach Felsenheim zu laufen, so mußten die Burschen mehr dem Katzenals dem Affengeschlechte angehören.


Fritz und die anderen liefen keine Gefahr, aufgespürt zu werden. (S. 414.)
Fritz und die anderen liefen keine Gefahr, aufgespürt zu werden. (S. 414.)

Als die fünf Männer das Ende der Allee erreicht hatten, blieben sie stehen Jetzt entging Fritz, Harry Gould und John Block keine ihrer Bewegungen mehr. Was hatten sie in Falkenhorst vor?... War die Wohnung in der Höhe ihren Blicken bisher entgangen, so konnten sie sie doch, und auch die, die sich daselbst aufhielten, jetzt vielleicht entdecken. Dann kamen sie wahrscheinlich in größerer Zahl hierher zurück, und einem Angriffe von hundert Eingeborenen Widerstand zu leisten...

Nach Ueberschreitung des offenen Vorplatzes gingen die Wilden zunächst auf die Palissade zu und um diese herum. Drei davon traten in den Hof ein und gingen in einen der Schuppen zur Linken, woraus sie gleich darauf mit einigen Fischereigeräthen, die hier aufbewahrt waren, wieder hervorkamen.[415]

»Sie geniren sich ganz und gar nicht, diese Spitzbuben! murmelte der Obersteuermann. Sie fragen hier nicht einmal um Erlaubniß...

– Ob sie wohl ein Boot am Ufer haben und längs der Küste fischen wollen? sagte Harry Gould.

– Das werden wir sehr bald erfahren, Herr Kapitän,« antwortete John Block.

Die drei Männer schlossen sich ihren Genossen wieder an und gingen mit diesen, einem kleinen, mit dichten Dornenhecken eingefaßten Pfad an der rechtenSeite des Falkenhorster Rio folgend, nach dem Meere hinunter. Man verlor sie nur einen Augenblick aus dem Gesichte, als sie den Einschnitt erreichten, durch den der Bach bis zu seiner Mündung in der Flamingobucht verlief.


Er hatte einen aufblitzenden Feuerschein beobachtet. (S. 423.)
Er hatte einen aufblitzenden Feuerschein beobachtet. (S. 423.)

Da sie sich von hier aus aber nach links wendeten, blieben sie verschwunden und konnten erst wieder gesehen werden, wenn sie weiter draußen auf dem Wasser erschienen. Daß sich ein Boot am Ufer befände, war sehr wahrscheinlich, wahrscheinlich auch, daß sie sich dessen gewöhnlich zum Fischfange in der Nähe von Falkenhorst bedienten.

Während Harry Gould und John Block ihre Beobachtungen fortsetzten und Doll und Suzan noch schluchzend und weinend dasaßen, sagte Jenny, ihren Schmerz niederkämpfend, zu Fritz:

»Was ist nun zu beginnen, mein Lieber?«

Fritz sah nur seine Gattin an; er war offenbar um eine Antwort verlegen.

»Was jetzt zu beginnen ist. fiel der Kapitän Gould ein, darüber müssen wir baldigst schlüssig werden. Zunächst ist es nutzlos, länger hier auf dem Balcon zu bleiben, wo wir Gefahr laufen, entdeckt zu werden.«

Als alle sich ins Zimmer zurückgezogen hatten, neben dem der von dem langen Wege ermüdete kleine Bob in einer Kammer schlummerte. begann Fritz als Antwort auf die Frage, die seine Gattin an ihn gerichtet hatte:

»Meine liebste Jenny nein... noch ist nicht alle Hoffnung aufzugeben, daß wir unsere Angehörigen und Freunde wiederfinden. Es ist ja möglich, recht gut möglich, daß sie sich nicht haben überraschen lassen. Mein Vater und Herr Wolston werden die Piroguen schon von weitem gesehen haben. Wahrscheinlich haben sie dann Zeit genug gehabt, sich nach einer der Meiereien, selbst in die Wälder hinter der Perlenbucht zurückzuziehen, wohin sich die Wilden kaum wagen dürften. Auf unserem Wege von der Einsiedelei bis über den Canal haben wir nirgends Spuren von ihrem Vorüberkommen gefunden. Meine Ueberzeugung geht dahin, daß sich die Eindringlinge vom Küstenlande nicht weit entfernt haben.

– Das glaub' ich auch, setzte Harry Gould hinzu, und meiner Ansicht nach werden die Herren Zermatt und Wolston mit ihren Angehörigen geflohen sein.

– Ja ja, so ist es sicherlich! rief Jenny. Meine beste Doll und Sie, Suzan, verzweifelt nur nicht, weint nicht mehr! Ihr werdet Eueren Vater, Euere Mutter ebenso wiedersehen, wie wir, Fritz, die Deinigen und, James, auch die Ihrigen!«[419]

Die junge Frau sprach sich so vertrauensvoll aus, daß bei ihren Worten in allen die Hoffnung wieder erwachte und Fritz, ihre Hand ergreifend, sagte:

»Durch Deinen Mund, meine Herzensjenny, hat der allgütige Gott gesprochen!«

Bei reiflicher Ueberlegung mußte man wohl auch, wie der Kapitän Gould betonte, zu der Anschauung kommen, daß an einen unerwarteten Ueberfall Felsenheims durch die Eingeborenen nicht recht zu glauben sei, da die Piroguen an dieser unbekannten Küste während der Nacht nicht hatten landen können. Jedenfalls mußten sie bei Tageslicht, von Osten oder Westen, in die Rettungsbucht eingefahren sein. Bei der Gestaltung dieses Meeresarmes zwischen dem Cap im Osten und dem der Getäuschten Hoffnung war es dann aber ausgeschlossen, daß der ältere Zermatt, Herr Wolston, Ernst oder Jack sie nicht schon weit draußen bemerkt und nicht Zeit gehabt hätten, nach einem anderen Theile der Insel zu flüchten.

»Und wenn die Landung dieser Eingeborenen, meinte Fritz, erst ganz neuerdings erfolgte, so weilten unsere Familien vielleicht gar nicht in Felsenheim. Jetzt ist ja gerade die Zeit, wo sie die Meiereien zu besuchen pflegten. Haben wir sie vergangene Nacht auch nicht in der Einsiedelei von Eberfurt angetroffen, so können sie doch recht wohl in Waldegg, auf dein Prospect-Hill oder in Zuckertop inmitten des dichten Waldes sein.

– So wollen wir uns erst nach Zuckertop begeben, schlug Franz vor.

– Das können wir thun, antwortete John Block, doch nicht vor der Nacht.

– Doch... sofort... augenblicklich! drängte Franz, der keinen Einwand gelten lassen wollte. Ich kann ja allein dahin gehen. Zweiundeinehalbe Lieue für den Hin- und ebensoviel für den Rückweg... da kann ich in drei Stunden wieder hier sein, und wir wissen dann bestimmt, woran wir sind.

– Nein, Franz, nein! sagte Fritz. Ich verlange, daß Du Dich nicht von uns trennst, das wäre unklug, und als der ältere von uns beiden befehle ich es Dir sogar!

– Fritz... Du wolltest mich abhalten...

– Ja, Dich abhalten, eine Unvorsichtigkeit zu begehen.

– Franz, Franz, ließ sich Doll mit bittendem Tone vernehmen, hören Sie auf Ihren Bruder!... Franz... ich bitte Sie darum!«

Franz hatte sich jenen Gedanken einmal in den Kopf gesetzt und er schickte sich an, hinunter zu gehen.[420]

»Na, er mag seinen Willen haben, meldete sich da der Obersteuermann der jetzt vermitteln zu sollen glaubte. Da einmal Erkundigungen eingezogen werden müssen, so mag es auch noch am Tage geschehen. Ich frage mich dann aber nur, warum wir nicht gleich alle nach Zuckertop aufbrechen sollten.

– Kommt mit! sagte Franz.

– Und doch, fuhr der Obersteuermann, an Fritz gewendet fort, ist es denn richtig, wenn wir gerade nach Zuckertop gehen?

– Wohin denn sonst? fragte Franz.

– Nun... gleich nach Felsenheim!« antwortete John Block.

Dieser so unversehens in das Gespräch geworfene Name gab diesem sofort eine andere Wendung. Nach Felsenheim?...

Freilich, wenn die Herren Zermatt und Wolston, ihre Frauen und Kinder, den Eingeborenen in die Hände gefallen und sie trotzdem am Leben geblieben waren, so mußten sie sich dort befinden, da der Rauch anzeigte, daß Felsenheim bewohnt war. Dort sollten sie die Rückkehr ihres Fritz und Franz, ihrer Jenny und Doll, und die Ankunft James Wolston's und Suzans erfahren.

»Nach Felsenheim gehen... ganz gut, bemerkte jetzt der Kapitän Gould, doch alle zusammen?...

– Alle?... Nein, entschied Fritz, nur zwei oder drei, und erst nach Einbruch der Nacht.

– Der Nacht? wiederholte Franz, der mehr als je an seinem Vorhaben festhielt. Ich gehe nach Felsenheim!

– Und glaubst Du, so lange es hell ist, den Wilden, die hier in der Nähe hausen, entgehen zu können? erwiderte Fritz. Und wenn Dir das gelänge, wie kämst Du nach Felsenheim hinein, wenn diese es jetzt in ihrer Gewalt haben?

– Ja, das weiß ich selbst nicht, Fritz, doch eines werde ich doch erreichen: zu erfahren, ob unsere Angehörigen dort sind... dann lauf' ich zurück.

– Mein lieber Franz, sagte da der Kapitän Gould, ich begreife Ihre Ungeduld und, wahrhaftig, ich theile sie auch. Und doch, fügen Sie sich unserem Rathe, der von der Klugheit eingegeben ist. Wenn jene Wilden aufmerksam würden und Sie absingen, wenn sie sich aufmachten, um uns zu erspähen, dann wären wir weder in Waldegg, noch sonstwo länger in Sicherheit.«

In der That wäre die Lage der Dinge damit aufs höchste gefährdet worden, und wohin sich Fritz und die anderen dann auch verbargen, die Eingeborenen würden sie schließlich doch aufgespürt haben.[421]

Fritz gelang es endlich, seinem Bruder Vernunft beizubringen, und Franz mußte sich der Autorität dessen beugen, der jetzt vielleicht schon das Haupt der Familie war.

Es sollte also der Eintritt der Dunkelheit abgewartet werden, und dann wollten Franz und der Obersteuermann Falkenhorst verlassen. Jedenfalls war es rathsamer, diese Auskundschaftung, die immerhin noch Gefahren genug bot, zu Zweien vorzunehmen. Längs der die Allee säumenden Hecke hinunterschleichend, sollten beide versuchen, nach dem Schakalbache zu gelangen. War dann die Brücke nach dem anderen Ufer gedreht, so wollten sie durch den Bach schwimmen und durch den Obstgarten in die Umfriedigung von Felsenheim einzudringen versuchen. Von da aus konnten sie durch eines der Fenster sich leicht überzeugen, ob die Ihrigen darin eingesperrt wären. War das nicht der Fall, so wollten Franz und John Block unverzüglich nach Falkenhorst zurückkehren, und dann konnte man sich noch entscheiden, Zuckertop vor Tagesanbruch zu erreichen.

Jetzt hieß es also: warten, doch wie langsam schlichen die Stunden dahin! Noch nie hatten sich der Kapitän Gould und alle anderen so niedergeschlagen gefühlt, selbst damals nicht, als die Schaluppe auf unbekanntem Meere ausgesetzt worden war, auch nicht, als ihr Fahrzeug an den Klippen der Schildkrötenbucht zerschellte und als die Schiffbrüchigen, und darunter drei Frauen und ein Kind, sich bedroht sahen, auf jener öden Küste, in einem Gefängniß, aus dem sie nicht entweichen konnten, unter den schwierigsten Umständen überwintern zu müssen.

Doch bei jenen schweren Prüfungen hatten sie wenigstens noch den Trost gehabt, ohne Angst um die zu sein, die in der Neuen Schweiz waren. Jetzt aber, wo sie hierher gekommen waren, fanden sie die Insel in der Gewalt einer Rotte von Eingeborenen und wußten nicht, was aus ihren Eltern, ihren Freunden geworden war, ja sie mußten eher befürchten, daß diese bei einem Gemetzel umgekommen seien.

Inzwischen verlief der Tag weiter. Von Zeit zu Zeit erklomm der eine oder der andere, meist Fritz oder der Obersteuermann, die höheren Aeste des Mangobaumes, um das Land und das Meer zu überblicken. Sie wollten sich vorzüglich darüber unterrichten, ob die Wilden noch in der Umgebung von Falkenhorst umherschwärmten oder ob sie wieder den Weg nach Felsenheim eingeschlagen hätten. Da war nichts zu sehen, außer draußen im Süden, nach der Mündung des Schakalbaches zu, die kleine Rauchsäule, die über der Felswand schwebte.[422]

Bis Nachmittag vier Uhr hatte sich die Sachlage in keiner Hinsicht verändert, und nun wurde aus den Vorräthen der Wohnstätte eine Mahlzeit bereitet.

Nach Franzens und John Block's Rückkehr konnte es ja nöthig werden, sogleich nach Zuckertop aufzubrechen, und bis dahin war es ein weiter Weg.

Da ertönte plötzlich ein dumpfes Krachen.

»Was war denn das? fragte Jenny, die Fritz zurückhielt, da er sah, daß sie sich nach einem der Fenster begeben wollte.

– Sollte es ein Kanonenschuß gewesen sein? antwortete Franz.

– Hurrah... ein Kanonenschuß! rief der Obersteuermann.

– Wer könnte ihn aber abgefeuert haben? sagte Fritz.

– Etwa ein Schiff, das in Sicht der Insel liegt? fragte James.

– Vielleicht gar die »Licorne«! rief Jenny.

– Dann müßte diese der Insel sehr nahe sein, bemerkte John Block, denn von sehr weit her kam jener Schuß nicht.

– Auf die Plattform!... Hinaus! Hinaus! drängte Franz, der schon nach dem Balcon eilte.

– Vorsicht, damit wir nicht bemerkt werden, denn die Bande muß jetzt aufmerksam und mißtrauisch sein!« empfahl der Kapitän Gould.

Alle Blicke richteten sich dem Meere zu.

Hier war aber kein Schiff zu entdecken, das, nach der Nähe jenes Schusses zu urtheilen, hätte in der Nähe der Walfischinsel liegen müssen. Auf der Wasserfläche bemerkte der Obersteuermann nur ein von zwei Wilden besetztes Canot, das eiligst das Ufer bei Falkenhorst zu gewinnen sachte.

»Wenn das Ernst und Jack wären! flüsterte Jenny.

– Nein, nein, antwortete Fritz, jene zwei Männer sind Eingeborene und das Canot ist eine Pirogue.

– Doch warum scheinen sie zu entfliehen? fragte Franz. Sollten sie von anderen verfolgt werden?«

Da stieß Fritz einen Schrei aus... einen Schrei der Freude und der Ueberraschung. Er hatte einen aufblitzenden Feuerschein zwischen einer weißen Rauchwolke beobachtet, und gleich darauf schallte eine zweite Detonation herüber, die das Echo am Ufer mehrfach wiedergab.

Gleichzeitig zischte ein Geschoß nahe über dem Wasser daher und warf zwei Faden von dem Boote, das so schnell wie möglich nach Falkenhorst zu flüchtete. eine schäumende Wassergarbe in die Höhe.[423]

»Dort... dort! rief Fritz. Mein Vater, Herr Wolston, alle die Unsrigen sind da drüben!

– Auf der Haifischinsel? fragte Jenny.

– Ja, auf der Haifischinsel!«

In der That war der erste Kanonendonner ebenso von diesem Eiland ausgegangen, wie der zweite mit dem nach der Pirogue geschleuderten Geschosse. Ohne allen Zweifel hatten der ältere Zermatt, Herr Wolston und ihre Familien sich in den Schutzbereich der dortigen Batterie zurückziehen können, an die die Wilden sich nicht heranwagten. Darüber flatterte die weiß und rothe Fahne der Neuen Schweiz, während die britische Flagge auf dem höchsten Gipfel der Insel wehte.

Nichts vermöchte die Freude – ja mehr als Freude – den hellen Jubel zu schildern, dem sich Fritz, Franz, Jenny, Doll, James und Suzan jetzt überließen. Da ihre Angehörigen hatten nach der Haifischinsel gelangen können, brauchten diese nun weder in Zuckertop, noch in einer anderen Meierei des Gelobten Landes gesucht zu werden.

Ihre Empfindungen wurden selbstverständlich von dem Kapitän Gould und dem Obersteuermann getheilt, die ja mit den ehemaligen Passagieren der »Flag« eine so innige Freundschaft vereinte.

Jetzt war keine Rede mehr davon, nach Felsenheim zu gehen; sie wollten Falkenhorst nur verlassen, um sich – wie, das wußte noch niemand – nach der Haifischinsel zu begeben. Ach, wenn es jetzt möglich gewesen wäre, vom Gipfel des Mangobaumes Zeichen zu geben, etwa eine Flagge aufzupflanzen, um der von der Batterie zu antworten!

Klug wäre das freilich ebensowenig gewesen, wie etwa mit der Pistole Schüsse abzugeben, die, so gut wie der ältere Zermatt sie vernahm, doch auch von den Wilden gehört werden mußten, wenn ein Theil von diesen noch in der Umgebung von Falkenhorst hauste.

Das wichtigste blieb es doch immer, daß die Anwesenheit des Kapitän Gould und der übrigen von den Burschen nicht entdeckt wurde, denn einem Angriffe von diesen, woran sich voraussichtlich die ganze Rotte betheiligte, die sich doch schon Felsenheims bemächtigt hatte, wären die fünf Männer auf dem Baum nicht gewachsen gewesen.

»Unsere Lage ist jetzt ziemlich gut, bemerkte Fritz, also unterlassen wir alles, was sie zum Schlimmen wenden könnte.[424]

– Gewiß, bestätigte Harry Gould, da wir bisher noch nicht bemerkt wurden, wollen wir nichts unternehmen, was dazu führen könnte. Ehe wir etwas thun, muß unbedingt die Nacht abgewartet werden.

– Wie soll es aber möglich sein nach der Haifischinsel zu kommen? fragte Jenny.

– O, sehr einfach: schwimmend, erklärte Fritz. Ich verpflichte mich, hinüber zu schwimmen, und da mein Vater sich hat mit der Schaluppe flüchten können, bringe ich dann das Fahrzeug hierher, um Euch alle abzuholen.


 »Schießt nicht!... Schießt nicht!...« (S. 429.)
»Schießt nicht!... Schießt nicht!...« (S. 429.)

– Fritz... bester Fritz, konnte sich Jenny zu erwidern nicht enthalten, durch diesen Meeresarm zu schwimmen...

– Ist nur ein Spiel für mich, liebe Frau, nur ein[425] Spiel! versicherte der kühne, junge Mann.

– Ganz gut und schön, wendete John Block ein, doch wer weiß, vielleicht liegt gar das Canot jener Spitzbuben jetzt am Strande.«

Der Abend kam endlich heran. Gegen sieben Uhr war es schon dunkel, da die Nacht in diesen Breiten dem Tage fast ohne Dämmerung folgt.

Gegen acht Uhr war die Zeit zur Entscheidung gekommen, und Fritz, Franz und der Obersteuermann sollten nach dem Hofe hinabsteigen, um sich zunächst zu versichern, daß keine Eingeborenen mehr in der Nähe wären. In diesem Falle sollten sie sich bis zur Küste hinunterschleichen. Der Kapitän Gould, James Wolston, Jenny, Doll und Suzan wollten unten am Baume warten, bis ein Signal sie riefe, sich auch ans Ufer zu wagen.

Die drei genannten tasteten sich die Treppe hinunter, denn sie wollten kein Licht anzünden, das sie ja hätte verrathen können.

In der unteren Wohnung befand sich niemand, auch nicht in den Schuppen des Hofes. So galt es denn auszukundschaften, ob die am Morgen hierher gekommenen Männer den Weg nach Felsenheim wieder eingeschlagen hätten oder ob sie sich noch am Ufer befänden, an dem sie mit der Pirogue doch wohl gelandet waren.

Die bisher beobachtete Vorsicht durfte natürlich vor allem nicht außer acht gelassen werden. Deshalb beschlossen Fritz und John Block, zunächst allein nach dem Ufer vorzudringen, während Franz gleichsam als Beobachtungsposten am Hofeingange warten und sogleich wieder hinausgehen sollte, wenn Falkenhorst irgendwie bedroht erschiene.

Fritz und der Obersteuermann traten also durch die Palissade hinaus und eilten über den freien Platz, auf dem die Allee von Felsenheim mündete. Darauf glitten sie etwa zweihundert Schritte weit von Baum zu Baum hin, lauschten und spähten ringsumher und gelangten glücklich an die enge Felsenspalte, in der sich die Wellen brachen.

Der Strand war verlassen, wie das Meer bis hinaus zu dem Cap, dessen Profil im Osten kaum noch zu erkennen war. Ein Lichtschein zeigte sich weder in der Richtung nach Felsenheim, noch auf der ganzen Rettungsbucht. Nur ein Gehölz war etwa dreiviertel Lieues vor ihnen undeutlich zu sehen.[426]

Das war die Haifischinsel.

»Nun denn, vorwärts! sagte Fritz.

– Vorwärts!« wiederholte John Block.

Beide schritten dem sandigen Ufergebiete zu, das jetzt bei sinkender Ebbe ein Stück hinaus wasserfrei dalag.

Wie freudig hätten sie da aufgejauchzt, wenn sie nicht ihrer selbst Herr geblieben wären! Hier fand sich ein Canot. das auf die Seite gesunken war.

Jene Pirogue war es, die die Batterie mit zwei Kanonenschüssen begrüßt hatte.

»Ein wahres Glück, daß die Kugeln sie gefehlt haben, rief John Block, sonst läge sie jetzt wohl auf dem Grunde. Wenn es der Herr Jack oder Herr Ernst gewesen ist, der sich als so schlechter Schütze erwiesen hat, werden wir dem betreffenden unsere dankbare Anerkennung nicht vorenthalten.«

Das kleine, mittels Pagaien zu bewegende Fahrzeug von australischer Bauart konnte eigentlich nur fünf bis sechs Personen aufnehmen. Der Kapitän Gould und seine Gefährten waren aber ihrer acht – ohne das Kind – die nach der Haifischinsel übergeführt werden sollten. Das Eiland lag freilich nur dreiviertel Lieues von hier entfernt.

»Nun denn, so heißt es: sich zusammenpferchen, sagte John Block, zwei Fahrten dürfen nicht gemacht werden.

– Ueberdies, setzte Fritz hinzu, tritt in einer Stunde schon die Fluth wieder ein, und da sie sich nach der Rettungsbucht hin bewegt, ohne sich zu weit von der Haifischinsel zu entfernen, wird es uns nicht zu viele Anstrengung kosten, diese zu erreichen.

– Alles gestaltet sich zum besten, antwortete der Obersteuermann, nun wird gar bald die Lösung da sein!«

Das Fahrzeug ins Meer zu schieben, machte sich nicht nöthig, bei der steigenden Fluth mußte es sich ja allein aufrichten und flott werden. John Block überzeugte sich nur noch, daß es fest genug angebunden war, so daß es nicht vorzeitig hinweggeführt werden könnte.

Beide kehrten nun wieder um, schritten auf die Allee zu und kamen zu Franz, der sie im Hofe erwartete.

Mit großer Freude hörte dieser, was die beiden Kundschafter zu berichten hatten. Da jetzt aber noch bis zum Eintritte der Fluth gewartet werden mußte, verließ Fritz seinen Bruder und den Obersteuermann mit dem Auftrage, die[427] Umgebung des Hofes noch weiter zu überwachen. Mit welcher Befriedigung die Nachrichten, die er den oben harrenden brachte, aufgenommen wurden, kann man sich wohl leicht genug vorstellen.

Gegen neuneinhalb Uhr waren alle am Fuße des Baumes versammelt.

Franz und John Block hatten nichts verdächtiges bemerken können. In den Umgebungen von Falkenhorst herrschte tiefe Stille, denn man hätte, da auch nicht der schwächste Wind wehte, schon das leiseste Geräusch wahrnehmen müssen.

Nach Ueberschreitung des Hofes und des freien Platzes davor, schlichen sich alle, Fritz, Franz und Harry Gould voran, unter den Bäumen der Allee hin und erreichten unbehelligt das Ufer.

Dieses war noch ebenso verlassen, wie zwei Stunden vorher.

Schon hatte die Fluth das Boot, das nun an seiner Leine schaukelte, aufgerichtet. Es galt nur noch einzusteigen, es loszubinden und dann in die Strömung zu treiben.

Sofort nahmen Jenny, Doll, Suzan und das Kind im Hintertheile der Pirogue Platz. Die anderen drängten sich auf den Bänken zusammen und Fritz und Franz ergriffen die Pagaien.

Es war jetzt gegen zehn Uhr, und bei der mondlosen Nacht zu erwarten, daß die Ueberfahrt unbemerkt verlaufen werde. Trotz der tiefen Finsterniß, konnte es natürlich nicht schwer fallen, nach der Insel zu steuern.

Sobald die Pirogue in die Strömung gekommen war, wurde sie schon nach der richtigen Seite hingezogen.

Alle verhielten sich still. Kein Wort wurde, nicht einmal flüsternd, gewechselt. Alle standen unter dem Drucke einer außerordentlichen Erregung. Daß die Familien Zermatt und Wolston sich auf dem Eilande befanden, unterlag ja keinem Zweifel; doch wenn nun einer gefangen genommen worden oder bei seiner Vertheidigung gar umgekommen war...

Auf den Fluthstrom allein war nun nicht zu rechnen, um geraden Weges nach der Haifischinsel zu gelangen. Eine halbe Lieue von deren Ufer wendete dieser sich nach der Mündung des Schakalbaches zu und verlief von hier nach dem Hintergrunde der Rettungsbucht.

Fritz und Franz ruderten also mit allen Kräften auf das dunkle Gehölz zu, aus dem kein Laut, kein Lichtschimmer hervordrang.

Jedenfalls befand sich aber der ältere Zermatt oder Herr Wolston, Jack oder Ernst auf Wache bei der Batterie, und wenn die Pirogue von da aus[428] bemerkt wurde, lief sie Gefahr, eine Kugel zu bekommen, denn der oder die Wachthabenden mußten annehmen, es handle sich um einen Versuch der Wilden, die Insel unter dem Schutze der Nacht zu überfallen.

Wirklich flammte, als das Fahrzeug nur noch fünf bis sechs Kabellängen vom Ufer entfernt war, ein Licht an der Stelle auf, wo sich die Batterie unter ihrem Schutzdache befand. Wurde damit ein Zünder in Brand gesetzt und sollte die Luft wieder durch den Donner eines Geschützes erschüttert werden?

Da sprang der Bootsmann, überzeugt, sich vernehmbar machen zu können, in die Höhe und rief mit Stentorstimme:

»Schießt nicht!... Schießt nicht!...

– Es kommen Freunde! setzte der Kapitän Harry Gould hinzu.

– Wir sind es... wir... wir!« wiederholten Fritz und Franz.

Und als sie den Fuß auf die ersten Felsen setzten, empfingen der Vater Zermatt, Herr Wolston, Ernst und Jack die Langersehnten in ihren Armen.

Quelle:
Jules Verne: Das zweite Vaterland. Bekannte und unbekannte Welten. Abenteuerliche Reisen von Julius Verne, Band LXXVII–LXXVIII, Wien, Pest, Leipzig 1901, S. 414-417,419-429.
Lizenz:

Buchempfehlung

Lewald, Fanny

Jenny

Jenny

1843 gelingt Fanny Lewald mit einem der ersten Frauenromane in deutscher Sprache der literarische Durchbruch. Die autobiografisch inspirierte Titelfigur Jenny Meier entscheidet sich im Spannungsfeld zwischen Liebe und religiöser Orthodoxie zunächst gegen die Liebe, um später tragisch eines besseren belehrt zu werden.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon