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[403] Nein, es konnte sich hier nur um eines der falschen Gerüchte handeln, die ihren Ursprung haben, niemand weiß wo, und sich verbreiten, niemand weiß wie, mit denen sich aber die öffentliche Meinung bald nach Gebühr abzufinden pflegt.
Wär' es denn glaublich, daß die Gebrüder Kip, denen sich eine so unerwartete Gelegenheit zur Flucht nach Amerika geboten hatte, nach Tasmanien zurückkehren sollten?... Sie, die Mörder des Kapitäns Gibson... sie wären selbst wieder ins Netz gelaufen?... Oder war etwa das Schiff, mit dem sie von San Francisco abgefahren waren, nur durch besondere Umstände genötigt worden, die Reede von Hobart-Town anzulaufen? Hier erkannt, angezeigt und verhaftet, wären sie dann also ins Gefängnis abgeführt worden, um später wieder in die Strafanstalt eingeliefert zu werden, wo man schon jeden zweiten Fluchtversuch zu verhindern wissen würde. Der Gedanke, daß sie freiwillig zurückgekehrt wären, daß sie eine solche Unklugheit begangen hätten, erschien doch ganz unannehmbar.
Wie dem aber auch sein mochte... selbst alle Hitzköpfe konnten sich davon noch an diesem Morgen überzugen... Karl und Pieter Kip befanden sich seit dem gestrigen Abend im Gefängnisse der Hauptstadt. Dessen Direktor weigerte sich aber zu sagen, unter welchen Umständen sie hierher gebracht und auf welche Weise sie verhaftet worden seien.
Wenn das unerwartete Ereignis auch unerklärbar erschien, so gab es hier doch einen, dem seine Überzeugung die richtige Erklärung dafür eingab. In seiner Seele, richtiger in seinem Herzen, wurde Licht, wie durch eine Offenbarung. Ja, das war die Lösung des Rätsels, worüber er seit der überraschenden Flucht der Gebrüder Kip nachgesonnen hatte.
»Sie sind überhaupt nicht entflohen! rief Hawkins. Sie sind von Port-Arthur mit Gewalt entführt worden. Jawohl, und jetzt sind sie aus freien Stücken zurückgekehrt, zurückgekehrt, weil sie unschuldig sind, weil sie wollen, daß ihre Unschuld fleckenlos an den Tag komme!«[403]
Das war die Wahrheit.
Gestern Abend war ein amerikanischer Dampfer, der »Standard« aus San Diego, mit einer für Hobart-Town bestimmten Landung auf der Reede vor Anker gegangen. Karl und Pieter Kip befanden sich darauf als Passagiere.
Während der Fahrt der »Illinois« zwischen Port-Arthur und San Francisco hatten die beiden Brüder gegenüber ihren früheren Genossen im Bagno anfänglich die größte Zurückhaltung bewahrt, ja sogar gegen ihre Entführung Einsprache erhoben. Als sie dann von neuem versicherten, daß sie nicht die Mörder des Kapitäns Gibson wären, setzten weder O'Brien und Macarthy, noch Farnham und alle übrigen in diese Versicherung einen Zweifel mehr. Und wenn sie selbst ihr Entkommen bedauerten, war es nur, weil eine Revision ihres Prozesses bevorstände, eine Revision, die unter den jetzigen Umständen vielleicht nicht aufgenommen worden wäre.
War es anderseits nichts als ein reiner Zufall gewesen, der die Gebrüder Kip nach der Saint-Jamesspitze geführt hatte, so hatten sie doch dem Drange, den Aufsehern mit entgegenzutreten, unmöglich widerstehen können. Erschien es da nicht als ganz natürlich, daß die Feniers diesen Umstand benützt hatten, sie an Bord des amerikanischen Dampfers mitzunehmen?... Nach dem wichtigen Dienste, den Karl und Pieter Kip den Irländern kurz vorher geleistet hatten, war das ja nur eine Tat der Dankbarkeit, die ausgeführt zu haben sie doch wohl nicht zu bereuen hatten. Nein... übrigens, was geschehen war, war nun einmal geschehen.
Gleich bei der Ankunft der »Illinois« verabschiedeten sich die Gebrüder Kip von den Irländern, die sie vergebens zurückzuhalten suchten. Wohin sie sich begeben würden, das sagten die Holländer nicht. Da sie aber völlig mittellos dastanden, schlugen sie es nicht ab, ein paar hundert Dollars unter der Bedingung anzunehmen, den Betrag zurückzuerstatten, sobald es ihnen möglich wäre. Nach einem letzten Abschiedsworte trennten sie sich dann von O'Brien, Macarthy und Farnham.
Glücklicherweise war vom großbritannischen Konsul noch kein Auslieferungsgesuch an die amerikanischen Behörden eingereicht worden, so daß die Polizei sie bei ihrer Ausschiffung nicht hatte verhaften können.
Vom Tage der Landung an sah man die beiden Brüder nicht mehr in den Straßen von San Francisco, so daß man annehmen mußte, sie hätten die Stadt verlassen.[404]
Tatsächlich hatten Karl und Pieter Kip achtundvierzig Stunden nach dem Betreten des Landes ein bescheidenes Gasthaus in San Diego, der Hauptstadt Niederkaliforniens, aufgesucht, wo sie ein Schiff zu finden hofften, das bald nach einem der australischen Häfen abginge.
Ihr Entschluß stand fest, sobald wie möglich nach Hobart-Town zurückzukehren und sich selbst den Gerichten zu stellen, die sie so ungerechterweise verurteilt hatten. Konnte ihre Flucht als ein Eingeständnis ihrer Schuld gedeutet werden, so mußte die Rückkehr einem Zeugnisse für ihre Schuldlosigkeit gleichkommen... Nein, sie wollten nicht in der Fremde leben, belastet mit einer so schweren Anklage und immer bedroht, erkannt, angezeigt und verhaftet zu werden. Ihr Streben richtete sich nur auf eine Wiederaufnahme des früheren Verfahrens und darauf, vor der Öffentlichkeit eine Ehrenerklärung zu erlangen.
Von dieser Absicht und ihrer Ausführung hatten Karl und Pieter Kip auch während der Fahrt auf der »Illinois« immer und immer wieder gesprochen. In Karls Innern regte sich da wohl ein gewisses Widerstreben, jetzt, wo er sich frei fühlte, auf diese Freiheit zu verzichten, sich der irdischen Gerechtigkeit, der menschlichen Fehlbarkeit wieder auszuliefern. Er fügte sich jedoch schließlich den Vorstellungen seines Bruders.
Beide weilten also in San Diego und suchten sobald wie möglich Platz auf einem Schiffe, das nach Tasmanien bestimmt wäre. Der Zufall war ihnen günstig. Der für Hobart-Town ladende Dampfer »Standard« nahm auch Passagiere verschiedener Klasse auf. Karl und Pieter Kip begnügten sich mit der letzten und trugen sich in die Passagierliste unter angenommenen Namen ein. Am nächsten Tage lief der Dampfer mit einem Kurse nach Südwesten aus. Nach ziemlich langer, durch schlechtes Wetter auf dem Großen Ozean verzögerten Fahrt umschiffte er endlich die äußerste Landspitze von Port-Arthur und ging auf der Reede von Hobart-Town vor Anker.
Von allem, was hier mit kurzen Worten geschildert ist, erhielt die Stadt schon in den nächsten Stunden Kenntnis. Sofort schlug damit die öffentliche Meinung zu Gunsten der Gebrüder Kip um, was ja am Ende nicht zu verwundern ist... Sie waren also doch die Opfer eines Justizirrtums?... Sie waren nicht freiwillig aus der Strafanstalt entwichen und sogar, sobald sich ihnen dazu Gelegenheit bot, von Amerika nach Tasmanien zurückgekehrt! Jetzt mußte es doch wohl tunlich sein, ihre Schuldlosigkeit haltbarer zu begründen, als durch den guten Glauben einzelner Personen.[405]
Sobald jene Nachricht Herrn Hawkins erreichte, beeilte er sich, nach dem Gefängnisse zu gehen, dessen Pforten sich ihm bereitwillig öffneten.
Eine Minute später befand er sich Auge in Auge gegenüber den beiden Brüdern, die zusammen in einer Zelle saßen.
Beim Eintreten des Reeders erhoben sie sich und faßten einander an der Hand.
»Für Sie, Herr Hawkins, hat unsere Rückkehr nicht die Bedeutung eines neuen Zeugnisses, begann Karl Kip. Sie kannten die Wahrheit schon längst und haben uns niemals für schuldig gehalten. Diese Wahrheit mußten wir auch allen anderen vor Augen führen, darum sind wir mit dem ›Standard‹ wieder nach Hobart-Town gekommen.«
Hawkins fühlte sich so tief bewegt, daß es ihm zunächst an Worten fehlte, dafür perlten ihm aber die Tränen aus den Augen.
»Ja, meine Herren, sagte er endlich, es ist eine gute, eine große Tat, die Sie vollbracht haben! Hier wartet Ihrer die Wiederaufrichtung Ihrer Ehre und die herzliche Teilnahme aller ehrlichen Leute!... Sie durften aus Port-Arthur nicht wegbleiben. Alle die Anstrengungen, die ich vorher gemacht, die Schritte, die ich bis jetzt getan habe, sollen sofort wieder aufgenommen werden. Sie werden nicht vergeblich sein... Ihre Hand, Pieter Kip, und die Ihrige, Kapitän des ›James-Cook‹!«
Als er Karl Kip diesen Titel beilegte, geschah es, ihn seiner unveränderten Hochachtung zu versichern.
Dann kamen alle drei auf die sie bewegende Angelegenheit selbst und auf die Verdachtsgründe zu sprechen, die gegen den Bootsmann und gegen Vin Mod vorlagen. Die beiden Brüder erfuhren dabei, daß Flig Balt, Vin Mod, Len Cannon und dessen Kameraden auf dem »Kaiser« Heuer genommen hatten und nach längerem Aufenthalt in Port-Praslin nach den Salomonsinseln abgesegelt waren. Zur Stunde hatten sie sich vielleicht schon dieses Fahrzeuges bemächtigt und trieben Seeräuberei in dem Teile des Großen Ozeans, wo an ihre Auffindung kaum zu denken war.
»Ja, bemerkte Pieter Kip, selbst wenn nun Flig Balt und seine alten Genossen vom ›James-Cook‹ dem Kriminalgerichtshof vorgeführt würden, welche anderen Beweise könnten wir gegen sie vorbringen?... Sie träten doch wieder als Ankläger auf, und welches Mittel hätten wir zu beweisen, daß sie die Mörder des Kapitäns Gibson sind und nicht wir?[406]
– Man wird unseren Aussagen glauben, rief Karl Kip, wird uns glauben, da wir zurückgekommen sind, für unsere Schuldlosigkeit einzutreten!«
Vielleicht... doch welche neue Tatsachen waren ins Feld zu führen, um überhaupt eine Wiederaufnahme des Prozesses durchzusetzen?
Wir brauchen wohl nicht erst die Wirkung zu schildern, die Karl und Pieter Kips Rückkehr auf die beiden Familien hervorbrachte. Frau Gibson, die jetzt bezüglich der beiden Holländer eine Beute der quälendsten Zweifel war, gelang es doch nicht, die Überzeugung ihres Sohnes zu erschüttern. Das kann ja nicht wundernehmen, da für Nat Gibson seit so langer Zeit und nach den Tatsachen, die bei der Verhandlung gegen Flig Balt ans Licht gekommen waren, die Mörder seines Vaters nur die beiden Brüder waren, nur diese es sein konnten. In seinen Gedanken verweilte er noch immer auf dem Schauplatze des Verbrechens. Er sah seinen unglücklichen Vater im Walde von Kerawara überfallen, getroffen von der Hand derer, die er von der Insel Norfolk aufgenommen hatte, ermordet durch die Schiffbrüchigen von der »Wilhelmina«!... Ja, alle Ermittelungen sprachen doch gegen sie, und was konnte man darauf erwidern?... Unbewiesene und unbestimmte Annahmen bezüglich des Bootsmannes und seines Genossen. Und doch waren sie jetzt nach Hobart-Town zurückgekehrt... freiwillig zurückgekehrt!
Selbstverständlich hatte Herr Hawkins sofort um eine Audienz bei Sir Edward Carrigan nachgesucht. Der Gouverneur, dem die Sache ebenfalls zu Herzen ging, beschloß alles, was in seiner Macht stände, zu tun, jenen Justizirrtum zu beseitigen und eine Revision einzuleiten, die den Gebrüdern Kip ihre bürgerliche Ehre wiedergeben müßte. Wie sehr wäre dieses Vorhaben begünstigt worden, wenn man Flig Balt, Vin Mod und ihre Genossen hätte dingfest machen können!
Es erklärt sich wohl leicht, daß die Einwohnerschaft von Hobart-Town bei der überall herrschenden Erregung sich entschieden zu Gunsten Karl und Pieter Kips aussprach. Wer kennt nicht die Wandelbarkeit der großen Menge? Dergleichen ist ja ganz gewöhnlich. Doch rechtfertigte im vorliegenden Falle nicht alles, was seit der ersten Verhaftung der beiden Brüder geschehen war, diesen Umschlag der öffentlichen Meinung?
Sehr bald wurde ein Richter des Kriminalgerichtes beauftragt, die Untersuchung der Angelegenheit wieder aufzunehmen oder eigentlich wieder anzufangen. Er sollte die beiden Verurteilten aufs neue befragen und nötigenfalls noch[407] weitere Zeugen aufrufen. Irgend eine neue Tatsache konnte doch noch mehr für die Unschuld der Holländer sprechen und eine Revision des Prozesses herbeiführen.
Ergab die erneute Untersuchung freilich nicht, daß einer oder mehrere andere als die Gebrüder Kip die Mörder des Kapitäns Gibson waren, so behielt das frühere Urteil seine Rechtskraft, und eine eigentliche Wiederaufnahme des ganzen Verfahrens blieb dann ausgeschlossen.
Die Voruntersuchung nahm also ihren gesetzlich vorgeschriebenen Lauf. Unter den vorliegenden Verhältnissen, der Entfernung des Tatortes und der Schwierigkeit aller Nachforschungen bezüglich Flig Balts, Vin Mods, Len Cannons und der übrigen, die sich auf dem »Kaiser« befinden sollten, mußte sie sich jedenfalls sehr lange hinziehen.
In dieser Voraussicht wurde auch gleich vom ersten Tage an die Gefängnisordnung für die beiden Gefangenen wesentlich gemildert, und diese wurden nicht von der Welt abgesperrt gehalten. Man verschloß ihre Zelle nicht den Personen, die sich für ihr Schicksal interessierten, und darunter befanden sich natürlich die Herren Hawkins und Zieger, deren ermutigendes Zu reden ihnen die Erduldung dieser immerhin harten Prüfung erleichterte.
Der Lord chief-justice des Vereinigten Königreiches war von der überraschenden Wendung der Angelegenheit in Kenntnis gesetzt worden. Da man großes Gewicht auf die Entdeckung des »Kaisers« legte, wurde Befehl gegeben, in dem Teile des Großen Ozeans, der Neuguinea, den Bismarck-Archipel, die Salomonsinseln und die Neuen Hebriden umfaßt, nach dem Schiffe zu suchen. Die deutsche Verwaltung hatte dieselben Maßregeln angeordnet, schon mit Rücksicht auf die Möglichkeit, daß der »Kaiser« in den Gegenden, die unter deutscher und englischer Schutzherrschaft stehen, doch Piraten in die Hände gefallen sein könnte.
In Hobart-Town, wo der Untersuchungsrichter und Herr Hawkins die getroffenen Maßregeln kannten, betrieben diese beiden die Auffindung weiterer Zeugen.
Die beiden Brüder waren über ihren Aufenthalt im Gasthause zum Great Old Man befragt worden und vor allem, ob sie bemerkt hätten, daß das Zimmer neben dem ihrigen bewohnt gewesen sei. Darüber konnten sie keine Auskunft geben, denn sie hatten das Gasthaus stets früh am Morgen verlassen und es erst zum Schlafengehen wieder aufgesucht.[408]
Der Beamte und Herr Hawkins hatten sich selbst nach dem genannten Gasthause begeben und da gesehen, daß der innere Balkan des Hofes recht gut ein Eindringen in das Nachbarzimmer ermöglichte.
Der Gastwirt, bei dem häufig viele Personen die Nacht zubrachten, erinnerte sich aber nicht, von wem das zweite Zimmer damals bewohnt gewesen wäre.
Anderseits konnte der Wirt der Fresh-Fishs, als er vor Gericht gerufen war, der Wahrheit entsprechend versichern, daß Vin Mod und die[409] übrigen seit der Ankunft des »James-Cook« bis zum Tage der Verhaftung der Gebrüder Kip ununterbrochen in seinem Hause gewohnt hätten.
So kam der 20. Juli heran. Mehr als ein Monat war bereits verflossen, seit Karl und Pieter Kip sich der Behörde freiwillig gestellt hatten. Die Voruntersuchung verlief ergebnislos. Ein Umstand, auf den sich die Revision hätte stützen können, fehlte noch immer. Hawkins erlahmte deswegen noch nicht, seine Ohnmacht verursachte ihm aber doch recht schweren Kummer.
Trotz der vertröstenden Worte des Reeders, überließ sich Karl Kip zuweilen einer völligen Verzweiflung, wogegen sein Bruder nur mit Mühe anzukämpfen vermochte. Er machte Pieter vielleicht sogar Vorwürfe, von Amerika nach Australien haben zurückkehren zu wollen, um sich hier dem Gerichte auszuliefern, das sie schon einmal verurteilt hatte.
»Und das uns auch ein zweites Mal verurteilen wird, sagte eines Tages Karl Kip.
– Nein... Bruder... nein! rief Pieter Kip. Das wird Gott nicht zulassen!
– Er hat es doch zugelassen, daß wir als Mörder zum Tode verurteilt, daß unsere Namen geschändet wurden.
– Habe nur Vertrauen, mein armer Bruder, verliere das Gottvertrauen nicht!«
Pieter Kip konnte nicht anders antworten. Sein Vertrauen wurde freilich durch nichts erschüttert: es war so fest begründet, wie das des Herrn Hawkins auf ihre Unschuld.
Zu dieser Zeit bekümmerte sich Herr Zieger, dessen Aufenthalt in Hobart-Town sich nicht über zwei Wochen ausdehnen sollte, schon um Plätze auf einem deutschen oder englischen Dampfer, der nach Port-Praslin abgehen sollte.
Die zwei Wochen verlebten die beiden Familien im traulichsten Umgange. Seit der Rückkehr der Gebrüder Kip teilten sie bezüglich dieser die gleichen Gedanken, die gleichen Hoffnungen. Frau Gibson quälte die Vorstellung, daß hier zwei Unschuldige die Opfer eines Justizirrtums gewesen seien, und sie litt schwer daran, sich die Lage der Sache immer noch nicht verändern zu sehen.
In der Tat blieb die Angelegenheit, soweit eine Revision in Frage kam, sozusagen auf dem toten Punkte. Neue Erkundigungen in Holland über die Gebrüder Kip bestätigten nur die früher erhaltene Auskunft. In dem Lande, wo die Erinnerung an die geachtete Familie noch fortlebte, gab es nur wenige, die[410] an eine Schuld des Brüderpaares geglaubt hatten, nachdem aber gar ihre Rückkehr in Groningen bekannt geworden war, gestand jeder zu, daß ihre Verurteilung nur auf einem Justizirrtum beruhen könnte.
Alles kam aber doch nur auf menschliche Gefühle hinaus, und der Beamte erhielt keine Aufklärung, die juristisch gewichtig genug gewesen wäre, eine Wiederaufnahme der Angelegenheit zu rechtfertigen.
Was das deutsche Schiff, den »Kaiser«, betraf, so meldeten die Schiffsnachrichten nach seinem Auslaufen von Port-Praslin nichts davon, daß es an den Salomonsinseln oder an einer der benachbarten Inselgruppen vorbeigesegelt wäre. Es blieb also nach wie vor unmöglich zu wissen, was aus Flig Balt, Vin Mod und etwaigen anderen, die bei dem Verbrechen von Kerawara in Betracht kamen, in der letzten Zeit geworden sein möchte.
Zum größten Leidwesen des Herrn Hawkins wollte der Beamte schon auf die weitere Voruntersuchung verzichten. Das bedeutete aber die endgültige Verurteilung und die Wiedereinlieferung der beiden Brüder in die Strafanstalt von Port-Arthur, wenn nicht etwa ein königlicher Gnadenakt ihren schrecklichen Prüfungen ein Ende machte.
»Eher in den Tod als zurück in den Bagno! rief Karl Kip.
– Oder der Gegenstand entehrender Gnade zu sein!« erklärte sein Bruder.
Es ist leicht begreiflich, daß diese Lage der Dinge die Geister allgemach erhitzen und zu Ausdrücken des öffentlichen Unwillens verleiten mußte.
Die Abreise des Herrn und der Frau Zieger sollte am 5. August mit einem englischen, nach dem Bismarck-Archipel bestimmten Dampfer erfolgen. Nun erinnert sich der Leier wohl, daß Hawkins gleich an dem Tage des Verbrechens von Kerawara zwei photographische Aufnahmen des Kapitäns Gibson gemacht hatte, die diesen halb entblößt und seine Brust von dem Kriß durchbohrt wiedergaben.
Vor der Rückkehr nach Port-Praslin ersuchte noch Zieger den Reeder, ihm ein vergrößertes Bild des Kopfes Gibsons anzufertigen, das er in seinem Salon in Wilhelmstaf aufhängen wollte.
Hawkins kam dem Wunsche seines Geschäftsfreundes bereitwillig nach. Er gedachte, von der neuen Platte auch gleich mehrere Abzüge zu machen, die in den Familien Gibson, Hawkins und Zieger als Andenken aufbewahrt werden sollten.
Am Morgen des 27. Juli machte sich Hawkins an die Arbeit in seinem Atelier, das mit den besten Apparaten ausgestattet war, welche schon zu jener[411] Zeit, dank der Einführung höchst lichtempfindlicher Chemikalien, wirkliche Kunstwerke herzustellen gestatteten. Da er unter den günstigsten Umständen arbeiten wollte, benutzte er die negative, in Kerawara selbst hergestellte Platte, von der er nur den Kopf des Kapitäns Gibson aufnehmen wollte.
Nach Einlegung der Platte in die Vergrößerungs-Camera stellte er den Apparat so ein, daß er ein Bild des Kopfes in natürlicher Größe erhalten mußte.
Da gerade sehr günstiges Licht war, genügten wenige Augenblicke zur Aufnahme und kurze Zeit zum Kopieren. Dann brachte Hawkins die neue Photographie in einen Rahmen und stellte sie auf einer Staffelei mitten im Zimmer auf.
Auf eine Mitteilung des Herrn Hawkins hin, fanden sich am Nachmittage Zieger und Nat Gibson bei ihm ein.
Ihre Gemütserregung, als sie sich dem naturgetreuen Bilde Harry Gibsons, dem lebendähnlichen Porträt des unglücklichen Kapitäns gegenübersahen, läßt sich mit der Feder kaum schildern.
Ja, das war er, sein ernstes und doch wohlwollendes Gesicht, jetzt freilich mit dem Ausdrucke der Todesangst, der darauf gelegen hatte, als die Mordgesellen ihm das Herz durchbohrten... in dem Augenblicke, wo er sie noch mit weitgeöffneten Augen angestarrt hatte.
Nat Gibson war an die Staffelei herangetreten. Seine Brust wogte auf und ab und er schluchzte in neuem Schmerze, den Hawkins und Zieger aufrichtig teilten, als sie den Kapitän scheinbar in vollem Leben vor sich sahen.
Da beugte sich der Sohn nieder, um die Stirn seines Vaters zu küssen.
Plötzlich hielt er ein, und näherte sich nach weiter, die Augen starr auf die des Bildes geheftet.
Was mochte er denn sehen oder zu sehen glauben?... Er schwankte, in seinem Gesichte zuckte es... er wird bleich wie der Tod... es steht aus, als wollte er sprechen und könnte es doch nicht... seine Lippen ziehen sich krampfhaft zusammen... ihm fehlt die Stimme...
Endlich rafft er sich auf, ergreift auf einem Tische eine der starken Lupen, deren sich die Photographen bedienen, wenn sie noch Kleinigkeiten auf einem Abzug nachretouchieren... er hält das Glas noch näher an die Photographie und jetzt stößt er mit halberstickter Stimme hervor:
»Sie... sie!... Die Mörder meines Vaters!«[412]
Im Hintergrunde der Augen des Kapitäns Gibson zeigten sich auf der vergrößerten Netzhaut in all ihrer blutgierigen Wildheit die Gestalten Flig Balts und Vin Mods!
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