Phaethon an Theodor

[18] Welches ist das Land, Theodor, wo der Segen der Götter in Fülle herabträufelte und die Natur sich entfaltete in den reichsten vollsten Gestalten, wo die Menschen schön waren wie ihre Götter und heiter und fröhlich wie ihr Himmel, wo Weisheit und Schönheit sich wie Schwestern mit blühenden Armen umschlangen, und der Geist sich regte so klar, so hell? Es gab nur ein Griechenland.

Sieh, ich möchte mich an eine Brust werfen und meinen Schmerz ausweinen in blutigen Tränen. Denn ach, es gibt kein Griechenland mehr! Verloren, ewig verloren wie die Tage der Unschuld!

Warum bin ich nicht zwei Jahrtausende früher geboren? Glaubst Du nicht, um ein einziges Jahr gäb' ich dann all die vielen Jahre dahin, die ich verlebt habe?

Wie sich die Welt abspiegelt in diesen ewigjungen Geistern, rein und heiter wie die Gewässer, die ihres Landes lachende Ufer umrauschen!

Was ist heiliger als die Natur, und wo war sie gefeierter als in Griechenland?[19]

Da kannte man nicht jene lächerliche Verachtung des Lebensgenusses, mit dem sich bei uns die Männer brüsten, die rauh sind wie der Boden, der sie trägt, und finster wie die Eichenwälder, um die sie hausen.

Selbst der trotzige Aias nimmt noch Abschied vom lieben Licht der Sonne und von den Quellen und Flüssen und Bergen, eh er das Schwert sich in den Busen stößt. Er findet die Erde noch schön und will doch zu den Schatten.

Hat den ersten Deutschen in Hyrkaniens Waldgeklüften nicht ein Bär gesäugt? Merkt man's doch den Römern an, daß ihr Stifter nicht die Milch aus einer Menschenbrust gesogen!

Was kann auch werden bei uns? Unser Land ist ein Gewächstum aller Nationen. Gab's nicht in Griechenland auch viele Völker? Es gab Athener und Böotier und Korinther und Spartaner; aber wenn sie zu Elis sich versammelten, war alles ein Volk, alles eine Seele!

Mir wird's oft bange unter diesen Menschen, wo eine solche Kluft den einen von dem andern trennt.

Und was sind das für Begriffe von Schicklichkeit! Theodor, ich möchte mich zu Tod ärgern, wenn ich sehe, wie's Menschen gibt, die lieber die Welt durch ein umflortes Glas ansehn und andre verdammen wollen, die der lieben Sonne ins Angesicht schauen. Solche niedre Seelen, die nie aus dem Gleichgewichte kamen, weil jeder Schwung für sie zu kühn war, die sich leicht beherrschen können, weil sie nicht viel zu beherrschen haben, die jedes warme schmerzliche Gefühl[20] verbannen, weil sie's an ihrer kalten Arbeit stört, die wollen ein leidend Gemüt, das ringend auf dem sturmbewegten Meere treibt, vom Hafen aus verlachen? Ach, das ist leicht!

Und wo offenbart sich tiefer das Gemüt, als wenn es leidet? Und muß es nicht leiden?

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 18-21.
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