Phaethon an Theodor

[85] O wenn ich ihr so nahe wäre, so nahe, daß ich ihr um den Hals fallen könnte!

Ach, was ist's mit all unsern Wünschen? Wir wünschen nur, daß uns das bißchen, das wir haben, auch entleide. Und warum bin ich denn nicht zufrieden, so um sie zu sein, wie ich bin? Ist denn das nicht genug? Was fordert dieses Herz noch?

Wie geläutert ist mein ganzes Wesen in ihrer Nähe. Und wenn ich sie einmal von ungefähr berühre, da zuckt es wie ein Blitz durchs Innre, und ich fahre zusammen und blicke sie an, als wollt' ich um Vergebung flehen.

Ich mag gehn, wohin ich will, sie wandelt mir zur Seite wie mein Genius. Lieber, ich könnt' ihr nimmer vors Auge treten, hätt' ich etwas Schändliches begangen. Ihre Augen können aus mir machen, was sie wollen.

O Theodor, wie viele meiner Brüder gehn verloren durch schwelgerischen Sinnengenuß! Die Wollust weht durch ihre Seele wie der Hauch versengender[86] Winde und verzehrt die edle Kraft. Brüder, der Inbegriff Kunst, füllt er nicht Euer Innerstes an mit seiner Heiligkeit Fülle? Und Euer Auge, das befleckte, glaubt Ihr, es werd' anschauen dürfen die Schönheit, wenn sie herabsteigt vom Himmel in ihrer Klarheit in den Stunden der Ahnung, und die Fülle des Gesichts wie ein Lichtmeer den heilig-bebenden umwallt? In Eurem Busen schlägt die Stimme Gottes, wie sie schlägt im Busen eines Künstlers? Ihr wollt mit unheiligen Händen den Schleier lüften vom Bilde der Isis und schaun die Urbilder, wie sie weben in Gott in wandelloser Schöne? Ihr Unreinen wolltet Priester sein der heiligen Kunst, die eine Verkündigerin ist der göttlichen Vollkommenheit? Nicht der geübte Meißel macht den Künstler. Der Drang von innen, der erklingt wie eine Stimme von Gott, die heilig schaffende Kraft im vollen Busen, die brünstige Liebe des Ewigen und die geheimnisvolle Anschauung der Gottheit in ihrer Reinheit und Größe! Wißt Ihr nichts von dem, so ist Eure Kunst nur ein Handwerk. Umsonst ist's dann, wenn ein Abbild Euch erscheint der unendlichen vollendeten Schönheit. Entheiligt ist Euer Auge; erloschen seine Kraft, und Ihr könnt das Göttliche nimmer erkennen im Menschlichen.

Und ich kann das, Theodor! Ich sag' es Dir in heißen Tränen: Ich kann das! Mein Busen ist keusch! Das Göttliche flieht mich nicht.

Atalanta, Du Schöne, Du reines unschuldiges keusches Kind, welch ein namenloses Etwas quillt mir aus Deinem Anschaun![87]

Kraft mit Kraft, Auge mit Auge, Liebe mit Liebe, Geist mit Geist, hinüberschwimmend, verloren in lauter Tiefe, in lauter Seele, lauter Himmel, zuckend und zitternd in Einem wie Kuß und Kuß, in einander lodernd wie Feuer und Feuer ... Bruder!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 85-88.
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