Phaethon an Theodor

[99] Jeden Abend geh' ich zu Bette mit dem Vorsatz, ihr morgen um den Hals zu fallen. Und wenn ich dann am folgenden Tag vor ihr stehe, und wir allein sind, und mich's mit unwiderstehlichem Drang an ihre Brust zieht, da verschüchtert mich ein einziger Blick aus dem schwarzen Auge, und ein unbekanntes Etwas hält mich zurück.

Und kann ich denn keine Blume blühen sehen in ihrer Unschuld an der warmen Erde? Muß ich sie denn brechen? Anbeten sollst du das Heilige! Berühren darfst du es nicht!

Und heilig ist die Jungfrau, die reine, die keusche, weich und zart wie ungeküßte Blumen, nach Leib und Seele, o Gott, das schöne Bild Deines keuschen Geistes, Deiner klaren milchweißen Sonnen: ein Licht, eine Seele, eine lächelnde Unschuld, geweiht und umwallt von zarter Scham wie von einem unerklärbaren Geiste!

Wandelte nicht nächtlich der liebe Mond über meinem Haupt und küßt mir liebend meine Lippen mit seinem bescheidenen Lichte, und ist mir's je eingefallen, zu langen nach ihm?

So denk' ich im Augenblick; aber nachher reut mich's doch wieder.

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Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 99-100.
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