Phaethon an Theodor

[126] Ich lebe wie zu den Zeiten Homers. Die Wirklichkeit berührt mich kaum wie die Flut den Fuß des Gebirges, dessen wolkenumwobene Scheitel weiter reichen, als das Auge trägt.

Ich saß vor dem Bilde Homers auf der untersten Stufe. Atalanta saß neben mir. Sie spielte mit den Efeublättern, die um ein altes Architrav sich schlangen.

Die Sonne war nah am Untergehn. Durch die wilden Rosengebüsche blickte der blaue See mit seinen grünen Ufern. Da zog ich den Homer heraus. Atalanta sah mich an und lispelte, die Hand mir drückend: Lesen wir? Ich sagte: Ja. Wie feiern wir schöner den Abend? Und welche Rhapsodie schlag ich auf, Atalanta? Da hast Du das Buch! Nausikaa! klang's von ihren Lippen.

Sie las. Theodor, wie die griechischen Worte wogten von den zarten Lippen, die Worte des Mäoniden! Jeder Laut war wie aus tiefster innigster Seele.[127]

Das Saftgrün der Blätter und die Glut der Rosen und der Abendsonne; die grauen alten Säulen; die Trümmer um uns her; und drüber hinein das Himmelblau; und das Mädchen, vom quillenden Strahl der Sonne geküßt, mit ihrem Engelauge, mit ihren Rosen in den dunkeln Locken, mit ihrem Homer in den Händen!

Da rief ich endlich aus:

Atalanta, denke Dir den Sänger, wie er stand auf dem grauen Felsen von Chios, wann die warme Morgensonne seine weißen Locken umwallte wie das Haupt eines Heiligen, und um ihn her saßen im Kreise die Schüler auf den steinernen Bänken! Wie der alte Lehrer hinüberblickte über die lachenden Fluren des Eilands von der jähen Klippe, und sein Auge von den grünenden Buchten und dem frischen Gestade hinüberdrang wie ein Lichtstrahl in die grenzenlose Weite des Meeres und endlich verschwamm in der Flamme des aufsteigenden Sonnengottes! Wie nun seine Brust sich hob, und eine Träne bebte im Auge des Alten, Ehrlichen; wie er da lehrte, und seine Lippen überquollen von der Fülle seines Herzens wie von Strahlen der ewige Lichtquell der Sonne, er, der Sohn des Himmels, auf dem Felsen, und um ihn der endlose im Morgenrot wallende Äther, rein wie seine Dichterseele!

Atalanta war mir an die Brust gesunken. Ich blickte hinab auf das jugendliche Haupt und fühlte mein ganzes Wesen überwallen, wie ich sie so nah mir sah, diese unaussprechliche Schönheit. Ihr dunkles[128] Auge voll ewigen Friedens weinte verklärt zum blauen Himmel hinauf, und ich drückte, von der Seligkeit der Götter durchschauert, einen heißen Kuß auf ihre keuschen unentweihten Wangen.

Ja, Atalanta, rief ich endlich, mich erholend aus der betäubenden Wonne, blick' ihn an mit Deinem Auge voll Liebe! Er ist's! Seine Seele ist unergründlich wie das Meer, aber durchsichtig wie der unermeßliche Äther. An seinen Busen voll warmem Jugendfeuer drückt er die Natur wie eine Braut, und seine Gesänge sind die ewig jugendlichen Kinder seiner Liebe. Wie holde Blumen in einem Kranze schlangen Weisheit, Schönheit, Mäßigung und Ruhe sich in ihm zusammen. Sein Lied ist wie das spiegelhelle unbewegte Meer, wenn es die Farbe des Himmels trägt. Er ist ein gewaltiges Gebirge, das, tiefgewurzelt in die gute mütterliche Erde, das weiße Haupt in Ätherfernen streckt.

Es rauscht' im Gebüsch, und Katon trat herein. Er lächelt' und setzte sich auf einen Säulenstumpf. Die Sonne war hinunter. Es ward schon dunkel um uns. Katon sagte: Griechenlands Sänger sind die größten. Wie Kinder spielten unter Blumen in dem schönen Lande die Söhne des Himmels. Aber größer sind Griechenlands Helden. Wo ist eine Brust wie die freiheitstrunkene Seele des Leonidas? Wo ist die ernste Tatkraft eines Epameinondas? Wo sind unsre Timoleone? Ich verstand nicht, was er wollte damit sagen. Wir gingen ins Schloß.

Aber der Geist Homers wich nicht von meiner Seele. Ich kehrte spät zurück zu den drei Säulen. Einsam[129] saß ich an ihrem Fuß unter dem Bilde Homers. Seine Helden stiegen in meinem Geist empor aus den Trümmern um mich her und schwebten an mir vorüber in langen dunkeln Gestalten. Kein Mond war am Himmel. Eine Nachtigall schlug in der Nähe in vollen schwellenden Akkorden. Ich schlummert' ein.

Höre meinen Traum!

Ich trat in ein elysisch schönes Land. Durch fette Wiesengründe wälzten sich Bäche. An ihren Ufern stiegen im Schatten des Lorbeers und der Myrte Säulentempel in die Lüfte. Unendlich klar war das Blau des Himmels. Der linde warme Hauch eines ewigen Mai war über Wiesen, Wälder, Hügel und Himmel gegossen.

Da hört' ich ein unterirdisch Dröhnen, als ob die Erde wollte Riesen hervorstrudeln aus ihrer Tiefe. Die Bäume wankten und die Felsen bebten. War es so, als aus dem gestaltlosen Chaos mit Brausen und Donnern die Elemente sich schieden, aus dem kochenden Wirbel der Urkräfte; wie das gestaltete Eisen aus der Flamme, die Welten sich lösten, und die alten Riesengötter im Kampfe lagen mit den neuen; wie der gewaltig genialische Geist in seiner schrankenlosen Erhabenheit, in seiner überschwellenden Größe, in seiner unermeßlichen Pracht, wenn die Kunst ihn zwingen will in geründete Formen, in vollendete harmonische Bildung, ins Ebenmaß?

Ein Mann stieg aus der Erde. Sein Auge sprühte Begeisterung wie Funken die Sonne. Die wilden langen Locken umwallten in regellosem Wirbel[130] die hohe gefaltete Stirne und den unbeugsam männlichen Nacken. Er ergriff die alten Eichen und wuchtete die Ungeheuer mit Stamm und Kron' und Wurzel aus der Erde, daß sie lautdröhnend mit entsetzlichem Gekrache wie vom Himmel geschleuderte Giganten niederstürzten. Dann riß er Felsen aus dem Boden und warf wie leichte Steine sie empor und türmte einen auf des andern Gipfel. Dann schwang er sich hinauf und stand auf dem himmelragenden Geklipp, daß seine Haare, von den Winden gewirbelt, wie Schlangen in den Lüften flogen.

Darauf stieg er nieder, und eine Flamme zündet' er an auf einem Altar am Fuß des Felsgeklüftes und betete an die wechsellose Riesenmacht des allgebietenden Geschicks und die Grundkräfte der lebendigen Natur, die alten Urgötter, und flehte, Gerechtigkeit walten zu lassen auf Erden und Heil und Fülle zu verleihen dem heißgeliebten göttlichen Vaterland. Es war Äschylos.

Nicht weit von ihm quoll nieder eine Flamme, daß Tempel umher und Myrten und Blumen vom Lichte glänzten. Es war die ewigheilige Flamme der Religion. Aus ihr trat wie geläutert hervor ein Mann in himmelblauem Gewande. In seinem Antlitz küßten sich wie Bräutigam und Braut der Ernst und die Sanftmut, die Würde und das Gefühl, die Hoheit und die Liebe, die Kraft und die Anmut, und wie Lilien blühte darin der Geist der Reinheit und die Ahnung der Gottheit in ihrer höchsten Fülle. Sein ganzes Wesen war Harmonie und Ruhe. Er war ein Greis, aber[131] jugendliche Schöne schwebte noch in den edeln würdig milden Zügen. Er trat vor einen Altar und kniete nieder und betet' an die alten Gesetze, die ewigen äthergeborenen, in denen der Gottheit nie alterndes Wesen wohnt, und blickte mit einem Antlitz voll anbetender Liebe, voll frommen seligen Vertrauens empor zu dem Geiste der Welt. Es war Sophokles.

Nahe bei ihm war ein Myrtengebüsch. Ein Duft von Salben, Blumen, Räuchereien strömte mir entgegen. Zugleich vernahm ich den Klang einer Flöte und ein laut frohlockend Rufen, ein bakchantisch Getümmel. Es teilte sich der Myrtenbusch. Ein Mann lag auf einem grünen Rasen in den Armen einer Flötenspielerin. Ein Kranz von Efeu und Violen und festlich schmucke Binden waren ihm ums Haupt gewunden. Üppige Weinreben, das Bild der Freude, wuchsen empor aus der Erde, und wie volle Kinderwangen lächelten schwellende Trauben aus dem dunkeln Laub. In seinem Feuerauge blinkte die süße Begeisterung des Dionysos; um seinen Mund schwebte ein spöttisch froher Zug; aber aus seiner Stirne sprach ein strenger tiefer Ernst, eine unaussprechliche Weisheit, eine unglaubliche Stärke, eine unbeugsame Kühnheit. Sein ganzes Wesen war ein Rätsel. Denn während er ohne Zucht und Scheu, mit wilder Lust, mit kecker Derbheit, alles, was um ihn war, Götter und Menschen, zu höhnen schien, strahlte doch aus ihm die Anmut und jede Gabe der Huldinnen in unerschöpflicher Fülle. Sie schienen von ihm abhängig; nicht er von ihnen. Man mußt' ihn anstaunen und doch lieben, den Wilden, Zügellosen. Mit der einen Hand[132] schwang er bald mit lautem Jubel einen vollen Weinbecher, bald eine klingende Handpauke und bald die Maske der Thalia, während er mit der andern den Hals des Mädchens umschlang und mit dem Verlangen der Liebe ihren blendend weißen Busen küßte. Dann sprangen beide auf mit wildem Gelächter und opferten den Charitinnen und der Aphrodite. Es war Aristophanes.

Die Flamme des Äschylos schlug gewaltsam auf vom Felsenaltar in lodernder dunkelroter Säule; die Flamme des Sophokles schwebte in milchweißer Klarheit empor wie ein ausgehauchtes Sehnen unserer Brust; die Flamme des Aristophanes flatterte knatternd in die Lüfte und duftete von süßer Geruchsfülle.

Und plötzlich sah ich über den dreien einen Wagen schweben auf einer Wolke. Amaranten, die Blumen der Unsterblichkeit, hingen in schwellenden Kränzen um ihn. Unendliche Fülle des erhabenen Gesichts! Anbetend sank ich nieder. Ein wunderbarer Mann stand auf dem Wagen wie ein Lichtgeist, dessen Körper zart gewebt war wie Äther, und um und um eine Hülle trug von unzähligen Flügeln. Um sein Haupt bewegten sich dreimal drei Sterne; aber der reinste klarste, der Stern der Weisheit und der Schönheit, brannte wie eine Sonne über seiner Stirne. Zwei Rosse lenkte der beflügelte Mann an seinem Wagen. Weiß war das eine wie frischer Schnee im Glanz der Sonne, mit schwarzen Augen. Sein schlanker Hals war gebogen wie der eines Schwanen, zart und voll züchtiger Scham, und strebte nach oben. Aber neben ihm flog ein schwarzes[133] Roß von häßlicher Mißgestalt, mit kurzem steifem Hals. Seine Nase schwoll von Wut und Ungestüm. Sein blutig Auge wälzte sich wild im Kreise. Unaufhörlich blickte der Beflügelte nach oben. Sein Auge war trunken wie das Auge des Seligen, der die Schönheit schaut in ihrem reinsten Lichtglanz; und immer heftiger regten sich die Federkeime um seinen Körper und schwollen und strebten hinan. Wie von heiliger Scheu war das eine Roß durchdrungen; das schwarze aber schüttelte die wogende Mähne mit wildem Schnauben und bäumte sich wiehernd empor und keucht' an dem zurückgezogenen Zügel. Da riß der ergrimmte Führer am Gebiß, daß Blutstropfen träufelten vom Munde des Rosses und lautdröhnend mit entsetzlichem Geschnaube das Ungebändigte zu Boden stürzte. Da schossen gewaltig die Flügel aus dem unendlich verherrlichten Körper des Wagenlenkers. Sein Auge ward wie Morgenrot. Er ward verklärt zu lauter Seele, lauter Geist. Platon war der Wagenlenker.

Es ward stille. Da hört' ich die fernen Töne klingender Saiten. Und immer näher kam der wunderbare Klang von oben. Ein milchweißes Wölkchen bemerkt' ich niederschweben aus der blauen Luft, und heller immer ward's und größer und blieb am Ende stehn über dem Haupte des göttlichen Wagenlenkers. Jetzt verklangen die Laute. Es teilte sich die Wolke, und ein Greis trat hervor in blendendweißem Lichtgewand, mit langsamfeierlichen Tritt, eine Harfe in der Hand. Um ihn wälzte sich in undurchdringlichen Strömen das reinste Licht. Ein hellgrüner Kranz wand[134] sich mit frischem Laub um seine grauen Locken. Ruhe taute sein ernstes Auge und vollendete Harmonie, und in reicher unermeßlicher Fülle quollen die Strahlen wie melodische Quellen herab aus seiner Wolke unter die Betenden unter ihm. Die Flammen ihrer Altäre wurden gewaltiger vom Lichtregen, und der aufwallende Rauch sammelte sich zu einer dichten Wolke unter den Füßen des Greises. Wer war es an ders als Homer?

Und auf einmal ward's noch klarer um uns, so daß die Tempel umher der Götter erglänzten und die Bäume im Hellgrün. Der Greis verschwamm fast in das wogende lautere Licht. Da hört' ich eine Stimme. Sie kam von ihm: Schauet empor, Ihr Reinen, daß Ihr die Schönheit, nach der Ihr verlanget auf Erden, schauet in ihrer wahren Göttlichkeit, ohne Farbe und ohne Gestalt, ohne Anfang und ohn' Ende, die Schönheit in Gott, in der ich wohne! Sie schauten empor. Auch ich wollte mein Auge hinanheben.

Da erwacht' ich.

Ich fühlt' einen Kuß auf meinen Lippen. Atalanta kniete neben mir in ihrer Schönheit, zart wie die junge Erdbeerblüte. Frische Morgenrosen flochten sich durch ihre dunkeln Locken, und auch mir hatte sie einen Kranz gewunden. Atalanta! rief ich. Ich hab ihn gesehn, unsern Homeros! Im Traum hab ich ihn gesehn, und nahe war ich, die höchste Schönheit zu schaun mit den größten Geistern. Ach, und war das Licht um den Sänger reiner und weißer als Dein Angesicht, Göttliche, unendlich Geliebte? War die Erscheinung beseligender als Dein Auge voll Frieden und Liebe?[135]

Phaethon! rief sie schauernd in Entzücken. Ich preßte sie heftig an meinen Busen.

Dann erzählt' ich ihr meinen Traum. Wir blieben lange noch stehen vor dem Bilde Homers, Arm in Arm wie zwei Kinder. Die Sonne war längst aufgestiegen. Wir wandelten ins Schloß hinüber.

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 126-136.
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