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[180] Gestern waren wir auf der Burg. Atalanta und ich gingen voraus. Katon und Cäcilie folgten. Es war ein heiterer Herbsttag.
Wir wandelten den Waldpfad hinauf und hatten bald den schlanken Berg erstiegen. Wir irrten durchs verwitterte Burggemäuer, durchs zerbröckelte moosbewachsene Ruinengestein, das innig wie Geist und Gemüt mit jungem traurig einsamem Buschwerk sich verwob.
Durch halbzerfallene Mauerbögen und Fensteröffnungen blickten der blaue Himmel und die versilberten Fernen, und der Blick suchte oft vergebens die äußersten Berge von der gleichfarbigen Luft zu trennen.
Das weiße rosenbekränzte Mädchen lag an meiner Brust. Ich sah mit stummer Wonne auf sie herab und war entzückt, wie eine solche Schönheit, eine solche Jugend mir am Herzen ruhte.
Katon kam mit Cäcilien.
Wir setzten uns nieder unter einem schlanken, von Efeuranken umschlungenen Turm.
Katon war ungewöhnlich heiter und sagte endlich: Liebe Kinder, wir wollen über Unsterblichkeit sprechen. Auf dieser Höhe, wo wir nichts mehr über uns sehen als den blauen Himmel, in dem die ungeheuren Welten[181] des Schöpfers schwimmen, fühlen wir uns freier und voller, und es ist, als ob der luftiggewobene Schleier um unsere Seele sich hinanhöbe in weiten fließenden Falten.
Atalanta soll bestimmen, wer sprechen soll!
Sie saß zu meiner Seite und blickte mich liebevoll an. Katon rief: Ja, Phaethon soll uns von der Unsterblichkeit sprechen!
Nun denn, wenn Ihr so wollt, so erfüll' ich Euern Wunsch! erwidert' ich. Aber Ihr müßt mir vergeben, wenn ich meinen Worten zuweilen einen höhern Schwung leihe, wenn ich in Bildern spreche. Denn ich glaube, so will es der Gegenstand.
Das steht zu Dir! versetzte Katon.
Ich hielt ungefähr folgende Rede:
Die Seele, meine Lieben, ist unsterblich. Jede Kraft, die durch sich selbst wirkt und ohne eine fremde regelnde Kraft sich selbst bewegt, ist unsterblich. Denn sie bewegt sich ewig und wird nie von sich selbst verlassen. Dagegen jeder Körper sterblich ist, der nur durch eine fremde Kraft, von außen, Bewegung und eine Art von Leben erhält, weil jene fremde Kraft ja aufhören kann, auf den Körper zu wirken.
So lehrt uns der göttliche Platon.
Vernichtung ist Auflösung eines zusammengesetzten Körpers in so viele Teile, daß die Sinne sie nicht mehr bemerken können. Die völlige Vernichtung aber eines Körpers ist nicht denkbar. Die Teile bleiben, wenn sie auch nicht mehr bemerkbar sind, ewig im Raume. Die Seele aber ist eine reine einfache geistige Kraft, die[182] durch sich selbst Bewegung und Leben erhält. Sie hat keine Teile; ist ein unzertrennbares Ganzes. Wie könnte sie also aufgelöst, zernichtet werden? Wer trennt die reine lodernde Flamme und zerlegt sie in Teile?
Weil die Seele eine zusammengesetzte, durch sich selbst bewegte Kraft ist, so hat sie auch keinen Anfang, wie sie kein Ende hat. Laßt mich sie begleiten auf ihrem Stufengange!
In der ganzen Natur ist eine mit unmerklichen Sprossen aufsteigende Leiter zu bemerken. Nichts bleibt einen Augenblick in derselben Gestalt, auf derselben Stelle. Zwar scheint die Flut, die sich vom jähen Felsgeklipp ins Tal stürzt, eine einzige bewegungslose Wassersäule, aber es sind nur neue Tropfen, die andern schnell die Stelle räumen. Die Flamme scheint ein unveränderlicher Feuerstrom, aber es sind nur einzelne Funken, die entsprühen, wenn die andern verlöschen. Diese Stufenleiter geht durchs Reich der Pflanzen, Steine, durch alle Körper.
Auch im Tier ist eine einfache treibende Kraft, die selbständig einen Körper bewegt und wärmt. Durch ein Dreifaches wird der Mensch zum Menschen. Er ist Pflanze, Leben, Seele oder Geist. Das Tier hat wohl das Leben aber nicht den Geist. Unsterblich ist der Geist; aber auch das Leben ist es. Darum kann auch das Tier nicht sterblich sein. Und wär' es nicht ebenso ungerecht von der Gottheit, das Tier im Verhältnis zu uns in ewiger Niedrigkeit zu halten, als es ungerecht wäre, unser Sehnen nach Gottähnlichkeit nicht zu stillen? Das Leben bildet sich allmählich zum Geist[183] herauf; das Tier zum Menschen, der Mensch zur Einigung mit Gott, dem Geiste, der alle Geister in sich aufnimmt.
Die Seele entsteht durchaus nicht erst, wenn der Körper entsteht. Im Mutterschoß kann zwar wieder etwas Körperliches, Organisches entstehen, aber nichts Geistiges, Einfaches sich bilden. Denn wie könnte das Geistige aus dem Körperlichen entspringen? Und überhaupt kann ja das Geistige nicht entstehen, weil es die Bewegung nicht von außen erhält.
Die Seele stammt von Gott. Aus einem uns unbekannten Grunde, vielleicht zur Strafe, bekam sie die Hülle des Körpers. Darum sehnt sie sich ewig wieder nach der Gottheit. Ihr höchstes Streben ist, zusammenzuschwimmen mit ihr.
Gott selbst aber ist so wenig zu beschreiben als die Schönheit. Jeder Begriff von ihm ist ein Unding. Er ist das in sich Wahre, Schöne und Gute, alles Daseins Schöpfer, alles Lebens, aller Liebe Vater, der Geist der Geister, der Alleinige selbst, das Hen auto des Platon!
Das ganze Weben und Wirken der Seele auf dieser Welt bezieht sich auf jene ewige Sehnsucht. Je lebhafter diese ist, desto mehr befreit sich die Seele von der Herrschaft des Körpers; desto besser ist sie; desto näher der Gottheit. Ohne diese Sehnsucht wäre das Weltall ein Traum.
Der Körper schließt den Geist in seine Hülle wie der Blumentopf die wachsende keimende Wurzel. Immer reicher, saftiger und voller wird der Keim und drängt sich am Ende siegend aus dem Topfe.[184]
Der Körper ist wie ein Spiegel, durch den die Seele alles beschauen und erkennen kann, aber nicht unmittelbar, nicht rein und ganz. Einst wird sie, wenn sie frei ist, die Dinge schauen, wie sie sind, ohne Hülle, nicht nur an der Oberfläche, durch und durch.
Auch in der Bildung des Körpers offenbart sich der schaffende göttliche Verstand. Er ist das schönste vollendetste Werk des Schöpfers; denn die Seele ist ja kein Werk, sondern entflossen aus Gott, ewig, einfach.
Auch die Auflösung des Körpers geschieht nicht plötzlich, sondern nur allmählich. Wenn er endlich stirbt, so lösen die edelsten geistigen Säfte sich von ihm ab und bilden einen für uns unbegreiflichen feinern und zartgewebten Lichtkörper. Denn nicht mehr das rauhe Element der Erde bildet die Hülle, sondern das zartere des Lichts.
Aber nicht auf einmal kann die befreite Seele nun der Gottheit nahe kommen. Der Abstand ist zu groß. Darum schwebt sie auf eine andere Welt, wo sie vollkommnerer Wirksamkeit sich erfreut. Da aber alle Seelen, die in unserer Welt waren, einen gleichorganisierten Körper hatten, so muß auch bei allen dieselbe Körperauflösung, dieselbe Bildung einer neuen Hülle stattfinden. Aus eben diesem Grunde kommen sie auch in die gleiche Welt. Denn die Abstufungen von Vervollkommnung unter uns sind zu gering gegen das Riesenmäßige des Unendlichen1. So wandeln wir von einer Welt zur andern wie Bienen von Blume[185] zu Blume. Denn unser Sein auf dieser Erde ist so wenig ein Leben als ein Atom eine Welt.
Wir werden immer reiner und vollkommner, je näher wir der Gottheit kommen, aus der wir entstanden sind.
Alles, was ist im Weltall, ist schön und gut, von den Millionen im Äther schwimmenden Welten bis zum Blumenblättchen, das auf einer Spiegelwelle schwimmt; von der Riesensonne, die ihre Lichtwogen durch den unermeßlichen Raum auf unsere wandelnde Erde sendet, bis zum einsamleuchtenden Weben des Glühkäfers auf der dämmernden Nebelhaide. Er ist ja gebildet vom Geiste des Schönen und Guten. Das ganz zu fühlen, das allein zu fühlen, das ist das Streben, mit dem wir wandeln von Sonne zu Sonne, von einer Milchstraße zur andern, uns vollendend und annähernd dem Höchsten, in ewiger ununterbrochner Stufenleiter. Unser Dasein entfaltet sich immer größer und freier; unsere Kräfte schwellen gewaltig an und wirken mit immer größerer Stärke, schaffen und weben mit immer reicherer Fülle. Noch brauchen wir einen Körper, daß unser Geist nicht erblinde vom allreinen Licht, von der heiligen alldurchdringlichen Schöne Gottes. Immer reiner aber wird der ewige, zur Reife schwellende Geist; immer mehr Festigkeit erhält er durch die in immer größern Erscheinungen geoffenbarte Gottheit; immer riesenmäßiger werden die Flügel, je mehr sie getränkt werden von der zarten wallenden Morgenschöne des unendlichen Vaters. Unsere Körper werden immer feiner, ätherischer, farbloser, reiner, bis[186] wir endlich gar keine Hülle mehr brauchen, Geist und Geist mit der Gottheit zusammenfließen und in ihr, im Anschaun unserer Vollkommenheit, in alle Ewigkeit fortleben.
Ich schwieg.
Schön! rief Katon. Du hast Dich gezeigt, wie ich's erwartete. Schwärmerisch!
Aber beseligend! lispelte Atalanta und drückte mir die Hand mit einem Blicke, der mir ihre tiefe schöne Seele in ihrer unendlichen Durchsichtigkeit zeigte.
Cäcilie weinte und sagte endlich, zum blauen Himmel blickend, mit tränenvollem Auge: Ich werde Euch wiedersehen, Vater und Schwester! Katon sah sie schmerzlich an.
Wir standen auf. Atalanta hüpfte an meiner Hand den waldigen Bergpfad hinunter. Wir waren wie Kinder.
1 νους πας ὁμοιος εστι και ὁμειξων και ὁ ἐλασσων.
Anaxagoras
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