Atalanta an Phaethon

[214] Warum dies fürchterliche Glühen? Dies verwirrte innerliche Beben? Dieser Abfall von der Natur?

O Du, den ich liebe, mit Dir ist es weit gekommen! Phaethon, mein Auge füllt sich mit Tränen, mit Tränen für Deine Seele!

Warum hast Du den Weg verloren? O Phaethon, dachtest Du denn nicht an mich?

Ich sah Dich und bebte. Wie eine Erinnerung aus den Tagen eines schöneren Lebens, wie die Erfüllung einer seligen Ahnung war der Blick Deines Auges.

Da schwammen wir zusammen, Seele mit Seele, Geist mit Geist, schauernd in Wonne! Du fühltest, Du lebtest in mir, und ich in Dir! Unser Dasein war verschmolzen, über und über getaucht in überschwängliches Entzücken wie zusammengeflossene Wölkchen ins glühende wallende Meer der Abendröte.

Du führtest mich mit Dir fort, die Bebende, wie der kühne Adler die zarte Taube. Ich folgte Dir, und mir schwindelte nicht.[215]

Mein Inneres entfaltete sich wie der lebensreiche geschlossene Blumenkeim an Deinem Busen, Geliebter, an Deinem Munde! Du dachtest, und ich fühlte; Du dachtest, und ich ahnte. Du warst der schaffende kräftige Sinn; ich war, voll erwiedernder Liebe, voll Willen und Neigung, die Überlegung; und aus uns entsprossen wie heitere lächelnde Kinder die Weisheit und Tugend.

Ich hing an Dir mit einem Busen voll Liebe wie Immergrün um sonnige Felsen, und wir schwärmten wie jugendliche Sommervögel um alles Gute und Schöne und sogen jene Fülle daraus, jene allbeseelte Innigkeit, die so lebendig macht, so offen für jede Stimme der Gottheit in uns und außer uns.

Unser ganzes Wesen war Andacht. Wenn wir wandelten in der Natur, unser Inneres so wogte und doch so tiefbeseligt war, aus Bäumen und Blättern, Blumen und Gräsern, aus Wellen und Wolken nur Eines uns überquoll, der Geist der Gottheit in seiner stillen ruhigen Größe, um uns, in uns alles so innig war, so warm und so voll, so vieles und das Viele nur Eines ... Diese Fülle und doch dieser selige Gleichklang! Ewiger Frühling, ewige Jugend! O, das war schön!

Ordnung überall und Übereinstimmung! Und Du hast das geheimnisvolle Band aus dem inneren Auge verloren, das diese Mannigfaltigkeit zur Einheit bringt? Überall Leben und Liebe! Du allein bist ohne Glauben, Hoffnung und Zuversicht?

Hab' ich die Kraft verloren, Dich glücklich zu machen?[216]

O warum diese verzehrende Glut, dieses betäubende Sehnen? Du bist so unruhig geworden, so wild in der Ferne; und meine Seele liebt Dich doch mit so viel Frieden, so viel Ruhe und so viel Stärke.

Die höchste Liebe ist wie das Schweigen der allbeseelten stummlebendigen Natur, tief und ruhig wie das klare unermeßliche Meer! Ewig, unergründlich, unaussprechlich!

Ahnst Du das nicht in stillen Nächten, wenn Du allein bist und doch so warm Dich geliebt fühlst, so innig gedrückt an den Mutterbusen der Natur?

Die Schöpfung ist wie ein ungeheurer Baum, der ewig sich gleich bleibt. Auf ihm blühen, wachsen und welken die Welten; sie glühen im dunkeln Raume wie freundliche goldene Früchte im dunkel schwellenden Laub. Unter ihm wandelt Gott. Sein Geist durchsäuselt den Baum und stärkt und erhält mit Liebe die Früchte. Sagen Dir das nicht die Sterne des Himmels?

Lieber, o wie machst Du mir bange? Wie möchte ich um Dich sein, Dich zu schützen, in Liebe zu erhalten. Gedenkst Du der Nacht, wo wir uns gelobten, uns zu suchen im Mond, dem keuschen Bilde der ruhigen unveränderlichen Gottheit? O geliebter Jüngling, warum vergaßest Du denn den heiligen Schwur?

Die drei Säulen sind verlassen. Einsam steht der geliebte Homeroskopf, wo jene Fülle der Gesichte wie zartbewegtes Laub um uns spielte. Nur im Tempel des Eros sitze ich oft einsam und lange und weine, weine um Dich! Da schweben zu mir heran die Geister geschwundener Stunden. Die Vergangenheit naht an[217] der Hand der Erinnerung wie ein weinendes Kind am Arme der Mutter, und Dein Bild, Dein Wesen begegnet mir wie das Wehen zarter Lindenblüte.

Oft bin ich heiter. Mein Schmerz ist so süß. Natur, Gott, Unsterblichkeit, Liebe, alles wird mir eins. Ein überströmendes Gefühl! Ein tiefer, sich selbst stärkender Sinn!

Katon ist wieder still geworden, aber ohne Schmerz. Nur manchmal wird er offner und verklärter, wenn wir des Abends von Griechenland sprechen. Dann blickt er oft lange stumm in Cäciliens Auge, seufzt und schweigt. Oft mahnen sie sich auch an die Tage, wo sie am Eurotas lebten. Ich werde dann still und immer stiller und weiß nicht warum? Er ist so ernst, so groß. Sein Schweigen ist so tief.

Lebe wohl, Phaethon! Lege meine Worte in Deinen Busen!

Ruhe kehre Dir von oben, Friede von Gott! O, kein Mädchen hat inniger, heißer geweint um den Geliebten als das Deine um Dich.

Gedenke meiner, Phaethon, gedenke jener Nacht, wo wir uns trennten!

Quelle:
Wilhelm Waiblinger: Phaeton. Teil 1 und 2. Dresden 1920, S. 214-218.
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