16

[398] Als Christian wieder über den Korridor ging, fiel sein Blick auf eine Gestalt, die unbeweglich im Halbdunkel stand. Er erkannte Johanna, und er sah, es mußte so sein, daß sie hier stand und auf ihn wartete.

Sie schaute ihn nicht an; sie schaute zu Boden. Erst da er vor sie hintrat, hob sie die Augen, blickte aber schüchtern an ihm vorbei. Ihre Lippen zuckten. Ein Warum war es, das darauf zuckte. Sie war unterrichtet von allem, was zwischen Christian und Eva vorgefallen war. Daß die beiden einmal zueinander gehört hatten, war ein enthusiastischer Gedanke für sie; was jetzt sich abspielte, eben noch war sie fliehende Zeugin gewesen, dünkte ihr schimpflich, und sie begriff es nicht.

Phantasievoll und sensitiv, liebte sie die Stolzen und litt, wenn Stolz und Würde fielen. An einem idealisierten Begriff von Vornehmheit hing ihr ganzes Herz; mißverstand sie ihn zugunsten äußerlicher Formen und Moden, so litt sie doppelt durch diesen Zwiespalt, dem sie nicht gewachsen war, und der sie der Frivolität überlieferte.

»Es ist spät,« flüsterte sie scheu; es war keine Aussage, es war ein Rettungsversuch. Drei Signale gab es, die sie aufhorchen gemacht hatten, jedesmal, wenn von Christian die Rede gewesen war: der Elegante, der Hochmütige, der Eroberer aller Herzen. Das rief, das rührte auf; das war eine Vereinigung von Vorzügen, um die Tage eines Jahres mit Begierden zu füllen.

Sie war Crammon ins Abenteuer gefolgt, obgleich sie schon eine Stunde, nachdem sie ihn kennengelernt, von ihm gesagt hatte: »Er ist ein Gebirge von Komik.« Sie war ihm gefolgt wie eine Sklavin, die sich auf den Sklavenmarkt führen läßt, in der Hoffnung, das Auge des Khalifen auf sich zu ziehen.[399]

Aber sie glaubte an keine Kraft in sich. Sie zerstückte ihre Leidenschaften in kleine Gelüste, freiwillig und mit Fleiß; und litt wieder; und lachte über sich. Zum Raub fehlte der Mut; Naschhaftigkeit ersetzte den Schwung des Genießens. Und sie mokierte sich über ihre verunglückte Natur; und litt.

Da stand er nun vor ihr. Sie erschrak und wunderte sich, trotzdem sie ihm aufgelauert hatte. Sie wollte ihn verwegen finden, weil er nicht wich; da es nicht gelang, wurde sie sich gleich Auswurf. »Es ist spät,« flüsterte sie, nickte ihm grüßend zu und öffnete die Tür ihres Zimmers.

Christian bat stumm, mit einer Miene, die unwiderstehlich war. Er schritt hinter der Zitternden über die Schwelle. Ihr Gesicht wurde hart, aber sie konnte nicht Komödie spielen. In ihren Augen war fließende Hingebung, bevor noch das Blut davon wußte. Die Blässe, die ihr Gesicht überstrahlte, ließ es in einer neuen Anmut schwimmen. Nichts Häßliches war mehr darin; die stürmische Erwartung, genommen zu werden, straffte die gebrochenen Linien und sammelte die sonst unharmonisch verstreuten Teile von Weichheit, Sanftmut und Zärtlichkeit.

Ihrer sinnlichen Wirkung war sie ziemlich sicher; sie hatte das Fluidum an manchen erprobt, denen man Halbes gab, um Halbes zu empfangen. Man hatte sich irgendwie betäuben müssen und hatte mit falschem Geld bezahlt, ohne den Ernst der Forderungen anzuerkennen: ein stillschweigendes Übereinkommen innerhalb ihrer Gesellschaftsschicht. Hier bewährte sich die Übung nicht mehr. Nichts war läßlich, alles streng; der Nacht, die ihr entgegentrat, ergab sie sich, ohne an Zukunft und Verantwortung zu denken.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 398-400.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
Christian Wahnschaffe (2)
Christian Wahnschaffe (2); Roman in Zwei Banden
Christian Wahnschaffe Band 1
Christian Wahnschaffe Band 2
Christian Wahnschaffe: Roman