[184] »Hatten Sie Furcht?« fragte Christian auf der Straße.
»Ein wenig,« antwortete Ruth. Sie lächelte, aber sie zitterte noch.
Sie schlugen nicht den Heimweg ein. Sie gingen, in entgegengesetzter Richtung, durch viele Straßen. Christian ging schnell, und Ruth hatte Mühe, an seiner Seite zu bleiben. Es wehte scharfer Wind; sie trug nur ein ärmliches Mäntelchen, das sich blähte.
»Ist Ihnen kalt?« fragte Christian. Sie verneinte. Eine Wolke gelber Blätter wirbelte vor ihnen auf. Christian ging und ging.[184]
»Die Sterne scheinen ja,« sagte er, einen flüchtigen Blick zum Himmel werfend.
Sie gelangten in eine öde breite Straße, durch deren Mitte sich eine Schnur von Bogenlampen bis in die Unendlichkeit zog. Die Häuser sahen unbewohnt aus.
Sie gingen und gingen.
»Sagen Sie etwas,« bat Ruth, »erzählen Sie mir etwas von sich. Nur einmal, nur heute.«
»Von mir ist nichts Gutes zu erzählen,« antwortete er in den Wind hinein.
»Gut oder nicht gut, ich werd es dann wenigstens wissen.«
»Aber was denn?«
»Irgend etwas.«
»Ich muß suchen; ich habe kein Gedächtnis für das, was ich erlebt habe.« Aber da erinnerte er sich schon einer Nacht, die er versunken geglaubt. Das damals Geschehene wurde hell in Drohung. Es hing auf geheimnisvolle Art mit Ruth zusammen. Bedürfnis zu bekennen überfiel ihn wie Hunger.
»Nicht suchen,« sagte Ruth, »das, was Ihnen entgegenkommt.«
Er mäßigte seinen Schritt. Arm an Worten, stellte er das Faktum vorläufig nüchtern in sich fest.
Lächelnd drängte Ruth: »Fangen Sie nur an. Das erste Wort ist das schwerste.«
»Ja, das erste Wort ist das schwerste,« stimmte er zu.
»Ist es lange her, das, woran Sie denken?«
»Es ist wahr, ich denke an etwas Bestimmtes. Sie sahen gut.« Er wunderte sich schwerfällig. »Es ist vier Jahre her. Ich machte mit zwei Freunden eine Autotour nach Süditalien.« Er stotterte; die Worte waren lahm. Ruths unfaßbar süßzwingender Blick jagte sie aus Verstecken heraus. Allmählich flossen sie williger.
Er und die Freunde waren also an einem schönen Maiabend nach Aquapendente gekommen, einer Stadt tief in[185] den Abruzzen. Eigentlich hatten sie bis Viterbo gelangen wollen, aber das Felsennest gefiel den Begleitern Christians, und sie bestimmten ihn, zu bleiben. Er zögerte lange; »ich wollte ja nur immer rasen und rasen,« sagte er. Als sie vor dem Albergo hielten und die Freunde auf ihn einredeten, war ihm der Gedanke unangenehm, in dem schmutzigen Haus übernachten zu sollen. Da schritt von der hohen Kirchentreppe gegenüber ein junges Mädchen herunter, so lieblich, so majestätisch, wie er wenige vorher gesehen hatte; nun mochte er selbst nicht weiter. Der Wirt, gefragt, wer das Mädchen sei, nannte, mit Achtung in der Stimme, den Namen. Es war die Tochter eines Steinmetzen namens Pratti. Christian sagte, er müsse sie bringen; er solle ein Souper bereiten und Angiolina Pratti dazu bitten. Das lehnte der Wirt ab. Christian forderte ihn auf, den Vater herzubringen. Er antwortete, er wolle ihn bringen. Die Freunde suchten Christian sein Vorhaben auszureden und sagten, die Frauen dieses Landes seien scheu und stolz und sie zu gewinnen sei unter Umständen nicht leicht; man müsse es jedenfalls zarter anfassen als er im Begriff sei, es zu tun. Christian lachte sie aus, sie stritten hin und her, schließlich wurde er trotzig und sagte, er wolle etwas zustande bringen, was sie für vollkommen unmöglich halten würden, und dazu brauche es weder Kunst noch Geschicklichkeit noch Mühe, sondern einfach die Kenntnis des Charakters dieser Leute. Der Vater des Mädchens machte seine Aufwartung; es war ein weißhaariger, weißbärtiger Mann von noblen Manieren. Christian geht ihm entgegen und redet ihn an. Es würde ihm und seinen Freunden Vergnügen bereiten, in Gesellschaft von Signorina Pratti zu soupieren, sagt er. Pratti runzelt die Stirn und antwortet, das Anliegen befremde ihn; er habe nicht die Ehre, die Herren zu kennen. Christian faßt ihn scharf ins Auge und fragt: Um welchen Preis würden Sie Ihre Tochter Angiolina heute abend um acht Uhr nackt zu uns ins Zimmer und an unsern Tisch führen? Pratti[186] zuckt zurück; er keucht; er schaut ihn mit rollenden Augen an; die Freunde horchen erschrocken auf; Christian sagt zu dem Alten: wir sind anständige junge Leute; Sie können sich auf unsere Verschwiegenheit verlassen; wir wollen nichts weiter als Angiolinas Schönheit bewundern. Pratti geht mit aufgehobenen Armen wild auf ihn los. Er war darauf vorbereitet. Er sagt: Um welchen Preis also? Fünftausend? Der Italiener stutzt. Er sagt: Zehntausend? und nimmt aus der Brieftasche zehn Scheine. Pratti wird bleich und schwankt. Christian sagt: Zwölftausend? Er merkt an des andern Miene, es ist ein unermeßlicher Schatz für ihn; er hat ein Leben lang gearbeitet und nie so viel beisammen gehabt. Das macht Christian noch toller, und er bietet fünfzehntausend. Pratti öffnet die Lippen und seufzt: O Signor! Es klang so, daß es Christian hätte nah gehen sollen; »aber mir ging nichts nahe damals,« sagte er. Er wußte nur, daß er seinen Willen durchgesetzt hatte. Der Mann nahm das Geld und taumelte hinaus. Am Abend setzten sich die jungen Leute mit einiger Spannung an die hübsch hergerichtete Tafel des Wirts. Altes Silbergeschirr und geschliffene Gläser waren aufgetragen, Rosen standen in kupfernen Gefäßen, dicke Wachskerzen waren angezündet, der Raum hatte Ähnlichkeit mit dem Saal in einem Schloß. Es wurde acht; es wurde viertel neun; die Unterhaltung stockte; alle blickten nach der Tür; Christian befiehlt dem Patron, daß er erst wieder eintreten solle, wenn er gerufen würde, denn er wollte ja kein öffentliches Spektakel geben; endlich um halb neun erscheint der alte Pratti und hält auf seinen Armen die Tochter. Sie ist in einen Mantel gehüllt. Er bedeutet den jungen Leuten durch einen Blick, die Türen zu schließen. Sie tun es. Er streift den Mantel ab, und sie sehen die wunderbare Angiolina nackt. Ihre Hände und ihre Füße sind mit Stricken zusammengebunden. Er setzt sie auf den Sessel, der leer neben Christian steht. Ihre Augen sind geschlossen. Sie schläft. Aber es ist kein natürlicher Schlaf; sie ist betäubt worden,[187] wahrscheinlich mit Mohnsaft. Pratti macht eine tiefe Verbeugung und geht. Die drei Freunde schauen den gefesselten herrlichen Körper an, das leicht geneigte Haupt, das rosige Gesicht, die frei hängenden Haare; mit Triumph und Übermut wars vorbei. Einer geht ins Schlafzimmer und bringt einen bunten Schal, den schlägt er um das Mädchen, und Christian weiß es ihm Dank. In aller Hast verzehrten sie etwas von den kalten Schüsseln, der Wein blieb unberührt. Dann gingen sie hinunter, bezahlten den Wirt, riefen den Chauffeur und fuhren noch in der Nacht die Straße nach Rom weiter. Keiner redete während der Fahrt. Auch später sprach keiner mehr von Angiolina Pratti. Es war für Christian schwer, das Bild loszuwerden: in dem Saal das Mädchen allein unter Rosen und brennenden Kerzen, gefesselt und betäubt. Allmählich gelang es doch; es kamen ja viele neue. »Vorhin, als wir das Haus verließen, ist es so frisch gewesen wie am Tag von Aquapendente,« sagte er; »ich mußte immer daran denken, ich weiß nicht, warum.«
»Wie seltsam,« flüsterte Ruth.
Sie gingen und gingen.
»Wohin gehn wir denn?« fragte Ruth.
Christian sah sie an. »Was ist seltsam? Daß ich es Ihnen erzählt habe? Eigentlich war mir, als sei es überflüssig, als wüßten Sie es ohnehin.«
»Ja,« gestand sie schüchtern, »oft steh ich in Ihnen drin, fast wie in einer Flamme.«
»Sie haben Mut, daß Sie so etwas sagen.« Er liebte nicht solch hohe Worte, aber dieses bewegte ihn.
»Sie sollen sich nicht schämen,« flüsterte sie.
Er antwortete: »Könnt ich sprechen wie ein richtiger Mensch, mir bliebe vieles erspart.«
»Erspart? Was denn erspart? Möchten Sie sich sparen? Dann wären Sie es nicht. Nicht ums Sparen handelt sichs. Verschwenden ist notwendig, alles hinverschwenden, maßlos.«[188]
»Wie haben Sie urteilen gelernt, Ruth? Sehen und fühlen und wissen, und den Mut, woher haben Sie den?«
»Ich möchte Ihnen auch etwas erzählen,« sagte Ruth.
»Ja, erzählen Sie mir etwas von sich.«
»Von mir? Ich glaube nicht, daß ich es kann. Ich will Ihnen von jemand erzählen, der mir sehr nahe steht. Von einer Schwester. Keiner leiblichen Schwester, ich habe ja keine. Ich sagte vorhin ›seltsam‹, weil mir diese Angiolina Pratti auch wie eine Schwester ist. Es sind auf einmal drei Schwestern da: Angiolina, ich und die, von der ich Ihnen erzählen will. Es ist eine ziemlich traurige Geschichte. Das heißt am Anfang, das Ende ist nicht mehr ganz so traurig. Ach, das Leben ist so wunderbar, so erschütternd wunderbar, so reich und so gewaltig!«
»Ruth, kleine Ruth,« sagte Christian.
Sie erzählte. »Ein Mädchen, ein Kind war es. Lebte mit ihren Eltern in Slonsk, weit im Osten. Es ist jetzt fünf Jahre her, daß die Sache passierte. Der Vater, sehr arm, war als zweiter Buchhalter in einer Spinnerei angestellt, aber er wurde so gering entlohnt, daß er kaum die Miete für die elende Wohnung aufbringen konnte. Die Mutter hatte schon lang gekränkelt; Kummer überall das Mißlingen zehrte ihre letzten Kräfte auf, und im Winter starb sie. Die Leute waren die einzigen Juden in Slonsk, und um die Leiche zu bestatten, mußte sie nach Inowrazlaw geführt werden, wo der nächste jüdische Friedhof war. Eisenbahn fährt da keine, also blieb nur ein Fuhrwerk. Morgens um sieben Uhr, Ende Dezember wars, kam ein Leiterwagen, und der Sarg mit der Leiche der Mutter wurde daraufgelegt. Der Vater, der Bruder und das Mädchen folgten dem Wagen zu Fuß. Das Mädchen war damals elf Jahre alt, der Bruder achteinhalb. Es schneite in dicken Flocken, die Landstraße war unterm Schnee verschwunden, man kannte den Weg nur an den Bäumen rechts und links. Als sie aufbrachen, war es noch finster, und als[189] es Tag wurde, gab es nur zwittriges Licht. Das Mädchen war unbeschreiblich traurig, und die Traurigkeit wurde mit jedem Schritt größer. Wie es nun vollends Tag geworden war, so ein scheinhafter Nebeltag, flogen von allen Seiten Krähen herbei. Vermutlich wurden sie durch den Leichnam im Sarg angelockt; das Mädchen hatte nie so viele gesehen; es schien, wie wenn sie aus dem Himmel stürzten; mit großen schwarzen Flügeln flogen sie voran und wie der zurück und krächzten unheimlich in die dicke, kalte Stille. Da wurde die Traurigkeit so arg, daß das Mädchen zu sterben wünschte. Sie blieb ein wenig zurück; Vater und Bruder merkten es nicht im Schneegestöber; der Fuhrmann schritt vorn bei den Pferden. Sie ging über einen Acker auf ein Gehölz zu, und dort setzte sie sich hin und beschloß zu sterben. Die Sinne dämmerten bald ein; da kam ein alter Bauer, der Holz aufgelesen hatte, aus dem Wald, und wie er sie gewahrte, schon regungslos und halb schlafend, stand er zuerst eine Weile, dann machte er sich daran, ihr alles, was sie anhatte, vom Leibe zu ziehn, den Mantel, die Schuhe, das Kleid, die Strümpfe und schließlich auch das Hemd. Die Bauern sind dort sehr arm. Sie konnte sich nicht wehren, sie spürte, was ihr geschah, nur wie im tiefen Traum, und als er aus den Sachen ein Bündel gemacht hatte, ließ er sie für tot im Schnee liegen und humpelte gegen die Straße. Er marschierte eine Weile und traf den Leiterwagen mit dem Sarg und den zwei Männern und dem Knaben. Der Wagen war stehengeblieben, denn sie hatten das Mädchen vermißt. Am Chausseerand ragte ein Christuskreuz empor, und das war das erste, was den Bauern stutzig machte. Es erschien ihm nicht als ein Zufall, daß da ein Christus stand, neben dem Wagen mit dem Sarg. Er hat es später bekannt. Er sah die Hunderte von Krähen, die wild und hungrig krächzten, da erschrak er. Er sah, wie der Vater verzweifelt war und sich anschickte umzukehren und nach allen Himmelsrichtungen auslugte und in den Nebel hineinschrie; da schlug ihm das[190] Gewissen. Er fiel vor dem Kreuz auf die Knie und betete. Der Vater fragte ihn, ob er nicht ein Kind gesehen hätte; da deutete er und wollte sich davonmachen und lief über die Felder, aber es trieb gerade dorthin, wo er das Mädchen beraubt und verlassen hatte. Er hob den Körper auf seine Arme, wickelte ihn in seinen Mantel und drückte ihn an seine Brust. Der Vater war ihm gefolgt und nahm ihm das Mädchen ab, fragte nicht, warum es so nackt und bloß sei, und sie rieben die Haut so lange mit Schnee, bis die Erstarrte wieder die Augen aufschlug. Da küßte der Bauer das Mädchen auf die Stirn und machte ein Kreuz über ihr, einer Jüdin. Der Vater zankte deswegen mit ihm, aber der Bauer sagte: Verzeih mir, Bruder, und küßte ihm die Hand. Von der Zeit an ist eine Traurigkeit solcher Art nie mehr über das Mädchen gekommen. An den Moment, wo sie der alte Bauer in seinen Mantel wickelte und sie an seine Brust drückte, hat sie nur eine ferne Erinnerung behalten, aber ich glaube, da ist sie zum zweitenmal geboren worden, besser und stärker als das erstemal.«
»Ruth, kleine Ruth,« sagte Christian.
»Vielleicht ist auch jene Angiolina, meine andre Schwester, aus dem vorübergehenden Tod zu einem froheren Leben aufgewacht.«
Christian antwortete nicht. Wie sie so neben ihm ging, fühlte er, es ging ein Licht an seiner Seite.
An einer Ecke der öden Straße flammte ein Auslagenfenster. Sie traten hin, mit gleicher Wendung und wie auf Beschluß. Der Laden innen war leer und schon versperrt, im Fenster lag ein kostbarer Prunkpelz aus Zobel, verlockend ausgebreitet, ein Sinnbild des Reichtums, der Wärme und des Schmuckes. Christian schaute Ruth an, und er sah ihr ärmliches Mäntelchen, in dem sie fröstelte. Und er sah, daß sie arm war. Und es wurde ihm bewußt, daß auch er arm war; genau wie sie, unabänderlich. Da lächelte er; es dünkte ihm sinnvoll, und er verspürte eine Freude, die etwas Listiges und Entzücktes hatte.
Ausgewählte Ausgaben von
Christian Wahnschaffe
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