15

[211] Auf der Alabasterplatte des Kamins brannten Kerzen in silbernen Renaissanceleuchtern. Auch das grellere Licht der brennenden Scheite blieb auf die Nähe beschränkt und verbrauchte seine Kraft, indem es die Gestalten von Eva und Cornelius Ermelang in Glut setzte. Bis zu den Porphyrsäulen an den Wänden und den goldverzierten Kassetten an[211] der Decke drang es kaum noch hin; in den hohen Spiegeln zuckte rotes Flimmern, und die purpurnen Damastvorhänge über den riesigen Fenstern, den Raum pathetischer schließend als die mächtigen Flügeltüren, saugten die Reste der Helligkeit ohne Strahlung auf.

Der weiße Spitzenüberwurf, den die Tänzerin trug – Kenner behaupteten, jeder Quadratzoll daran ergebe das Jahreseinkommen eines Gouverneurs –, war auf der dem Feuer zugewendeten Seite belebt wie ein phantastisches Pastell.

»Sie hatten viel Nachsicht mit mir, Sie waren oft vergeblich hier,« sagte Eva; »ich fürchtete, Sie würden wieder abreisen, ohne daß ich Sie gesehen hätte. Aber Susanne wird Ihnen ja geschildert haben, wie meine Tage verlaufen. Menschen und Ereignisse wirbeln, ich habe Mühe, ein Bewußtsein von mir zu behalten. Freunde werden mir entfremdet, Gesichter wechseln, und ich merk es nicht; ein verrücktes Leben.«

»Und daß Sie mich trotzdem gerufen haben,« flüsterte Ermelang; »daß ich das Glück genießen darf, bei Ihnen zu sein. Nun erst habe ich alles erreicht, was mir der Aufenthalt in Rußland versprochen hatte. Wie soll ich Ihnen danken? Ich habe bloß meine armen Worte.« Er blickte sie mit seinen wasserblauen Augen gerührt und begeistert an. Das mit den armen Worten war wiederkehrende Figur bei ihm; aber ungeachtet seiner gekünstelten Wendungen war die Empfindung echt; ja, es war immer ein wenig zu viel Empfindung, zu viel Ergriffenheit in seiner Rede, es machte manchmal den Eindruck, daß er im Grunde gar nicht so weich und erschüttert war und sich im Notfall auch einzuschränken wisse.

»Was tut man nicht einem Dichter zuliebe,« versetzte Eva mit artiger Gebärde; »es ist die reine Zwecksucht. Ich werbe um mein Bild in Ihrem Geist. Von antiken und modernen Tyrannen weiß man, daß die einzigen Menschen, mit denen sie behutsam umgingen, die Poeten waren.«

Ermelang sagte: »Ein Wesen wie Sie existiert so elementar,[212] daß das Bild von ihm geringfügig dagegen ist, wie der Schatten eines Dings, wenn die Sonne im Zenit steht.«

»Subtil; aber Bild muß sein. Ich habe solches Vertrauen zu Ihrem Auge, daß ich von Ihnen erfahren möchte, ob ich wirklich so verändert bin, wie einige versichern, die mich in meiner Pariser Zeit kannten. Ich lache sie aus, doch daneben ist noch eine kleine Rebellion der Eitelkeit, Angst vor Vergehen und Verblühen. Sagen Sie nichts, Widerspruch wäre trivial. Erzählen Sie mir vor allem, wie Sie nach Rußland gekommen sind, was Sie gesehen, gehört, erlebt haben.«

»Ich habe wenig erlebt. Im ganzen war es eine Impression, so unvergeßlich, daß das einzelne bedeutungslos wurde. Gewisse Bedrängnisse hatten mir Paris verleidet, und die Fürstin Walujeff bot mir eine Zufluchtsstätte auf ihrem Gut in der Nähe von Petersburg. Jetzt muß ich wieder nach dem Westen, nach Europa, wie sie hier spöttisch sagen; der Spott hat recht. Ich verlasse meine seelische Heimat, Menschen, die mir nah waren, ohne daß ich sie kannte, eine Einsamkeit voll Melodie und Ahnung, um zurückzukehren in sinnloses Getöse, in Verwirrung und Isolierung. Ich war bei Tolstoi, bei Pobjedonoszew; ich habe den Jahrmarkt in Nischni-Nowgorod besucht und bin in der Troika durch die Steppe gefahren; um Menschen und Landschaft ist ein Hauch von Unschuld und kommender Zeit, von Dunkelheit und von Kraft.«

Eva hatte zerstreut zugehört. Die Hymnen ambulanter Literaten und Beobachter über Rußland begannen sie ernstlich zu langweilen. Sie verzog ein wenig die Lippe. »Ja, es ist eine besondere Welt,« warf sie hin und streckte ihre schönen Hände aus, um sie an der Glut zu wärmen.

Das hatte sie früher nie gehabt, dünkte es Ermelang, dies Versinkenlassen eines, mit dem sie gerade sprach.

Er fühlte, daß seine Worte keine Freundlichkeit bei ihr fanden, wurde verlegen und schwieg. Er schaute sie an, heimlich, mit dem inneren Auge, das streng war, und er sah die Veränderung,[213] von der sie gesprochen; er empfing das Bild, das sie gefordert.

Die Schmalheit des Ovals hatte eine Willenslinie, die von Güte nichts mehr besaß, von Heiterkeit nur noch wenig. Den Mund härtete Entschlossenheit. Verluste waren verzeichnet; um die Schläfen und unter den Lidern lagerten Schatten. Der Körper verriet herrische Bändigung, gerade in seinen Lockerungen jetzt, dem unvergleichlichen Gedehntsein und Ruhen wie bei wilden Katzen. Daß sie erstaunlich gearbeitet hatte, war Ermelang bekannt; man hatte ihm gesagt, daß sie sechs, sieben Stunden täglich ihren Übungen widmete wie in der Zeit der Lehre. Es bestätigte sich ihm in der Art, wie die Glieder und Gelenke satt von Rhythmus und Bewegung waren und mit dieser Fülle lässig spielten.

Aber nichts Tröstliches ging davon aus, keine Freiheit. Ermelang gedachte der Stimmen, die sie unstillbarer Machtgier bezichtigten, gefährlicher politischer Umtriebe, verhängnisvoller Konspirationen, des Einflusses auf gewisse Geheimverträge, die die Völker zu beunruhigen drohten, bei denen es sich um die Entfaltung einer äußerst verschlagenen journalistischen Hetze und um Werbungen und Parteiungen größten Stils handelte. Es war, wie wenn im Erdinnern ein Kohlenlager in Brand gerät, auf dem ein Kontinent noch arglos atmet.

Mißtrauische erklärten sie für eine verkappte Spionin im Solde Deutschlands; doch genoß sie die Freundschaft der französischen und der englischen Diplomaten. Beschöniger sagten, sie werde nur benutzt, um die Pläne und Wege des Großfürsten Cyrill zu decken; ihre Anhänger behaupteten, daß sie seine Absichten durchkreuze und sich nur zum Schein zu seinem Werkzeug mache. Der Adel war ihr abgeneigt; der Hof fürchtete sie; das niedere Volk, aufgestachelt durch Popen und Sektierer, sah in ihr das Unglück des Landes; bei einer Revolte in Iwanowa hatte man sie öffentlich als Hexe ausgerufen[214] und ihren Namen unter feierlichen Zeremonien verflucht. Erst gestern war ihm von einer Deputation Mohilewscher Bauern erzählt worden – er hatte sie dann auf dem Fischmarkt gesehen – die in Zarskoje Selo beim Zaren gewesen und in den Klagen über die Hungersnot, von der ihre Provinz heimgesucht war, abergläubisch verstockt auf den sprichwörtlich gewordenen Prunk der fremden Tänzerin hingewiesen habe. Der Zar habe nichts zu erwidern gewußt und still zu Boden geschaut.

All dies hing an ihr. Zu deuten blieb da nichts. Betrachtete er ihre schönen Hände, die in der Kaminglut schwammen, jeder Finger war ein zarter Leib, so ward ihm bang.

»Ist es wahr,« fragte er mit scheuem Lächeln, »daß Sie in der Schlüsselburg waren, dreimal nacheinander?«

»Es ist wahr. Hat man es übelgenommen?«

»Man hat sich jedenfalls gewundert. Die Kerkertüren haben sich noch niemals einem Fremden geöffnet; der Russe lernt sie nur kennen, wenn sie sich hinter ihm schließen. Man hat sich gewundert; niemand begreift, was Sie dazu trieb. Viele vermuten, Sie hätten bloß Dimitri Schelkow sehen wollen, der auf den Großfürsten geschossen hat. Sagen Sie mir den Grund; ich möchte den Schwätzern antworten.«

»Den Schwätzern muß nicht geantwortet werden,« entgegnete Eva. »Ich fürchte sie nicht und brauche keinen Verteidiger gegen sie. Ich weiß nicht, warum ich hinging. Möglich, daß ich Schelkow sehen wollte. Er hat mich beschimpft. Er hat sich die Mühe genommen, ein Flugblatt gegen mich zu verbreiten. Fünf seiner Freunde sind dafür nach Sibirien geschickt worden, sechzehn-, siebzehnjährige Knaben. Die Mutter eines von ihnen schrieb mir einen flehentlichen Brief; ich sollte ihn retten. Ich habe es versucht; es war umsonst. Vielleicht wollte ich wirklich Dimitri Schelkow sehen; es heißt von ihm, er habe Iwan Becker den Tod geschworen.«

»Schelkow ist einer der reinsten Menschen der Welt,« warf[215] Ermelang leise ein; »um ihn zu Geständnissen zu zwingen, hat man ihn gepeitscht.«

Eva schwieg.

»Gepeitscht,« wiederholte Ermelang; »diesen. Und es gibt noch Worte, es gibt noch Lachen, es scheint noch die Sonne.«

»Vielleicht wollte ich es sehen, wie sich ein Mensch unter Knutenhieben windet,« begann Eva wieder. »Vielleicht war es mir wichtig als ein Reiz. Ich muß mich nähren. Das Ungewöhnliche ist meine Speise. Eine Zuckung, ein originelles Kauern, und die Phantasie ist befriedigt. Aber ich habe ihn gar nicht gesehen,« fuhr sie mit dunklerer Stimme fort und blickte angestrengt an eine Stelle der Wand; »ich habe andere gesehen, solche, die zehn, zwölf, fünfzehn Jahre in einem finstern Steinloch zugebracht hatten. Einst hatten sie sich in der großen Welt bewegt, hatten ihren Geist mit edlen Dingen beschäftigt. Jetzt hockten sie in Fetzen auf Fetzen und drückten die Augen zu, weil sie das Licht der kleinen Laterne nicht aushalten konnten. Sie hatten verlernt zu blicken, verlernt zu gehen, verlernt zu sprechen. Es roch nach Verwesung in ihrer Nähe; jede ihrer Gebärden hatte einen sanften Wahnsinn. Aber auch um sie war es mir nicht zu tun. Um Frauen war es mir zu tun. Ich sah Frauen, eingekerkerte Frauen, um einer Überzeugung willen der Liebe, dem Leben, der Mutterschaft, der Hingabe entrissen und zum langsamen Foltertod verurteilt. Nicht einmal verurteilt, sondern vergessen. Viele sind einfach vergessen worden, und wenn die Freunde Gerechtigkeit verlangen, droht ihnen Gleiches. Ich sah eine, die als junges Mädchen gekommen war und nun als Greisin im Sterben lag. Ich sah Natalie Elkan, die in Kiew von einem Gendarmerieoberst vergewaltigt worden war und den Unhold mit seinem eignen Säbel erstochen hatte. Ich sah Sophie Fleming, die sich mit einem Stück Eisendraht geblendet hatte, weil man ihren Bruder vor ihren Augen gehängt hatte. Wissen[216] Sie, was sie sagte, als ich zu ihr ins Verließ trat? Sie steckte die Nase in die Luft und sagte: O, so riecht eine Dame. Da wußte ich auf einmal etwas von Frauen. Ich umschlang sie und küßte sie und raunte ihr ins Ohr, ob ich ihr Gift bringen sollte. Aber sie verneinte.«

Eva erhob sich und schritt auf und ab. »Menschen,« sagte sie; »ja, und es gibt Worte, es gibt Lachen, und es scheint die Sonne. Dies ist ein Saal, angefüllt mit Kostbarkeiten. Auf der Treppe stehen die Lakaien. Fünfzig Schritte von hier ist das Prunkbett, in dem ich schlafe. Alles mein. Was ich anrühre: mein; was ich anschaue: mein. Ich könnte den ganzen Erdball fordern, wenn sie ihn zu vergeben hätten; dann würf ich ihn wie eine Billardkugel in einen Tümpel, daß er nicht mehr im Sternenraum wäre mit seinem Schmutz und seiner Qual. Wie ich hasse! Wohin nur mit all dem Haß! Wo ist Erlösung von ihm? Ich glaube nicht mehr, nicht an die Kunst, nicht an Dichter, nicht an mich; ich hasse nur noch, zerstöre nur noch; ich bin verloren.«

»Wunderbare Eva!« rief Ermelang mit gefalteten Händen. »Denken Sie daran, wie vielen Sie viel gegeben haben.«

»Ich bin verloren,« sagte Eva und blieb stehen, »ich fühls, ich bin verloren.«

»Weshalb verloren? Sie spielen mit sich selbst.«

Sie schüttelte den Kopf und flüsterte die Verse aus dem Inferno: »O Simon mago, o miseri seguacci, /Che le cose di Dio, che di bontate / Debbon essere spose e voi rapaci / Per oro e per argento adulterate.«

Ermelang fügte sinnend hinzu: »Fatto v'avete Dio d'oro e d'argento: / E che altro è da voi agl'idolatre, / non ch'egli uno, e voi n'orate cento.«

»Was ist da draußen?« fragte Eva und lauschte. Man hörte grollende Stimmen von der Straße, dazwischen Rufe, Pfiffe. Auch Ermelang horchte, dann ging er an ein Fenster, hob die Draperie und schaute hinaus.[217]

Vor dem Palast, auf der breiten, schneebedeckten Straße stand eine Ansammlung von fünfzig oder sechzig Muschiks, in ihrer Tracht mit den Lammfellhüten und den langen Mänteln deutlich zu erkennen. Sie standen schweigend und blickten zu den Fenstern empor; sie hatten eine Menge Volks nach sich gezogen, Weiber und Männer, und diese gestikulierten gehässig und schienen die Muschiks aufzureizen.

»Ich glaube, es sind die Bauern aus Mohilew,« sagte Ermelang ein wenig ängstlich; »ich habe sie gestern durch die Stadt ziehen sehen.«

Eva trat neben ihn, warf einen flüchtigen Blick hinab und kehrte wieder in die Mitte des Saals zurück. Sie lächelte verächtlich. Da kam Susanne Rappard hastig herein und sagte mit Zeichen des Schreckens: »Leute sind unten. Pierre ist zu ihnen hinausgegangen, zu fragen, was sie wollen. Sie wollen mit dir sprechen. Sie bitten demütig, zu dir gelassen zu werden. Was soll man dem Gesindel antworten? Ich habe zur Polizei telefoniert. Mein Gott, was für ein Land, was für ein abscheuliches Land!«

»Gib ihnen Geld, Susanne,« sagte Eva mit gesenkten Augen; »es sind sehr arme Leute, gib ihnen alles Geld, das im Hause ist.«

»Unsinn!« rief Susanne entsetzt, »das nächste Mal werden sie das Tor einschlagen und plündern.«

»Tu, was ich dir befehle,« erwiderte Eva; »geh zu Monsieur Labourdemont; er soll dir geben, was er an barem Gelbe hat, und bring es ihnen hinaus. Oder jemand, der mit ihnen sprechen kann, soll es tun und ihnen sagen, ich sei schon zu Bett, ich könne sie nicht empfangen. Und laß noch einmal an die Polizei telefonieren, daß es überflüssig ist, einzuschreiten; hörst du, was ich dir befehle?«

»Ich höre,« sagte Susanne und ging.

Die Menge unten hatte sich vermehrt, der Lärm wuchs, Betrunkene johlten. Nur die Bauern blieben still. Der[218] Älteste war bis an den Rand des Gehsteigs getreten. Auf seiner Mütze lag eine kleine weiße Schneekuppel; auch in seinem Bart hing Schnee und Eis. Pierre, der Pförtner, hatte sich in seiner silberstrotzenden Livree vor ihm aufgepflanzt und maß ihn mit Hochmut. Der Bauer verbeugte sich tief, während er mit ihm sprach.

»Leben Sie wohl, lieber Freund,« wandte sich Eva an Ermelang; »ich bin müde. Bewahren Sie diese Stunde in Ihrem Gedächtnis, aber vergessen Sie sie, wenn Sie mit andern über mich reden. Das Innerste ist nur für einen. Gute Nacht.«

Als Ermelang aus dem Tor des Palastes trat, tauchte am Ende der Straße eine Abteilung berittener Polizei auf. Die Volksmenge verschwand mit geschulter Geschwindigkeit. Eine Minute später, und keiner war mehr zu sehen. Die Bauern aber wichen nicht von der Stelle. Ob ihnen Geld verabreicht wurde, wie Eva befohlen, erfuhr Ermelang nicht. Er mochte nicht das Schauspiel roher Gewalt abwarten, das sich ihm beim Anrücken der Berittenen bieten würde.

Quelle:
Jakob Wassermann: Christian Wahnschaffe. Berlin 56-591928, S. 211-219.
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