[223] Crammon hatte an die Gräfin Brainitz geschrieben: »Da ich mein Wort verpfändet habe, werde ich kommen. Doch ersuche ich Sie um die Gefälligkeit, Lätizia entsprechend vorzubereiten. Je näher der fatale Zeitpunkt rückt, je unbehaglicher wird mir zumute. Es ist eine harte Buße, die Sie mir auferlegt haben. Lieber wollte ich zum Berg Ararat wallfahrten, um einige Jahre als Einsiedler dort zuzubringen und nach den Überresten der Arche Noah zu forschen. Gewiß, ich war ein skrupelloser Vertilger wohlschmeckender Dinge, aber dieses hab ich nicht verdient. Was zuviel ist, ist zuviel.«
Die Gräfin antwortete, sie wolle ihm nach besten Kräften beistehen, damit die Peinlichkeit der Begegnung für ihn gemildert werde. Sie habe nichts dawider, daß das Kind sich an ihrem Herzen erst ausweine, bevor es einem Vater gegenübertrete, der sich mit solchen Klauseln und Ängsten zu dieser Würde bekenne. »Im übrigen, mein Herr,« schloß sie, »wir harren Ihrer. Lätizia ist aus Paris zurückgekehrt, bezaubernder als[223] je. Alle Welt liegt ihr zu Füßen. Ich hoffe, Sie werden davon keine Ausnahme machen.«
»Daß dich der Satan beiße,« fluchte Crammon und packte seine Koffer.
Als er in der Villa Ophelia ankam, so hieß das Landhaus der Gräfin, wurde ihm mitgeteilt, die Damen seien im Theater. Man führte ihn in das für ihn hergerichtete Zimmer; er wusch sich und warf sich in den Abendanzug, dann ging er in den Salon hinab, stemmte die Hände in die Taschen wie ein frierender Landstreicher und ließ sich übellaunig in einen Sessel fallen. Er hörte den Regen plätschern, und aus einem der Räume drang das Weinen eines Säuglings. Aha, das ist der Enkel, dachte Crammon moros, das Zwillingshalbe; wer schützt mich schließlich davor, daß man es mir auf die Knie legt und mich auffordert, es zu bewundern, oder zu streicheln, oder gar zu küssen? Wer, sage ich, behütet mich vor einer derartigen Attacke im Gartenlaubenstil? Dieser Gräfin ist manches zuzutrauen. So eine sentimentale Naive, die den Übergang in das ältere Fach nicht finden kann, ist zu allem fähig. Was gibt es Verdrießlicheres auf der Welt als ein kleines Kind? Es ist kein Mensch, es ist kein Tier; es riecht nach Kuheuter und Puder und macht sich durch widrige Geräusche unleidlich; es stochert mit seinen Gliedmaßen älteren Personen ins Gesicht, und wenn es nun noch zwei sind, wenn diese sämtlichen Unannehmlichkeiten in Verdopplung auftreten, dann ist man wehrlos ausgeliefert und muß billigerweise fragen: Was hast du, Bernhard Crammon, damit zu schaffen, du, den die Fortpflanzung des Menschengeschlechts lediglich im negativen Sinn interessiert?
Eine höhnische Lache besiegelte das Selbstgespräch Crammons. Da vernahm er heiter redende Stimmen, und Lätizia und die Gräfin traten ein.
Er erhob sich und war Kavalier, von einer süßen Freundlichkeit und dem Anstand der großen Welt.[224]
Sein Erstaunen über Lätizias Erscheinung verhehlte er nicht. Die österreichische Freude an schöner Weiblichkeit, ein angeborener Trieb zu huldigen, brach durch die Nebel egoistischer Verstimmung. Er fand, daß ihn entweder sein Gedächtnis im Stich gelassen habe, oder daß sie, seit er sie zuletzt in Wahnschaffeburg gesehen, zu einer bewundernswerten Entpuppung gelangt sei. Freilich, junge Mädchen, jeder Reise fern, waren das Ziel seines Augenmerks nie gewesen. Frauen, mit denen er sich liebevoll beschäftigte, mußten wissend und verantwortlich sein; das erleichterte die Verantwortung.
Die Gräfin ergriff nach der Begrüßung das Wort. »Liebe Kinder, jetzt muß ich euch für eine halbe Stunde allein lassen,« sagte sie mit ihrer norddeutschen Zungenfertigkeit in allen Lebenslagen; »ich gehe mir die Hände waschen. So ein Theater ist eine schmuddlige Sache. Alles daran ist schmuddlig: die Sammetpolster, das Publikum, die Komödianten und das Stück. Mich überkommt jedesmal Sehnsucht nach Wasser und Seife. Ihr könnt die Zeit benutzen, euch ein bißchen auszusprechen; nachher soupieren wir.«
Sie rauschte hinaus, nicht ohne Crammon einen starken Blick zuzuwerfen.
Crammon fragte sinnend: »Wissen möchte ich, weshalb sich dieses Gebäude Villa Ophelia nennt. Es gibt so viel Unerklärliches im Leben; dies gehört dazu.«
Lätizia lachte. Sie betrachtete ihn mit einer Mischung von Ironie und Scheu. Wie sie vor ihm stand, in ihrem Kostüm aus hellgelber, weicher Seide, Hals und Büste in einem feuchten Elfenbeinglanz, hatte Crammon einige Mühe, sich noch weiterhin bemitleidenswert zu finden. Lätizia näherte sich ihm einen Schritt und sagte schelmisch gefühlvoll: »Also mein Papa. Wer hätte das gedacht! Es muß unangenehm für dich gewesen sein, als sich eine vergessene alte Sünde plötzlich in einen lebendigen jungen Menschen verwandelte.«
Crammon, während ein Rest von Düsterkeit blieb, kicherte.[225] Er nahm ihre Hand zwischen seine beiden und drückte sie warm. »Ich sehe, wir verstehen uns,« sagte er, »und das beruhigt mich. Wovor ich mich gefürchtet habe, waren Ausbrüche, Tränen, und was bei solchen Anlässen sonst noch üblich ist. Nun, du hast Vernunft, das ist nett. Damit aber dem Zeremoniell Genüge geschehe, empfange den väterlichen Kuß von mir. Einen Kuß auf die Stirn. Es ist schicklich.«
Lätizia neigte den Kopf, und er küßte sie auf den Haaransatz. Sie sagte: »Wir haben also jetzt ein süßes Geheimnis miteinander? Wie soll ich dich vor Menschen nennen? Onkel? Onkel Crammon? Onkel Bernhard? Oder ganz einfach Bernhard?«
»Ich denke, ganz einfach Bernhard,« erwiderte Crammon. »Selbstverständlich bist du nach wie vor die rechtmäßige Tochter des verstorbenen Herrn von Febronius und seiner rechtmäßig angetrauten, ebenfalls verstorbenen Gattin. Unsere Situation erfordert einen besonders feinen Takt, von beiden Seiten.«
»Gewiß,« pflichtete Lätizia bei und setzte sich. »Wenn ich mir vorstelle, von welchen Gefahren man belauert ist. Hätte ich nun nichts gewußt und mich in dich verliebt! Entsetzlich. Übrigens merke ich, daß ich gar keinen Respekt vor dir habe, ich spüre etwas Schwesterliches; du gefällst mir ganz gut; wirst du damit vorliebnehmen? Oder findest du mich pietätlos?«
»Es ist vollkommen ausreichend,« sagte Crammon. »Ich kann dir überhaupt in diesem Punkt eine ökonomische Gebarung nicht dringend genug aus Herz legen. Die meisten Menschen gehen mit ihren Gefühlen um wie die Aschantiweiber mit Glasperlen; fortwährend klappern sie damit und kommen gar nicht auf den Gedanken, was für ordinärer Plunder es ist. Aber das nur nebenbei. Wir müssen für unsern Verkehr eine Art Programm entwerfen. Dies scheint mir wichtig, um jede Einmengung Unberufener zu verhindern.[226] Ich bin natürlich jederzeit bereit, dir mit Rat und Tat beizustehen. Du kannst auf meine Freundschaft, auf meine ... gebrauchen wir das odiose Wort, väterliche Freundschaft unbedingt zählen.«
Der in Gravität und Sorglichkeit gehüllte Eifer, mit dem Crammon darauf ausging, sich Entlastungen zu verschaffen, ergötzte Lätizia. In einer gewissen Hypokrisie war sie die würdige Tochter dieses Vaters: unter anmutigem Mienenspiel und unschuldig tuender Gelehrigkeit verbarg sie allerlei Mokantes und Eigensinniges. Sie entgegnete: »Es liegt kein Grund vor, daß wir unsre Freiheit beschränken sollten. Wir wollen einander nicht im Wege stehen und einander nichts schuldig sein. Jeder hat das Recht auf das Vertrauen des andern und die Pflicht, ihn gewähren zu lassen. Ich hoffe, das paßt dir.«
»Du bist eine sehr entschlossene Person, und ich habe dich für eine Schwärmerin gehalten, für ein Spinnwebchen. Haben dich die Viehzüchter dort im Feuerland so gewitzt? Ja, es paßt mir, es paßt mir ausgezeichnet.«
»Ich habe so viel vor mir,« fuhr Lätizia mit begehrlich leuchtenden Augen fort; »ich weiß gar nicht, wie ich mit allem fertig werden soll. Menschen, Länder, Städte, Kunstwerke; ich habe so viel Zeit versäumt und werde schon einundzwanzig Jahre alt. Tantchen wünscht, daß ich bei ihr bleibe, aber das ist unmöglich. Am ersten Dezember werd ich in München erwartet, am zehnten in Meran. In Paris war es göttlich. Ach Paris! Die Leute waren entzückend lieb mit mir; alle wollten mich haben.«
»Glaub ich, glaub ich,« sagte Crammon und rieb sich das Kinn; »wie hat denn das Abenteuer mit dem Vicomte geendet, von dem mir die Gräfin erzählte?«
»So? Hat sie dir davon erzählt?« fragte Lätizia errötend, »das war indiskret.« Einen Moment lang zeigte sich ein Ausdruck von Kummer und Beschämung in ihrem Gesicht; aber schlimme Erlebnisse, traten sie schon in ihr Bewußtsein,[227] vermochten es doch nicht zu verdunkeln. Gleich darauf lachten ihre Augen wieder, die Erinnerung an das Trübe war verwischt. »Morgen wollen wir Auto fahren; willst du, Bernhard? Willst du?« drängte sie ungestüm und streckte die Hände nach ihm aus; »du mußt auch den kleinen Baron Rehmer einladen, der im Grand Hotel wohnt; Stanislaus Rehmer; Pole, Bildhauer. Er wird mich modellieren, und ich werde Polnisch sprechen lernen. Ein scharmanter Mensch.«
»Erkläre mir nur eines,« fiel ihr Crammon ins Wort, »erkläre mir: was geht in Argentinien vor? Was hat der blauhäutige Bandit, in dem du einst die Essenz männlicher Tugenden erblicktest, gegen dich unternommen? Du bildest dir doch nicht etwa ein, er läßt es sich ruhig gefallen, daß du mit seinen beiden Sprößlingen das Weite gesucht hast? Was mich betrifft, ich hätte ja nicht einmal ein Butterbrot, viel weniger mein Bett mit ihm teilen mögen, aber du warst andrer Meinung, und das Gesetz kümmert sich um Geschmackswandlungen nicht.«
»Er hat die Scheidungsklage eingereicht; ich auch,« sagte Lätizia. »Es sind schon eine Menge Akten vollgeschrieben. Die Kinder behalte ich, denn er hat mich durch Mißhandlungen zur Flucht gezwungen. Ich mache mir nicht die mindeste Sorge darüber.«
»Zahlt er dir eine Apanage?«
»Bis jetzt nicht einen Pfennig.«
»Wovon lebst du also? Wie ich sehe und höre, lebst du auf großem Fuß. Woher kommen die Mittel? Wer bestreitet den Aufwand? Oder ist das alles nur Schaum? Machst du Schulden?«
Lätizia zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht recht,« gab sie befangen zur Antwort; »manchmal ist Geld da, manchmal nicht. Tantchen hat ein paar niederländische Bilder verkauft, die sie hatte. Man kann doch nicht immerfort nachrechnen wie ein Krämer. Warum sprichst du von diesen abscheulichen[228] Dingen?« In ihrer Stimme war ein so aufrichtiger Schmerz und Vorwurf, daß Crammon wie ein Sünder zu Boden blickte und, von ihrem Liebreiz gefangen, den Mut verlor, sie noch weiter mit den groben Wirklichkeiten zu belästigen. Auch erschien jetzt die Gräfin im Zimmer. Sie hatte blendend weiße Handschuhe an, und ihr Gesicht glänzte von frischer Sauberkeit wie Porzellan. Auf dem Arm trug sie Puck, das Löwenhündchen, das gealtert war und in einem marastischen Schlummer lag.
»Kinder, es ist serviert,« rief sie mit jener Munterkeit, die auf Bühnenerinnerungen beruhte.
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