[302] Allmählich wurde dem Kranken seine Krankheit zur Last, und mit den Kräften kehrte auch die Liebe in ihm wieder, wachte Sehnsucht und Entwürfe zu ihrer Befriedigung wieder auf. Am ersten Tage, den er außer dem Bette zubrachte, hörte er des Morgens schon seinen Boten an der Türe betteln: in langer Zeit hatte sein Ohr keinen so willkommnen Ton gehört. Mit froher Eilfertigkeit öffnete er die Tür und lud im Übermaß seiner Freude den Jungen höflichst in die Stube ein: er überreichte bei dem Hereintreten ein kleines, schmutziges Papierchen, das eine unleserliche, halb verwischte Schrift, mit Bleistift geschrieben, enthielt. Es war nichts herauszubringen als folgendes:
›Heinrich, ich verlas heute noch Dresden. Meine grausame Mutter hat mir schreiben lassen, daß sie in paar Tagen kommen und mich abholen will. In len wir uns find Ich halte mich nicht auf, wenn nicht gleich nachkömmst.
schreibe bald, wo ich bin, Lebe wohl.‹
Er drehte und wandte das Papier voller Ängstlichkeit und vermochte kein Wort weiter herauszubringen: der Ort, den sie ihm zur Zusammenkunft bestimmte, war verwischt, und[302] das meiste übrige erriet er mehr, als er es las. – »Wo hast du das Billett bekommen?« fuhr er den Jungen an.
Der Junge. Auf der Gasse bei der Oberstin Haustür hat mir's das Baroneßchen gegeben. Sie hatte eine schwarze Kappe auf – ich hätte sie nicht gekannt, wenn sie nicht gesprochen hätte –, sie sah aus, als wenn sie verreisen wollte, und ging sehr hurtig nach dem Tore zu
Herrmann. Wenn gab sie dir's?
Der Junge. Ehegestern abends.
Herrmann. Und du, Unglücklicher, bringst mir's heute erst?
Der Junge. Ich habe ja gestern fast alle Stunden hier gebettelt: aber es hörte niemand. –
Diese Entschuldigung sagte der arme Liebesbote zwar sehr laut, aber er hatte kaum das erste Wort davon ausgesprochen, so lag ihm schon der Stock auf dem Rücken. Herrmann, ohne sie annehmen zu wollen oder zu bedenken, daß sie sehr gültig war, weil er den ganzen gestrigen Tag im Bette in der Kammer zugebracht und also sein Betteln wirklich nicht hatte hören können, rächte er sich für die Tücken des Schicksals an dem unschuldigen Abgesandten und verfolgte ihn mit ausgeholtem Stocke die Treppe hinunter. Zorn und Wut über den unglücklichen Zufall stiegen bis zur Verwilderung: er buchstabierte noch einmal das schmutzige Papier durch, aber schlechterdings ließ sich der Ort nicht entziffern: er war auf immer und ewig verwischt. Er warf das verhaßte Blatt an die Erde, hub es auf, zerriß es und streute die unendlich kleinen Fragmente in alle vier Winde aus: er scharmuzierte die Stube auf und nieder, und was im Wege stund, mußte die Wirkung seines Grimms erfahren: Tasse und Teller, die vom Frühstücke noch dastanden, tanzten klirrend vom Tische herab und rollten zerbrochen über den Fußboden hin: der Spiegel bekam einen Schlag, der ihn zeitlebens in zwo Hälften teilte: der schnaubende Unglückliche hätte sich selbst in zwo Hälften zerfleischen mögen.
Die Doktorin, die der Lärm herbeigerufen hatte, kam mit kläglicher Gebärde zu ihrem Manne und versicherte sehr mitleidig, daß die Liebe dem armen Menschen den Kopf verrückt[303] haben müßte. – »Wenn man ihm doch nur zu helfen wüßte!« setzte sie hinzu. »Es ist doch wahrhaftig gar ein häßliches Ding, die Liebe, wenn man sich einmal mit ihr einläßt. Der arme Mensch! War so artig, so hübsch! Ich fürchte mich vor ihm, Papachen: ich kann unmöglich auf meiner Stube allein bleiben.«
Der Mann lachte und suchte ihr die Furcht zu benehmen. »Ach, Papachen!« fuhr sie fort, »du weißt nicht, wie weit es mit so einem Menschen geht. Wenn ich nur nicht an seinem Unglücke schuld wäre. Es kränkt mich in der Seele: der arme Mensch! – Wenn du nicht bei mir bleiben kannst, schließ ich mich ein.« –
Wirklich schloß sie auch ihre Tür ab und schob den Riegel vor. So hielt sie ihre leichtgläubige Eitelkeit den ganzen Vormittag gefangen, und Magd und Bediente mußten jedesmal durch viele Beweise dartun, daß sie es waren, ehe sie hineingelassen wurden.
Kurz nach Tische langte Hans Pump, der Bediente der Oberstin, an, um sich zu erkundigen, ob Ulrike diese Tage her nicht ins Haus gekommen wäre. Die Dame hatte zwar unmittelbar den Morgen nach ihrer Entlaufung an den Doktor geschickt, und er stellte auch die Versichrung von sich, es ihr sogleich zu melden, wenn sich die Baronesse blicken ließ: da Herrmann die Tage her nicht ausgegangen war, so nahm er ihn gar nicht in Verdacht, daß er um die Entlaufung etwas wüßte, und über seinen vielen Geschäften vergaß er, dem Kranken etwas davon zu sagen, und wenn er ja daran dachte, so verhehlte er ihm die Begebenheit, um ihn nicht noch mehr zu kränken. Hans Pump hatte seitdem in der Gasse vor dem Hause des Tages und Abends patrouillieren müssen: in andre Gegenden der Stadt waren andre Kundschafter ausgesandt worden. In der Länge wurde Hans Pump seines Postens überdrüssig und kam itzt, seiner Pflicht die letzte Genüge zu tun, das heißt noch einmal im Hause anzufragen, und dann von seiner Wache abzugehn: diese Anfrage wurde, weil der Doktor nicht zu Hause war, der Doktorin in die Hände geliefert. Sie war in der ganzen Geschichte noch so neu wie[304] ein neugebornes Kind und ersuchte Hans Pumpen, ihr den ganzen Vorfall vom ersten Anfange an zu berichten, welches er sogleich mit möglichster Weitläuftigkeit tat. Sie rechtfertigte Herrmann auch, daß er wegen seiner Krankheit keinen Anteil an der Entfliehung haben könnte; dabei ließ sie Eu. Gnaden, der Frau Oberstin, mit etwas beleidigtem Tone melden, daß man keine lüderlichen Mädchen, wenn es auch Baronessen wären, bei ihr suchen müßte.
Nun ging ihr ein Licht auf. Sie vermutete zu ihrer empfindlichen Kränkung, daß sie ihr Mann zum besten gehabt oder aus einer andern Ursache hintergangen habe, als er ihr überredete, daß Herrmann in sie verliebt sei: gleichwohl sich bei ihm darüber zu beschweren und zu verraten, daß sie ihre Eitelkeit verführt habe, der Lüge ihres Mannes zu glauben, war noch mehr erniedrigend: sie beschloß also, ihren Ärger zu verbeißen, sich zu stellen, als ob sie gar nichts von der Liebe des jungen Menschen zu ihr geglaubt, sondern seine Angelegenheit mit der Baronesse längst schon gewußt und ihrem Manne verhehlt hätte. Sie erzählte ihm also, da er nach Hause kam, die unterdessen gemachte Entdeckung als eine bisher mit Fleiß verschwiegne Neuigkeit; und der Mann, den Kopf voller Gerichtstermine, nahm sie herzlich gern dafür an, um nur in Ruhe vor ihr zu bleiben.
»Aber man muß dem armen Menschen helfen«, beschloß sie ihre Erzählung. »Man muß ihn aus seinen sündlichen Gedanken und Neigungen herausziehn. Ich will den Herrn Magister Wilibald zu ihm schicken: der soll ihn bekehren.« –
»Ja, ja, Mäuschen! das tu! und itzt gleich!« rief der Mann, um ihrer endlich einmal los zu werden.
Die Frau schickte sogleich in der nämlichen Minute zum Herrn Magister Wilibald, von dem nebst seiner schwarzen Perücke schon einmal schuldige Erwähnung geschehn ist. Er war ihr Gewissensrat, hatte ungehinderten Zutritt zu ihr und genoß eine Verehrung von ihr, die fast bis zur Anbetung stieg. – Er war – was aber niemand außer ihm in der ganzen Stadt wußte – ein theologischer Abenteurer ohne Amt, der mit Heiden- und Judenbekehrungen prahlte, die er nie gemacht[305] hatte: er hatte die ganze pietistische Pantomime in seiner Gewalt, einen schleichenden Ton, und suchte durch die tiefste weggeworfenste Ehrerbietigkeit und Demut schwachen Seelen, besonders den Weiblein, das unumschränkteste Vertrauen abzuschmeicheln. Seinen Stolz und Ehrgeiz maskierte er so geschickt, daß ihm viele die übertriebenste Achtung und Ehrfurcht bezeugten, und er nahm sie ohne Weigerung als Opfer an, die man durch ihn dem lieben Gott brächte, für dessen Diener sich der Unverschämte ausgab. Die Natur hatte ihn mit einem Gesichte gebrandmalt, das mit so belehrender Deutlichkeit als ein eingebrannter Galgen vor ihm hätte warnen sollen: der mittlere Teil war durch starkes Brannteweintrinken mit kupfrichter Röte überzogen worden, aus welcher große weiße Blattern wie Kalkhaufen auf einem rotsandichten Ackerfelde hervorragten: die beiden Enden des Gesichts bestunden unten in einem gelbgrünlichen, spitzigen Judaskinne und oben in einer breiten, weißen, schuppichten Stirn, die an beiden Schläfen sich in ein Paar Hörner emporhob und in der Mitte bis zur Nase ein tiefes Tal ließ. Durch einen Zufall, den nur der allwissende Himmel, Herr Wilibald und der Chirurgus kannte, hatte die Nase einen Teil ihres knochichten Gebäudes eingebüßt, daß sie also mit ihrer dicken, aufgelaufnen Spitze einer aufbrechenden Rosenknospe nicht unähnlich sah: auch war ihr durch den nämlichen Zufall ein schwirrender Ton mitgeteilt worden, der bei jedem Atemzuge wie der danebengehende Wind einer schlechtgeblasnen Flöte aus beiden Nasenlöchern deutlich und vernehmlich herausfuhr, und wenn er sprach, wurden seine Worte beständig von dem Orgelwerke seiner Nase in gebrochenen Akkorden begleitet. Es war, von allen Seiten betrachtet, der widrigste und zugleich der unwürdigste Mensch, der lüderlichste, ausschweifendste, wenn er unentdeckt zu bleiben hoffte, ein vollkommnes Muster der Tugend, wenn er in Gegenwart andrer handelte und sprach, von vielen unendlich geachtet, von vielen fast göttlich verehrt.
Dies verdammte Gesicht, in eine kohlenschwarze Perücke gesteckt, trat itzt in Herrmanns Stube herein, grüßte mit einem[306] seichten Nicken und sagte mit der gewöhnlichen Nasenbegleitung, daß die Frau Doktorin ihn, den Magister Wilibald, habe rufen lassen, um sich der Seele eines von sündlicher Liebe kranken und geistlich toten Menschen anzunehmen. Herrmann vermutete nichts weniger, als daß er dieser geistlich Tote sei, und bat ihn, noch voll von einem Reste seines Unwillens, zur Frau Doktorin zu gehn, die ihn besser brauchen könnte als er. Der Magister setzte sich nieder, legte den umgekehrten Hut auf den Schoß, die gefaltnen Hände darein, räusperte sich und fing mit lauter, schwirrender Stimme an:
»Seht mich nicht an, daß ich so schwarz bin –«
»Warum tragen Sie so eine verfluchte schwarze Perücke?« unterbrach ihn Herrmann.
Der Heidenbekehrer ließ sich nicht stören, sondern hub mit verstärkter Stimme noch einmal an:
»Seht mich nicht an, daß ich so schwarz bin; denn die Sonne hat mich verbrannt. Seht mich nicht an; denn ich will vor Scham vergehen; ich möchte mir vor Reue das Gesichte zuhalten; ich kann vor Scham die Augen nicht aufschlagen, noch viel weniger mir von andern, besonders von frommen und wiedergebornen Leuten und Menschen, ins Gesicht sehn lassen. Daß ich so schwarz bin, so schwarz wie eine Kohle, von großer Sündenschwärze; schwarz wie ein Mohr, den nieman bleichen kann; schwarz wie ein Rabe, der sich von Aas und Luder nährt, gleich den Menschen, die in lüderlichen Neigungen und Affekten ersoffen und ertrunken sind. Aber warum bin ich so kohlschwarz? denn die Sonne, oder wie Sie lieber sagen möchten, denn die Liebe hat mich verbrannt: verbrannt, das heißt wie eine Glut im Feuerofen oder, welches noch heißer ist nach der Bemerkung erfahrner Naturkündiger, wie die Flamme der Sonne, wenn sie im heißen Mittage steht, hat mich das höllische Feuer der Liebe versengt, gebraten, in Asche und Staub verwandelt.« –
»Leider! leider!« unterbrach ihn Herrmann seufzend. »O hätt ich nie eine Minute lang Liebe in mir gefühlt! nie etwas anders als Ungeheuer um mich gesehn, die mir nichts als Haß und Widerwillen einflößten! Wenn es möglich wäre, ein Gelübde[307] zu halten, dem mein Herz widerspricht – auf der Stelle wollt' ich schwören, nie mit einem Gedanken, mit einer Nerve wieder Liebe zu empfinden.«
Der Magister. Also empfinden Sie wahre Reue darüber?
Herrmann. Reue, Schmerz, Betrübnis, Ärger, Kummer! alles, was nur eine menschliche Seele martern kann! – Wer hat wohl mehr Ursache dazu? Wenn ich meinem Verlangen so nahe bin, daß ich nur zuzugreifen brauche, dann jagt mir's plötzlich der Zufall wie der Wind eine Feder vor der Hand weg. Ist in der ganzen weiten Welt ein unglücklicherer Mensch als ich? Und was machte mich unglücklich? Fünf oder sechs elende verwischte Buchstaben! O der traurigen Welt, wo das Glück des Lebens von einem Bleistiftzuge gegeben oder genommen wird!
Der Magister. Sie verabscheuen, hassen und verachten also die Welt samt allen ihren Lüsten und Begierden?
Herrmann. Ja, und nur um eines Geschöpfes willen verfluch ich sie nicht. Nur um eines Geschöpfs willen! Die übrigen sind nur da, um die Glückseligkeit andrer zu stören, zu hindern, zu verbittern.
Der Magister. Ja allerdings! die Welt liegt im argen: es ist alles eitel. Entsagen Sie der Welt?
Herrmann. Mit Freuden! In dem tiefsten, unzugänglichsten Gebürge wollt' ich mir eine Hütte bauen und als Einsiedler mein ganzes übriges Leben in der traurigsten Einsamkeit zubringen: aber Ulrike! die Arme, Verlaßne, Verfolgte! Aus Liebe zu mir verließ sie Wohlsein und Rang. – Wo sie itzt herumirren mag? In welcher elenden Leimhütte wohnen? Auf welchem beschmutzten Lager ruhen? Immer ängstlich, immer besorgt, wie eine Taube, die den Habicht flieht. – O der unselige Bleistift!
Der Magister. Sie bereuen also von ganzem Herzen Ihre Liebe?
Herrmann. Wie sollt ich etwas nicht bereuen, das mich auf immer unglücklich macht? –Aber was hilft Reue? – Ich muß sie finden, die Unglückliche, oder mich zu Tode quälen. Der Magister. So wünsch ich Ihnen gute Besserung. –
Mit diesem christlichen Wunsche nahm er Abschied und berichtete[308] seiner Gönnerin, daß der junge Mensch auf dem rechten Wege sei, sich zu bessern; und weil sie voraussetzte, daß er ihn dahingebracht habe, lobte und pries sie seine ungemeine Kunst, die Leute zu bekehren, und ermahnte ihn, das angefangne gute Werk durch wiederholte Besuche fortzusetzen, welches er seit dieser Zeit täglich tat. Die Unterredung fiel fast allemal auf den nämlichen Schlag aus: Herrmann wurde täglich verdrießlicher, unzufriedner und erbitterter auf die Liebe und auf sich selbst: er schalt sich, daß er die Torheit gehabt hatte, sich in eine Baronesse zu verlieben, und wünschte, sie ohne Verletzung seines Gewissens nicht mehr lieben zu können. – ›Den Schmerz wollt' ich tragen‹, sagte er sich oft, ›aber was hilft es der unglücklichen Vertriebnen, daß ich nicht länger ein Tor bin? Sie hat sich einmal zum Opfer meiner Torheit gemacht.‹
Bald tadelte er Ulriken bis zum Erzürnen, daß sie seine Liebe erregt, ermuntert und unterhalten habe, und zuweilen war er recht erbittert, daß sie so liebenswürdig sei. – Wenige Augenblicke darauf dankte er ihr alle Freuden seines Lebens, schien sich selbst durch sie der Glückseligste auf der Erde geworden zu sein und sah in sein Leben wie in ein finstres, wüstes Leere hinab, wenn Ulrike es nicht durch ihre Liebe angefrischt, munter und fröhlich gemacht hätte. – Itzt beschloß er, seine Neigung zu bezwingen und Ulriken dem Elende zu überlassen, worein sie sich unbesonnen selbst gestürzt hätte: ihre Entfliehung, ihr Schwur erschienen ihm als übereilte, tolle Handlungen und die ganze Ulrike als eine Zusammensetzung von Unbesonnenheiten und Schwachheiten, ohne Überlegung, ohne Vernunft. – Nach einem paar Atemzügen erblickte er sie schon wieder als eine verdienstvolle Märtyrerin seines Glücks, als die edelste, großmütigste Seele, der er für alles Ungemach, Schmerz, Beschwerlichkeit, Verfolgung nicht feurig genug zu danken glaubte, und wenn er sich ihr lebendig opferte: er mußte sie aus Dankbarkeit lieben, und kaum hatte er diesen Gedanken einige Minuten verfolgt, so zeigte sich ihm sein Entschluß, sie nicht zu lieben, als eine platte Unmöglichkeit, als eine Idee, die man nur in der Fieberhitze[309] haben könnte, die er gar nicht zu begreifen vermochte; und nun riß seine Phantasie mit ihm aus: er sah in Gedanken Ulriken unter tausendfachen Gefahren, in Stürmen, Ungewittern, zu Wasser und zu Lande, unter Löwen, Tigern, Bären und Wölfen, in Krankheit, Hunger, Gefängnis, Verfolgung, und jedesmal sich als ihren Erretter, der wie ein mutiger Perseus herbeieilte, sie befreite und zur Belohnung seines Mutes ihre Hand empfing. Nun war es ihm leid, daß er nicht so hurtig wie die Liebeshelden seiner Fabelwelt auf geflügelten Drachen oder Rossen reiten konnte: er wäre den Augenblick durch alle Lüfte gejagt, wenn er einen Pegasus gehabt hätte.
In dieser schwankenden, veränderlichen Gemütsverfassung, wo sich die Dinge und Umstände fast mit jedem Pulsschlage von einer andern Seite, in anderm Lichte, mit andern Farben zeigen; wo Hell und Dunkel in der Seele mit so schnellem Vorüberschießen abwechselt wie Licht und Schatten an einem Apriltage; wo kein Entschluß länger als fünf Minuten dauert und die Seele wechselsweise von Vernunft, Einbildung, Leidenschaft gleichsam gewiegt wird, ohne daß sie lange zu einem festen Stande gelangt: – in dieser nicht sonderlich angenehmen Gemütsverfassung empfing Herrmann einen Brief von Schwingern, der ihn unerwartet wie ein Blitz traf.
den 25. Oktober.
Lieber Freund!
Noch will ich Dir diesen Namen nicht entziehn, so wenig Du Dich seiner würdig zu sein bestrebst. Du zwingst mich, eine Sprache mir Dir zu reden, die ich in Deinen Kinderjahren nie gebrauchen durfte: aber auch nie hast Du als Kind mich bis zu solchem tiefen Schmerze betrübt wie itzt in Deinem Jünglingsalter. Bis zu Deinem funfzehnten Jahre warst Du ein Weiser, und itzt in Deinem siebzehnten wirst Du ein Tor! Doch warum sag ich: ein Tor? – Ein Lasterhafter und fast ein Bösewicht! Heinrich, ich bitte Dich um meiner Ruhe willen, erzeige mir die einzige Wohltat und widerlege mich! strafe mich Lügen, daß ich Dich einen Bösewicht nannte! ich beschwöre Dich darum.
Doch warum halte ich Dir nicht lieber gleich das Gemälde[310] Deiner Vergehungen vor die Augen, daß Du mit Scham und Reue vor ihm zurückbebst? – Du hast durch eine einzige Torheit ein ganzes Haus, das Dich erzog, nährte, pflegte, eine Dame, die Dich noch vor einem Monate durch ihre letzte Wohltat unterstützte, in Tränen, Uneinigkeit, Gram und Herzeleid versenkt. Wo war Deine Vernunft, als Du Dir zuerst eine so ausschweifende Neigung gegen die Baronesse erlaubtest? Denn so lange ich auch aus Freundschaft für Dich daran zweifelte, so kann ich leider nicht länger in diesem gutgemeinten Wahne beharren! Dein eigner handschriftlicher Beweis zeugt wider ihn und Dich.
Heinrich, einen Augenblick Überlegung! hast Du ganz vergessen, daß Dein Vater Einnehmer des Grafen Ohlau war, des Grafen Ohlau, dessen Schwestertochter Du Dich zu lieben erdreistest? dessen Schwestertochter Du Deine Geliebte, Deine künftige Gattin nennst und ihr Mut und Entschlossenheit zuschwörst, um mit ihr durch alle Gefahren Dich hindurchzureißen? daß Dein Vater Einnehmer, abgedankter Einnehmer des Grafen Ohlau ist, der ihm durch ein kümmerliches Gnadengeld das Leben fristet, dessen Schwestertochter Du wider alle Deine und ihre Feinde beschützen willst? Widersetzte sich nicht Deine Feder, als Du dies zu schreiben wagtest? Und wer sind diese Feinde? Die Gräfin Ohlau, Deine Wohltäterin, Deine wahre Mutter, die Dich geliebt, erzogen, zum Menschen gemacht hat! ohne die Du ein armseliger, nackter Bube wärst, ohne Bildung, Wissenschaft und Sitten roh, schwach und kraftlos in Mangel und Niedrigkeit herumkröchst! die Dir noch itzt in Dresden Dein elendes Leben durch eine monatliche Mildtätigkeit erhielt! denn wisse, nur durch sie lebst Du! wisse, daß Du ein Hauch bist, den sie belebte, den sie verlöschen lassen kann, wenn sie will, und sie will es; denn von ihr darfst Du keine einzige Wohltat mehr erwarten. – Und diesen Grafen, diese Gräfin nennst Du Deine Feinde? – O Du toller Jüngling! Wie schäme ich mich Deiner Freundschaft!
Und wozu hast Du Dich nunmehr gemacht? – Zu einem Bettler! Reiße Dir einmal den blendenden Wahn der Leidenschaft[311] von den Augen und siehe Dich in Deiner ganzen Dürftigkeit! und wenn Du dann nicht über Dich selbst die Zähne knirschest und vor Schmerz über Deine Raserei vergehn möchtest, dann will ich meine Hand verfluchen, wenn sie noch einen Buchstaben an Dich schreibt: dann bist Du ein Unwürdiger, der nicht einmal Haß, sondern Verachtung verdient.
Aber solltest Du das wirklich sein? – Noch immer widerstrebt mein Herz, wenn ich dies von Dir argwohne. Dein feuriges Blut, Deine reizbare Seele, Dein brausendes Alter, vielleicht auch Dein Stolz, Dein Ehrgeiz – das, das sind die Urheber Deiner Torheit und Deines Unglücks: Du bist von ihnen überrascht, überredet, überlistet worden; und doch muß ich zu meiner Betrübnis mir auch diese Täuschung versagen. Ich bin durch Deine eignen Briefe an Ulriken, die uns von der Oberstin zugesandt worden sind, meiner Schwäche, meiner Nachlässigkeit überführt worden: Du hast schon eine Neigung heimlich in Dir genährt, als ich Dich vor aller Welt davon freisprach; und welche beharrliche Überlegung gehörte dazu, meiner Wachsamkeit in einem solchen Alter eine vorzeitige Leidenschaft zu verbergen! Auch hat mir Deine Torheit manches Unglück schon verursacht: Vorwürfe, scheele Gesichter, brennende Verweise habe ich von Graf und Gräfin über meine schlechte Aufsicht ausstehn müssen; und Gott sei mein Zeuge! sie war doch nach allem meinem Wissen und Gewissen die beste, die sorgfältigste, deren ich mit allen meinen Kräften fähig bin. Freilich hinterging mich meine leichtgläubige Freundschaft für Dich; und für diese gutherzige Schwäche muß ich dann büßen, schwer büßen! Die Vorwürfe des Grafen und der Gräfin haben mich vom Schlosse vertrieben: ich konnte ihre Bitterheit unmöglich länger ertragen: ich verließ die Wohnung der Zwietracht und der Verfolgung, die itzt durch den Ungestüm so vieler unzubefriedigender Gläubiger und noch mehr durch Deine Tollheit zum Sitze des Verdrusses, des Unwillens, der Traurigkeit und des Weinens geworden ist; denn täglich bist Du Ursache, daß Deine Wohltäterin sich auf ihrem Zimmer in Tränen badet,[312] wenn sie die grausamen Vorwürfe ihres Gemahls bis in die Seele verwundet haben. Die Verlegenheit über seine ökonomischen Umstände macht ihn wild und hart; und er schüttet seinen geheimen Schmerz darüber mit barbarischer Unbarmherzigkeit über die arme Gräfin aus, weil sie in Dir den Unglücklichen erzog, der ihr Haus schänden sollte. Ich wohne zwar itzt an dem äußersten Ende der Stadt, in einem einsamen friedfertigen Häuschen, in anscheinender Ruhe: aber Du, unseliger Freund, hast mir auch diese Ruhe verbittert. Ich quäle mich unablässig mit eignen Vorwürfen, daß ich zu Deiner Unbesonnenheit und so vielem Herzeleide eine der nächsten Veranlassungen sein mußte: ich ängstige mich, sooft ich an Dich denke; und ich denke jede Minute an Dich.
Ergreift Dich nicht ein eiskalter Schauer, wenn Du so die ganze Reihe Deiner Vergehungen und die Menge der Unglückseligkeiten überdenkst, die Du auf Dich und uns alle gehäuft hast? Und wer sind wir alle? Deine Wohltäter, Deine Freunde! Denke Dir Deine Liebe zur Baronesse ein einziges Mal als die Urheberin so vielfachen Unglücks! und ich möchte Dich in dem Augenblicke einer solchen Vorstellung sehen: ich weiß gewiß – oder die Natur müßte sich selbst betrogen haben, als sie Deinen so früh erwachten Verstand bildete –, ich weiß gewiß, Tränen, heiße bittere Tränen werden Deine Wangen netzen: Du wirst Deine Leidenschaft verabscheuen und wünschen, alle traurigen Folgen derselben vernichten zu können. – ›Man fängt mit Torheit an und endigt mit Laster‹ – glaube diese Erfahrung Deinem ältern Freunde! Ein Mensch, voll so feurigen Gefühls für Ehre und Rechtschaffenheit, kann unmöglich jene gewisse Erfahrung gelernt haben und nicht mit allen Kräften den Schritt zurückziehn, den er in seiner Torheit weiter tun will: lieber lähmte er seinen Fuß, um keinen weiter tun zu können.
Ob mich meine gute Erwartung von Dir täuschen wird, dazu soll mir ein einziger Beweis genug sein. Die Baronesse hat schon über einen Monat Dresden heimlich verlassen: die Oberstin kann ihren Aufenthalt nicht auskundschaften. Um sich Ungelegenheit zu ersparen, weil sie die Entlaufne wiederzufinden[313] hoffte, hat sie der Gräfin den Vorfall erst vor kurzem gemeldet: noch ist man imstande gewesen, dem Grafen diesen neuen Zuwachs von Ärger und Zorn zu ersparen. Wir wissen, daß die Baronesse eines Abends Dich heimlich besucht hat, und auch dem Grafen konnte man es nicht verbergen: auf seinen Befehl sollte Ulrike von ihrer Mutter aus Dresden weggeholt und in das Stift zu ** gebracht werden, aber ein unglücklicher Fall mit dem Pferde hinderte ihre Reise, und man gab der Oberstin den Auftrag, es an ihrer Stelle zu tun, allein zu einer Zeit, wo die Baronesse schon entlaufen war: wir alle glaubten sie längst im Stifte, als die schreckliche Nachricht von ihrer Unbesonnenheit anlangte. Alle diese Umstände erzähle ich Dir, um zwo Fragen an Dich zu tun, deren Beantwortung mich bestimmen wird, ob ich mich ferner Deiner annehmen oder Dich der Besserung des Unglücks überlassen soll. – »Hast Du teil an der Entfliehung der Baronesse? Weißt Du, wo sie ist?« – Auf Gewissen und Ehre beantworte mir diese beiden Fragen! belügst Du mich, dann gehe! Werde ein Schurke, ein Lasterhafter, ein Bösewicht, werde gehängt, gerädert oder geköpft! – ich kenne Dich nicht mehr.
Indessen, in der Hoffnung, daß Du mich nie zu einer so harten Selbstverleugnung zwingen wirst, empfange von mir den letzten Beistand! aber gewiß den letzten, ich schwör Dir's bei Gott! wenn Du in Deiner Torheit beharrst! Ich habe Dich an einen Berliner Kaufmann, der sich wegen seiner Schuldforderungen an den Grafen bei uns aufgehalten hat und dessen Adresse Du diesem Briefe beigefügt findest, empfohlen, daß er Dich als Handelsbursche in die Lehre nehmen soll. Ich übersende Dir deswegen 10 Louisdor zu den Reisekosten und zur Erleichterung Deiner Subsistenz in Berlin: den Akkord mit dem Kaufmanne habe ich bereits geschlossen, und Du brauchst für nichts zu sorgen, als Dich unverzüglich, das heißt höchstens in Monatsfrist, dahin zu begeben und in eine Bahn der Geschäftigkeit zu treten, die künftig Dein Glück machen soll, die Dir Nutzen und Ehre verspricht.
Und nun, lieber Freund, noch einmal! Bezwinge Dich wie ein[314] Mann! behaupte Deine Würde! Reiße alles Andenken an Ulriken aus Deinem Herze, bis auf das kleinste Würzelchen reiß es aus, und wenn es Dich blutige Tränen kosten sollte! Bedenke, daß Du nicht zum Empfinden, sondern zum Handeln geboren bist, nicht zum schmachtenden Schäfer, sondern zum tätigen Weltbürger!
Wirf Dich in die Geschäftigkeit tief hinein, gib ihr alle Deine Kräfte und Gedanken, daß für die Liebe nichts übrigbleibt! Deine Schreibart in Deinen Briefen seit mehr als einem halben Jahre ist mir bedenklich gewesen: sie war hart, heftig, in der geringsten Kleinigkeit übertrieben und aufgeschwellt: sie hatte durchaus die Kennzeichen der Leidenschaft: sie soll auch inskünftige mich belehren, ob das Feuer in Deinem Herze gelöscht ist.
Wenn Du sehen könntest, mit welcher Bewegung des Herzens, mit welchen Erwartungen, mit welchen gerührten Wünschen ich diesen Brief schließe – Du hörtest noch heute auf, ein Tor zu sein. Sei ein Mann! sag ich Dir, und dann bin ich ewig
Dein Freund Schwinger
Welch ein Brief! Als wenn eine Donnerstimme jedes Wort in Herrmanns Herz rief, erschütterte er ihm Mark und Bein: er änderte auf einmal den ganzen Schauplatz seiner Gedanken und Empfindungen und zeigte ihm seine Liebe zu Ulriken in einem Lichte, in welchem er sie nie gesehn hatte, daß er vor ihr erschrak. Sie zeigte sich ihm bisher bloß als Gefühl für einen liebenswürdigen Gegenstand – als Empfindung der Natur, der er nicht widerstehen konnte noch mochte, weil er es für billig hielt zu lieben, was ihm gefiel –, als Quelle seiner Glückseligkeit: die Vorstellung davon war beständig von so vieler Süßigkeit begleitet und mit so helleuchtenden, strahlenden Farben ausgeschmückt, es war eine Sonne, die ihn befeuerte und blendete, daß er nichts als einen liebenden Heinrich und eine liebende Ulrike erblickte: doch itzt! – plötzlich sah er sich als Sohn eines Einnehmers und Ulriken als Baronesse, als Verwandtin des Grafen Ohlau: seine Liebe zu ihr schien ihm Torheit, Unsinn, Raserei. Schwingers Brief zwang seinen[315] Blick so unwiderstehlich, diese längstvergeßne Seite seiner Liebe zu betrachten, daß seine Leidenschaft auch nicht einen Grund dawider aufbringen konnte: sie verstummte. Es herrschte einige Tage hindurch eine tote, öde Stille in seiner Seele: die Liebe wagte es kaum, sich von dem gewaltigen Sturze wieder zu erheben. Er antwortete Schwingern auf seine Fragen mit aller Gewissenhaftigkeit, daß er die Flucht der Baronesse weder befördert noch angeraten habe und ebensowenig wisse, wo sie sei: es fiel ihm zwar einigemal ein, lieber die Schuld durch eine Lüge auf sich zu nehmen und lieber Schwingers Freundschaft zu entbehren, als Ulrikens Strafbarkeit durch sein Zeugnis zu vermehren: allein das Schrecken, das ihm der Brief eingejagt hatte, stand wie ein fürchterlicher Riese vor ihm und gebot, die Wahrheit zu sagen: er gehorchte, bekannte seine Leidenschaft, erklärte sie für Torheit und gelobte an, ihr auf immer zu entsagen. Auch war das Gelübde in dem Augenblicke ganz ernstlich: er wünschte, es halten zu können, und nahm sich fest vor, es nicht zu brechen. Konnte man mehr Aufopferung verlangen?
Länger als eine Woche las er den Brief wohl zehnmal in einem Tage: von jeder Beschäftigung, von jedem Gedanken kam er auf ihn zurück. Besonders machte die letzte Ermahnung einen tiefen Eindruck auf seine Ehrbegierde: sie arbeitete sich allmählich wieder empor, und in kurzer Zeit war der ganze Ton seiner Seele umgestimmt. Er dachte mit Wehmut an die Liebe, wenn sie sich in ihm regte, wie an eine anmutige Gesellschafterin, die man wider seinen Willen verlassen muß: er riß sich selbst von ihr hinweg – ›Sei ein Mann!‹ tönte ihm Schwingers Stimme ins Ohr; und die Liebe kroch furchtsam in das äußerste Winkelchen zurück: aber sie war nur verscheucht, nicht verjagt.
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Erst 1987 belegte eine in Amsterdam gefundene Handschrift Klingemann als Autor dieses vielbeachteten und hochgeschätzten Textes. In sechzehn Nachtwachen erlebt »Kreuzgang«, der als Findelkind in einem solchen gefunden und seither so genannt wird, die »absolute Verworrenheit« der Menschen und erkennt: »Eins ist nur möglich: entweder stehen die Menschen verkehrt, oder ich. Wenn die Stimmenmehrheit hier entscheiden soll, so bin ich rein verloren.«
94 Seiten, 5.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.
444 Seiten, 19.80 Euro