16.

[304] »Es ist ein trauriges Los aller guten Dinge in der Welt«, fing Danischmend an, als er nach einigen Tagen wieder an das Bette Seiner Hoheit gerufen wurde, »daß sie unter den Händen der Menschen nicht lange unbeschädigt und unverdorben bleiben können. Leider gilt dies von Gesetzgebungen, Staatsverfassungen und Regierungen ganz vorzüglich. Wie vollkommen auch die gesetzmäßige Verfassung eines Staats sein mag, bei der Vollziehung kommt alles auf die Beschaffenheit der Menschen an, in deren Händen die Gewalt ist, welche der Staat dem Fürsten, und der Fürst wieder teilweise denen, die ihm regieren helfen sollen, anzuvertrauen genötigt ist. Wie angelegen ließ sich's nicht der guten Tifan sein, seiner Gesetzgebung eben dadurch die Krone der Vollkommenheit aufzusetzen, daß er ihr die möglichste Dauerhaftigkeit zu geben suchte! Eben darum, weil er einsah, wie sehr alles auf die sittliche Beschaffenheit der Regierten sowohl als der Regierenden ankommt, machte er die moralische Bildung der Scheschianer zum Hauptzweck seiner Erziehungsanstalten, und die Erhaltung der Sitten in der möglichsten[304] Lauterkeit zum Augenmerk aller seiner Verordnungen. Aber eben darum, weil es unmöglich ist unter einem großen Volke die Sitten lange unverdorben zu erhalten, konnt er mit aller seiner Vorsicht mehr nicht bewirken, als daß es mit der sittlichen Verderbnis seines Volkes langsamer zuging, und also der Zeitpunkt des politischen Todes, welchem sich jeder Staat mit immer zunehmender Geschwindigkeit nähert, von dem seinigen etwas weiter entfernt wurde, als es ohne seine Vorkehrungen geschehen wäre.

Ohne Zweifel liegt diese Tendenz zum schlechter werden so tief in der menschlichen Natur, daß ihre Wirkung durch keine menschliche Veranstaltung gänzlich aufgehoben werden kann. Auf diesen Punkt scheint der gute Tifan zu wenig Rücksicht genommen, und überhaupt den Menschen, die er (ohne sich dessen vielleicht bewußt zu sein) zu viel nach seinem eigenen Herzen beurteilte, bei aller seiner Vorsicht, noch immer mehr Gutes zugetraut zu haben, als er mit Recht erwarten konnte: und dieser Umstand ist vielleicht allein der Grund, warum einige seiner Gesetze den Keim ihrer Verderbnis bereits in sich trugen, und die Entwicklung desselben unvermerkt beförderten. So hatte er, zum Beispiel, in der besten Absicht von der Welt die scheschianische Priesterschaft, um sie zu veredeln und dem Staate nützlich zu machen, zu öffentlichen Lehrern des Gesetzbuches bestellt, und zu diesem Endzweck alle nur ersinnliche Sorge getragen, sie zu vortrefflichen Menschen und guten Bürgern zu bilden. Aber, was er nicht vorher gesehen hatte, war, daß er gerade dadurch diesem Stand ein Ansehen und einen Einfluß verschaffte, dessen sich in der Folge – wenn die Sitten nach und nach schlaffer geworden sein, und die Gesetze also einen Teil der Kraft, die sie von jenen erhalten, verloren haben würden – ehrgeizige und heuchlerische Menschen bedienen würden, selbstsüchtige Plane zum Nachteil des Staats durchzusetzen. Aus einer ähnlichen Ursache hatte er, wiewohl anfangs eine gänzliche Umschaffung der scheschianischen Landesverfassung zu seiner großen Absicht nötig schien, den erblichen Adel als eine besondere Klasse von Staatsbürgern beibehalten, und ihn nicht nur im Besitz eines Teils seiner ehmaligen Vorzüge gelassen, sondern ihn noch durch das ausschließliche Recht an die obersten Staats- und Kriegsbedienungen so hoch über alle übrige Klassen erhoben, daß es kaum begreiflich ist, wie Tifan die künftigen Folgen einer so auffallenden Ungleichheit sich selbst habe verbergen können. Was auch immer über diesen Punkt zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung gesagt werden könnte, gewiß ist, daß dies einer der größten Fehler seiner Gesetzgebung war, und vielleicht[305] mehr als alle übrige zum Untergang derselben beitrug. Denn wie konnte er erwarten, daß ein Volk, das durch eben diese Staatseinrichtung zu der höchsten Stufe der Ausbildung, deren die Menschheit fähig scheint, gelangen mußte, ein so unbilliges Vorrecht einer verhältnismäßig kleinen Anzahl in die Länge dulden, oder daß diejenigen, die im Besitz desselben waren, sich dessen gutwillig begeben würden?

Endlich ist nicht zu leugnen, daß Tifan, wiewohl es sein ernstlicher Wille war, sich selbst und seinen Nachfolgern die Freiheit Böses zu tun so viel möglich zu entziehen, dennoch durch Betrachtungen, an welchen sein Herz mehr Anteil hatte als seine Vorsicht, sich verleiten ließ, den Königen von Scheschian eine größere Macht einzuräumen, als mit der Sicherheit seiner Gesetzgebung, von welcher doch die Sicherheit seines Volkes abhing, in die Länge bestehen konnte.«

»Wie meinst du das, Freund Danischmend?« fragte Schach-Gebal mit einem bedenklichen Zucken der Augenbraunen.

»Ich will damit so viel sagen: Als Tifan sich und seinen Thronfolgern das Vermögen auch willkürlich viel Gutes zu tun nicht entziehen wollte, und diesem zu Folge der Krone ein unabhängiges jährliches Einkommen von zehen Millionen Unzen Silbers zueignete, worüber der König nach seinem Belieben schalten konnte; so geschah es unstreitig aus dem löblichsten Bewegungsgrund, und konnte, so lange sein Geist auf seine Nachfolger forterbte, dem Staate nicht anders als ersprießlich sein. Nur scheint er vergessen zu haben, daß eine große willkürliche Macht Gutes zu tun ihrem Besitzer notwendiger Weise auch eine eben so große Macht Böses zu tun erteilt; und daß also alle Könige nach ihm lauter Tifane gewesen sein müßten, wenn dieser Teil seiner Anordnungen nicht zu verderblichen Mißbräuchen Anlaß und Mittel hätte geben sollen.«

»Was du da sagst, Itimadulet, gilt wohl von der ganzen Gesetzgebung und Staatsverwaltung deines Tifan. Augenscheinlich war alles auf seine persönliche Denk- und Sinnesart berechnet. Die Scheschianer, um das zu bleiben was er aus ihnen machte, hätten immer einen Tifan an ihrer Spitze haben müssen. Wie konnte er so übermäßig bescheiden sein, so etwas als möglich vorauszusetzen?«

»In der Tat«, versetzte Danischmend, »glaubte er durch die äußerst sorgfältige Erziehung, welcher die künftigen Thronfolger nach dem Gesetz unterworfen sein sollten, sein möglichstes getan zu haben, um seinem Reich eine lange Folge eben so guter Könige, als er selbst war, zu versichern. Aber auch dies hing doch gänzlich von der[306] Beschaffenheit derjenigen ab, denen die Vollziehung dieses wichtigsten Teils seiner Gesetzgebung anvertraut werden mußte. Es läßt sich kaum denken, daß er alles dies, und was daraus folgt, nicht vorher gesehen haben sollte. Aber vermutlich war seine Meinung auch nur, selbst das möglichste Gute zu schaffen, und, nachdem er alle Vorsicht, deren ein weder unfehlbares noch allvermögendes Wesen fähig war, für die Zukunft angewandt hatte, es nun dem Schicksal zu überlassen, wie lange sein Werk, und die Bewegung die er ihm einmal gegeben hatte, dauern würde. Zum Unglück für Scheschian blieb der eben so weise als gute, und eben so tätige als weise Tifan, der (wie Ihre Hoheit so richtig urteilten) gleich dem Phönix der Fabel in jedem seiner Nachfolger wieder hätte aufleben müssen« –

»Ich bedanke mich in Parenthesi für die Verschönerung meiner Anmerkung«, sagte der Sultan mit einem etwas zweideutigen Lächeln.

– »unter zweiundzwanzig Königen, aus welchen die Tifanische Dynastie bestand, der einzige in seiner Art; seinen Sohn Temor ausgenommen, der unter der langen Regierung seines Vaters Zeit genug gehabt hatte sich zu überzeugen, daß er, wenn die Reihe dereinst an ihn käme, gegen die Gewohnheit der Thronfolger, nichts besseres tun könne, als sich so zu betragen, daß die Scheschianer noch immer von Tifan regiert zu werden glauben möchten. Dieser Temor würde, seiner vortrefflichen Erziehung ungeachtet, in einer Epoke wie jene, worin sein Vater einen so großen Charakter entfaltet hatte, nur eine mittelmäßige Rolle gespielt haben: in den glücklichen Umständen hingegen, worin er den Thron bestieg, war er gerade deswegen, weil er funfzig Jahre lang Tifans bester Untertan gewesen war, der würdigste Nachfolger dieses großen Königs. Allein mit ihm endigte sich auch das wirkliche goldne Alter der Scheschianer. Nach einer dreißigjährigen Regierung hinterließ Sultan Temor den Thron seinem Sohne Turkan, der das Feuer des Geistes, den Mut und die Tätigkeit seines Großvaters geerbt zu haben schien, aber, da ihm sowohl die Anlage zu den sanftern Tugenden, als der Vorteil, von einem Dschengis in der Dunkelheit des Privatstandes erzogen zu sein, mangelte, eben darum weil er nur zur Hälfte Tifan war, der glücklichen Verfassung seines Vaterlandes die erste Wunde schlug. Nach den Versuchen zu urteilen, die er in den ersten Jahren seiner Regierung machte, die Reichsstände zu verschiedenen Änderungen in den Gesetzen Tifans zu bewegen – Änderungen, welche unter dem Anschein des gemeinen Besten die Macht der Krone beträchtlich vermehrt haben würden –, hätte sein unruhiger Geist sich schwerlich[307] an dem bescheidenen Ruhme seines Vaters begnügt, wenn ihm ein langwieriger Krieg mit dem Könige von Katay nicht einen andern Tummelplatz eröffnet hätte. Er hörte sich zwar gern den zweiten Tifan nennen; aber er wollte es auf seine eigene Art sein« –

»Was du ihm doch nicht übel nehmen wirst?« fiel Schach-Gebal ein –

»Ich nicht; aber die Scheschianer hatten gegen diese eigene Art manches einzuwenden.«

»Danischmend mein Freund, von einem Itimadulet sollte man billig erwarten, daß er das Volk besser kennen müßte, um aus diesem Umstand etwas zum Nachteil Turkans zu folgern. Deine Scheschianer machten es, denke ich, wie alle ihresgleichen wenn es ihnen zu wohl geht: sie wurden übermütig.«

»Sire«, erwiderte Danischmend, »wofern dies der Fall war, so ließ es Turkan nicht an sich fehlen, den Exzeß ihres Wohlbefindens nach Möglichkeit zu mäßigen. Denn er führte Krieg beinahe seine ganze Regierungszeit durch, und Scheschian hatte den ganzen Wohlstand vonnöten, der die Frucht einer achtzigjährigen Ruhe unter der besten Staatsverwaltung war, um von den Folgen seiner glänzenden Unternehmungen nicht zu Boden gedrückt zu werden. Katay war damals nach Scheschian das mächtigste Reich im Osten; es besaß, wie jenes, einen großen Überfluß an den kostbarsten Naturgütern: aber seiner innern Verfassung nach stand es weit hinter jenem zurück, und der große Handelsverkehr, der zwischen beiden Völkern vorwaltete, war gänzlich zum Vorteil der Scheschianer. Übrigens konnte man diesen Krieg in so fern gerecht auf Seiten der Scheschianer nennen, als die erste Veranlassung nicht von ihnen herrührte: aber wahrscheinlich würde Tifan an dem Platze seines Enkels Mittel gefunden haben, auf eine oder andere Weise den Ausbruch desselben zu verhüten.«

»Herr Danischmend«, fiel der Sultan ein, »wenn der Hof von Katay die Gelegenheit gegeben hatte, so erforderte doch wohl die Ehre der scheschianischen Krone eine Beleidigung nicht ungestraft hingehen zu lassen? Aber worin bestand denn die Beleidigung?«

»Eine von den tatarischen Horden, die unter dem Schutze des Königs von Katay standen, hatte eine scheschianische Karawane geplündert. Turkan forderte im Namen seiner Untertanen Genugtuung; der Hof von Katay zögerte; Turkan erneuerte seine Forderungen mit Hitze und Stolz, und da er immer kältere Antworten erhielt, so eilte er (in der Tat viel rascher als er getan haben würde wenn es ihm um Beibehaltung des Friedens zu tun gewesen wäre), seinen[308] nicht weniger stolzen Nachbar die Überlegenheit seiner Macht auf die nachdrücklichste Art fühlen zu lassen. Nach der Grundverfassung des Reichs konnte der König keinen Krieg ohne Einstimmung der Nation unternehmen. Aber diesmal fand Turkan eine große Mehrheit derselben willig, seinen Antrag aus allen Kräften zu unterstützen: das Volk, weil es die erlittene Beleidung um so höher empfand, je lebhafter es seine Vorzüge über die Katayer fühlte; und den Adel, weil ein großer Teil desselben sich Ruhm, Ehrenstellen, und andere ansehnliche Vorteile von dieser Gelegenheit versprach. Der Krieg wurde also beschlossen, und die in Feuer gesetzten Scheschianer beeiferten sich, ihren jungen König, der an der Spitze seines Heers die Miene hatte einem gewissen Sieg entgegen zu eilen, durch Verdoppelung der gewöhnlichen Kriegsmacht und freudige Bewilligung außerordentlicher Beiträge so lange zu unterstützen, bis er den gedemütigten Feind zu einem rühmlichen Frieden gezwungen haben würde. Dieser würde auch vermutlich in wenigen Feldzügen erhalten worden sein, wenn Turkan und sein Volk sich der Vorteile, die ihnen das Glück anfangs zuwandte, mit etwas mehr Mäßigung hätten bedienen wollen. Aber kaum hatte ihnen der erste Sieg einen Teil der feindlichen Grenzen unterworfen, so mischte sich schon die Eroberungssucht ins Spiel; und eine der schönsten Provinzen des Katayschen Reichs, welche Turkan dem seinigen einzuverleiben beschlossen hatte, und die er wechselsweise bald einnahm bald wieder verlor, blieb nicht nur das Ziel eines Krieges, der mit abwechselndem Glücke beinahe seine ganze Regierung durch währte, sondern auch, nachdem sie ihm abgetreten worden war, auf lange Zeit die Quelle eines unversöhnlichen Hasses und oft erneuerter Fehden zwischen den Königen von Katay und Scheschian.

Turkan genoß die Ruhe nicht lange, die er seinem erschöpften Volk endlich wieder verschafft hatte. Von seinen vier Söhnen waren drei auf dem Bette der Ehre gestorben; und so folgte ihm Akbar, der jüngste, in einem Alter, worin es, selbst bei einer Erziehung wie die scheschianischen Königssöhne erhielten, schwer ist, ein großes Volk – und noch schwerer sich selbst zu regieren.«

»Keine Satiren mehr, Herr Danischmend!« unterbrach der Sultan den Erzähler abermals: »vergiß nicht, daß mich nach dem Ende deiner Erzählung verlangt« –

»Wenn dies ist«, sagte Danischmend, dem die sonderbare Laune seines Herren aufzufallen anfing, »so verdient Sultan Akbar Dank; denn seine Regierung war ein starker Schritt, wo nicht zum Ende der Geschichte von Scheschian, wenigstens zu einer Abänderung seiner[309] Verfassung, die dasselbe nicht wenig beschleunigte. Akbar liebte die Künste, die nur im Frieden gedeihen, nicht weniger leidenschaftlich, als sein Vater die kriegerischen geliebt hatte: aber er begnügte sich nicht, die Spuren der Verwüstungen eines langwierigen Krieges in seinem Reich auszulöschen und dessen ehmaligen Wohlstand wieder herzustellen. Er wollte noch mehr tun als Tifan und Temor, und wurde nicht gewahr, daß er, während er sich überredete den höchsten Flor des Reichs zum einzigen Augenmerk zu haben, bloß für seine Lieblingsleidenschaften arbeitete. Von lauter Künstlern und Virtuosen, Kennern und Dilettanten umgeben, deren Interesse war seine Leidenschaft vielmehr anzufeuern als zu mäßigen, hörte er in seinem ganzen Leben nichts was ihn aus dieser süßen Täuschung hätte wecken können. Azor, Lili, und Alabanda selbst blieben in allem, was sie für die schönen Künste taten, weit hinter ihm zurück: denn man mußte ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er sie nicht, nach Gewohnheit der meisten Fürsten, zu bloßen Sklaven seines Vergnügens herab würdigte, sondern sie um ihrer selbst willen liebte, und nur an der Vollkommenheit ihrer Werke Vergnügen fand. Auch darüber hatte sich keine zu beklagen, daß er sie etwa aus Vorliebe zu einer andern vernachlässige; jede schien vielmehr berechtigt sich für die vorzüglich begünstigte zu halten. Indessen war doch gewiß, daß die Baukunst, weil sie mit seiner Liebe zum Schönen zugleich seine Prachtliebe und Eitelkeit am meisten befriedigte, den ersten Rang in seiner Zuneigung behauptete; wenigstens konnte man nicht anders urteilen, wenn man die Menge und Herrlichkeit aller Arten von öffentlichen Gebäuden sah, womit er die Residenz Scheschian und alle Hauptstädte seiner Provinzen angefüllt hatte. Natürlich reichten die Einkünfte der königlichen Domänen, so groß sie auch waren, bei weitem nicht zu, eine so kostbare und unersättliche Leidenschaft zu befriedigen: und kaum fühlte man diese Unzulänglichkeit, so entstand eben so natürlich das Verlangen ihr abzuhelfen. Das kürzeste Mittel war, einen kleinen Bruch in das Gesetzbuch Tifans zu machen, und Seiner Hoheit nicht nur die willkürliche Verwaltung des öffentlichen Schatzes, sondern auch die Macht nach Gutdünken neue Zuflüsse in denselben zu leiten, auf eine gute Art in die Hände zu spielen. Die Sache lag dem guten Akbar zu sehr am Herzen, als daß sich unter den Kunstliebhabern, von welchen sein Hof wimmelte, nicht gar bald einer gefunden hätte, der sein Haupt nicht eher zur Ruhe legte, bis er ein wohl berechnetes Plänchen, wie das alles am sichersten zu bewerkstelligen wäre, ausgearbeitet hatte. Alles kam darauf an, den Adel und die Priesterschaft[310] dahin zu bringen, daß sie sich, gegen eine billige Entschädigung, eine so ungeheure Ausdehnung der königlichen Gewalt gefallen ließen. Denn diese beiden mußten schlechterdings gewonnen werden: der Adel, wegen des entscheidenden Einflusses, den ihm die Staatsverfassung gab; die Priesterschaft, weil sie unmittelbarer auf das Volk wirkte und durch ihr Ansehen alles über dasselbe vermochte. Beides hatte große Schwierigkeiten, wofern Akbar versucht worden wäre seine Absichten durch gewaltsame Mittel erreichen zu wollen: aber beide Stände konnte man zu gewinnen hoffen, wenn man ihre Mitwirkung unter keiner andern Bedingung verlangte, als in so fern sie ihnen selbst vorteilhafter wäre als die Anhänglichkeit an die Tifanische Konstitution. In dieser Rücksicht glaubte man von den zehen Millionen Unzen Silbers, die der König aus seinen unabhängigen Domänen zog, keinen nützlichern Gebrauch machen zu können, als daß man sie zu Hebung der Skrupel verwendete, welche sich natürlicher Weise beim Antrag einer so wesentlichen Verschlimmerung der beschwornen Staatsverfassung in dem zarten Gewissen derjenigen erheben mußten, deren erste Pflicht die Erhaltung dieser Verfassung war. In der Tat hätten beide Stände eines höhern Grades von Uneigennützigkeit, als man von gewöhnlichen Menschen erwarten darf, vonnöten gehabt, wenn sie eine so günstige Gelegenheit hätten versäumen sollen – die einen, ihre durch den letzten Krieg und durch die Nachahmung der Kunst- und Prachtliebe des jungen Königs erschöpften Finanzen wieder herzustellen –, die andern, welche sich seit Tifans Zeiten mit sehr spärlich zugemeßnen Einkünften behelfen mußten, die ihrigen zu verbessern und ihren Wünschen so viel möglich gleich zu machen. Man trat also in aller Stille mit den vornehmsten Gliedern des Ausschusses der Reichsstände in geheime Unterhandlungen; die Herren machten ihre Bedingungen; man wurde des Handels eins. Aber, was der Hof als den ersten Präliminarpunkt zugestehen mußte, war: Daß es, um die Nation nicht zu sehr zu erschrecken, schlechterdings nötig sei, die alte Form der Verfassung beizubehalten, und sich vor der Hand an der unbegrenzten Bereitwilligkeit der Stände, dem König alles was er verlangen würde zu bewilligen, um so mehr zu begnügen, da die zugleich stillschweigend erteilte Freiheit, den Staat mit so viel Schulden zu belasten, als die väterliche Sorge Seiner Hoheit für den möglichsten Flor desselben bei Gelegenheit etwa für nötig erachten möchte, die zu Dero gnädigstem Befehl stehenden Summen nach Gutbefinden duplieren und triplieren konnte.

Die edeln und ehrwürdigen Patrioten, mit welchen dieser geheime[311] Traktat geschlossen wurde, nahmen es auf sich, ihre übrigen Kollegen, unter den zugestandenen Bedingungen, auf ihre Seite zu bringen, und fanden weniger Widerstand als sie sich selbst vorgestellt hatten: so viel hatten bereits seit Tifans Zeiten die Sitten an ihrer Einfalt und die Gesetze an ihrer Energie verloren!

Akbar berief nun die Stände, um, wie er sagte, über die gegenwärtige Lage und Bedürfnisse des Vaterlandes sich mit ihnen zu beraten. Der Friede, hieß es in der königlichen Rede vom Throne, habe zwar, zu großer Freude Seines väterlichen Herzens, alle Quellen des gemeinen Wohlstandes wieder reichlicher als jemals fließen gemacht: aber die gänzliche Ausheilung aller Wunden, die ein beinahe zwanzigjähriger Krieg dem Staate geschlagen habe, und sowohl die Sicherstellung desselben gegen seine natürlichen Feinde, die nur durch eine entschiedene Überlegenheit von neuen Unternehmungen abgeschreckt werden könnten, als die Erhaltung der so teuer errungenen Früchte des Sieges, machten mehr als gewöhnliche, wiewohl die Kräfte der Nation nicht übersteigende Anstrengungen vonnöten; zu welchen Seine Hoheit Ihre getreuen Stände um so bereitwilliger zu finden hofften, da Sie es ihrer Weisheit gänzlich überließen, für die nötige Vermehrung der Staatseinkünfte durch solche Mittel und Wege zu sorgen, die den Untertanen, besonders der ehrwürdigen Klasse der Landleute, die wenigste Beschwerde verursachen würden.

Die Stände blieben Seiner Hoheit in ihrer Antwort nichts schuldig: denn wiewohl der Geist der Zeiten Tifans von Scheschian gewichen war, so hatte man doch die Sprache derselben beibehalten; und der Kanzleistil jener Zeit blieb immer eben derselbe, auch nachdem es so weit gekommen war, daß man durch die wechselseitigen Komplimente, die der König dem Volke, und die Repräsentanten des Volkes dem Könige machten, des öffentlichen Elendes nur zu spotten schien. Seine getreuen Stände fühlten sich unvermögend, sagten sie, einem so huldreichen und so unermüdet für das Glück Seiner Völker arbeitenden Monarchen den ganzen Umfang des Vertrauens und der Anhänglichkeit, wovon sie durchdrungen wären, zu beweisen. Was könnten sie, um nicht gar zu weit hinter ihrer Pflicht zurück zu bleiben, weniger tun, als den Beschluß fassen, Sein Vermögen Gutes zu tun Seiner grenzenlosen Tätigkeit gleich zu machen? – Diesem zu Folge übertrugen sie ihm volle Machtgewalt, über die Verwendung des öffentlichen Schatzes eben so unbeschränkt zu gebieten als über seine eigene Kasse; und um den großmütigsten der Fürsten in den Stand zu setzen, seinen wohltätigen[312] Wünschen einen desto freiern Spielraum zu geben, ordneten sie verschiedene neue Abgaben an, wovon man zwar seit mehr als hundert Jahren in Scheschian nichts gewußt hatte, die sich aber um so leichter rechtfertigen ließen, da das Reich durch die natürlichen Folgen der Tifanischen Einrichtungen sich augenscheinlich auf einer Stufe von allgemeinem Wohlstand befand, der eine namhafte Vermehrung der Staatseinkünfte ohne merkliche Bedrückung des Volkes möglich und zulässig zu machen schien. Dagegen bewies aber auch Sultan Akbar seine Dankbarkeit für das in ihn gesetzte Vertrauen durch die schönsten – Versprechungen: und als eine tätige Probe seines guten Willens gab er sogleich zwei Gesetze, wovon das eine den Adel, zu einiger Entschädigung für die großen Opfer, die er dem Staat in dem Katayschen Kriege gebracht hatte, auf eine unbestimmte Zeit von allen Abgaben befreite; das andere den Verdiensten des Priestertums, durch verhältnismäßige Erhöhung des Einkommens der verschiedenen Priesterklassen und Stiftung einer Anzahl neuer reich begabter Tempel und Ordenshäuser, gebührende Gerechtigkeit widerfahren ließ.«

»Vortrefflich!« rief Schach-Gebal: »das konnt ich mir voraus vorstellen, daß die Herren die Baulust meines guten Bruders Akbar nicht unbenutzt lassen würden. Aber das Volk, auf dessen Unkosten dieser ganze schöne Handel abgeschlossen wurde, was sagte das dazu?«

»Sire«, erwiderte Danischmend, »das Volk ist, wie Ihre Hoheit wissen, ein gar launiges, grillenhaftes Tier: zur einen Zeit duldet es die auffallendsten Eingriffe in seine Rechte mit der kaltblütigsten Gleichgültigkeit, zur andern gerät es über die unbedeutendste Kleinigkeit in Feuer; heute kann man alles von ihm erhalten, morgen vielleicht gar nichts. Die Scheschianer hatten sich in einigen ruhigen Jahren völlig wieder hergestellt; Akbars Prachtliebe, und die großen Werke, wodurch er alle Arten von Künstlern und Arbeitern in Beschäftigung und ungeheure Summen in den schnellsten Umlauf setzte, machten seinen Namen und seine Regierung der Nation beliebt; der allgemeine Wohlstand, der für den Augenblick dadurch befördert wurde, erhöhte ihren Mut, und machte sie geneigt, dem Fürsten, und den seinem Beispiele nacheifernden Großen einen Teil dessen, was sie von ihnen gewannen, ohne eine allzu genaue Berechnung wieder zu geben. Überdies hielt man es für billig, daß der Adel, der im Kriege sich um die Nation verdient gemacht und zum Teil wirklich viel dabei eingebüßt hatte, belohnt und entschädiget würde; und die Priesterschaft stand, ihrer Weisheit und reinen Sitten wegen,[313] in einem so hohen Ansehen bei dem Volke, daß es von freien Stücken noch mehr für sie zu tun geneigt war als Akbar vorschlug. Bei allem dem fehlte es doch hier und da nicht an Widerspruch und Mißvergnügen, und viele Alte, die von ihren Vätern das Glück der Zeiten Tifans rühmen gehört hatten, weissagten der Nachkommenschaft wenig Gutes von der kühnen Anmaßung, eine Konstitution, welche mehr das Werk einer wohltätigen Gottheit als eines Sterblichen schien, so leichtsinnig verbessern zu wollen. Aber sie wurden überstimmt, und manche Generation ging vorbei, ehe die Folgen der Übel, zu welchen jetzt der Grund gelegt wurde, den Scheschianern zu spät die Augen öffneten.

Es bedarf vielleicht vieler Jahrhunderte, bis so ein Gebäude, wie Tifan errichtet hatte, vor Alter und Baufälligkeit zusammen sinkt. Gleichwohl hätte dieser Augenblick endlich kommen müssen; denn daß eine unzerstörbare Staatsverfassung unter die unmöglichen Dinge gehöre, ist noch von niemand geleugnet worden.«

»So hätte ich große Lust der erste zu sein«, sagte Gebal lachend. »Warum wär es denn so unmöglich, ein Staatsgebäude aufzuführen, das wenigstens eben so dauerhaft wäre als die Pyramiden in Ägypten, die schon einige tausend Jahre stehen, und wahrscheinlich so lange stehen werden, als der Elefant, der die Erde trägt, auf der großen Schildkröte, und die Schildkröte auf der zusammen geringelten Schlange?«

»O gewiß«, sagte Danischmend: »man brauchte zur Aufführung eines solches Staats nur die Pyramiden zum Muster zu nehmen. Auch ist dies, dünkt mich, bei unsern östlichen Staatsverfassungen bereits geschehen; und es erklärt sich daraus, warum, zum Beispiele, das sinesische Reich, wiewohl es schon so oft durch Eroberung unter fremde Oberherren gekommen ist, dennoch seine innere Verfassung bei jeder Revolution unverändert erhalten hat. Ich hätte mich also genauer ausdrücken, und sagen sollen, daß meine Behauptung nur von Staaten gelte, deren Bürger (wie die Scheschianer unter Tifan) freie Menschen sind. Ich zweifle sehr, ob für solche jemals eine bessere Konstitution als die Tifanische diesseits des Mondes gesehen worden ist; und doch ist leicht zu zeigen, daß gerade in dem was ihre Vortrefflichkeit ausmachte, die Ursache ihres Untergangs lag.«

»Wie käme das?« fragte der Sultan mit einer ironischen Miene von unglaubiger Verwunderung.

»Die Tifanische Konstitution«, antwortete Danischmend, »gründete sich einer Seits auf die Einschränkung der Monarchie durch eine solche Verteilung der höchsten Gewalt zwischen dem König,[314] dem Adel und den Stellvertretern des Volks, wodurch keines dieser politischen Gewichte, von deren richtigem Zusammenwirken der Wohlstand des Staats abhing, ein merkliches Übergewicht über die andern sollte erhalten können; andrer Seits auf die Güte der Sitten, und auf eine Kultur, wodurch Tifan die Dauer seiner Gesetze zu einer natürlichen Folge der freien Überzeugung des Volkes von ihrer einleuchtenden Vernunftmäßigkeit zu machen hoffte. Auf diesen zwei Hauptpfeilern ruhte sein ganzes Gebäude; aber jeder dieser Pfeiler selbst stand auf einem sandigen Grunde, der unter einem so schweren Gewicht unvermerkt weichen mußte. Niemals wird in irgend einem Staate derjenige, der mit irgend einem Anteil an Macht und Ansehen bekleidet ist, sich lange in der Einschränkung halten, die ihm das Gesetz vorgeschrieben hat. Gibt das Gesetz die höchste Gewalt in die Hand eines Einzigen; so wird dieser Einzige nicht ruhen, bis er sich über das Gesetz erhoben, und es dahin gebracht hat, daß sein Wille, nicht der allgemeine, das höchste Gesetz ist. Verteilt es dieselbe unter mehrere durch einander eingeschränkte Mächte; so wird jede von ihnen, so gut wie jener Einzige, sich so lange auszudehnen streben, bis sie den Damm, der sie einzwängen soll, durchbrochen hat: und ist das Gesetz einer jeden, für sich allein, zu mächtig; so werden sie sich gegen dasselbe vereinigen, oder in geheime Unterhandlungen mit einander treten, und – unter der Bedingung sich in die Vorteile, die sich keine allein zuzueignen vermag, brüderlich zu teilen – die schicklichsten Mittel das Gesetz unkräftig zu machen mit einander abreden. Dieser Umstand ist für sich allein schon mehr als hinlänglich, den immer zunehmenden Verfall und endlich, die gänzliche Auflösung jeder politischen Gesellschaft zu bewirken: aber auch ohne ihn würde bloß die Kultur (ich meine eine solche, wozu Tifan durch seine Gesetze den Grund legte) mit der Zeit die nämliche Wirkung hervorbringen.«

»Danischmend ist heute zu paradoxen Behauptungen aufgelegt«, sagte der Sultan: »aber ich seh ihn kommen« –

»Ihre Hoheit halten mir zu Gnaden«, fuhr dieser fort, »wenn ich Ihnen etwas sehr Einfältiges zu sagen scheinen werde, das aber darum nicht weniger wahr ist. Damit ein Volk sich gutwillig einer Regierung unterwerfe, welche, vermöge der Natur der Sache und des Menschen, ewig nach ungebundener Willkürlichkeit strebt, muß besagtes Volk sich in einem Zustande von Dumpfheit, Einfalt und Unmündigkeit befinden, der genau so lange und keinen Augenblick länger dauern kann, als es in Unwissenheit und Vorurteile, gleich einem Wickelkinde, um und um eingewickelt bleibt: und wofern ein[315] gewisser Grad von Kultur sich mit diesem Zustande vertragen soll; so muß die vereinigte Gewalt der Gesetze, der Erziehung, der Sitten und der Gebräuche, im Notfall durch die Schrecken eines eisernen Despotismus verstärkt, zusammen wirken, jeden Fortschritt zu höhern Stufen unmöglich zu machen. Ist aber dieser Fortschritt frei gelassen, wird er durch die Verfassung sogar befördert: so ist nichts natürlicher, als daß endlich die Zeit kommen muß, wo das besagte Volk mit seinen Befugnissen und Rechten, und überhaupt mit seinem wahren Interesse so bekannt wird, daß es sich nicht länger zum leidenden Gehorsam bequemen will, geschweige daß die Blendwerke, Gaukeleien und Zauberformeln länger bei ihm anschlagen sollten, womit es sich ehmals in seiner Dumpfheit bemaulkorben und nach der Pfeife seines Führers tanzen machen ließ. Es wird also« –

»Erspare dir die Mühe uns zu sagen was es tun wird, Itimadulet«, fiel ihm der Sultan ins Wort – »wir kennen das! Aber meinst du nicht auch, daß sich aus dem, was du uns eben da zu sagen beliebt hast, ein vortreffliches Argument gegen deine fortschreitende Kultur ziehen ließe?«

»O gewiß ein vortreffliches«, sagte Danischmend mir einer lächelnden Grimasse, die nicht ganz so ehrerbietig war als einem ersten Minister, der seinem Gebieter antwortet, geziemen will.

»Nicht daß ich etwas gegen die Kultur hätte«, fuhr der Sultan ganz kaltblütig fort: »im Gegenteil! – Nur mit deiner fortschreitenden Kultur, Herr Danischmend, die so lange fortschreitet bis sich die Leute gar nicht mehr regieren lassen wollen, mit der würde ich mich schwerlich recht vertragen können. Ich liebe Ordnung und Ruhe in meinem Lande; das Ei soll nicht klüger sein wollen als die Henne; und wer zum Dreschflegel, zum Hammer, zur Nadel und zur Ahle geboren ist, soll sich den Kopf nicht damit zerbrechen, was er tun wollte, wenn er Oberrichter, Statthalter, Itimadulet, oder Herr des weißen Elefanten wäre. Das ist meine Meinung von der Sache; und nun weiter im Text, Freund Danischmend!«

»Die gar zu schöne, gar zu gute, gar zu vernünftige, und eben darum (wie Ihre Hoheit weislich bemerkt haben) für so alberne Tiere als die Menschen sind gar nicht passende Verfassung, welche Tifan der Einzige den Scheschianern gab, würde also, wenn man sie auch ihre natürliche Zeit hätte ausleben lassen, endlich doch ein Ende genommen haben, sagte ich: aber die Maßregeln, die der Pracht und Kunst liebende Akbar mit seinen getreuen Ständen nahm, ließen es dazu nicht kommen, sondern beschleunigten den fatalen Zeitpunkt[316] um einige Jahrhunderte. Der erste und gefährlichste Schritt war nun glücklich gemacht. Der Hof hatte das Vergnügen zu sehen, daß ein so gewaltiger Bruch in die Tifanische Grundverfassung nicht nur ohne die geringste Erschütterung, sondern sogar mit fast allgemeinem Beifall, gemacht worden war: so eifrig hatten sich's die dankbaren und in aller Stille nach höhern Dingen strebenden Priester angelegen sein lassen, das Glück der Regierung Akbars, und die unendlichen Vorteile, die dem Reich aus den neuen Einrichtungen zuwachsen würden, dem gläubigen Volke von ihren Lehrstühlen sowohl als bei allen andern Gelegenheiten anzupreisen. Von nun an wußte der Hof, der Adel und die Klerisei wie sie mit einander ständen; jener wußte daß er durch diese, diese daß sie durch jenen erhalten könnten was sie wollten. Das alles machte sich anfangs mit der größten Leichtigkeit. Die höchst einfachen Formeln – ›Was wird uns für unsre Gefälligkeit?‹ und ›was verlangen die Herren?‹ – machten die ganze Prozedur aus. Nichts war tröstlicher, als die Harmonie und Eintracht zu sehen, die zwischen dem Hof und dem Ausschusse der getreuesten Stände vorwaltete; nichts bewundernswürdiger, als der leichte und rasche Gang aller Unternehmungen des erstern, die ohne die geringste Friktion von Statten gingen und in der möglichst kürzesten Zeit in größter Vollkommenheit zu Stande kamen; nichts auffallender, als der Glanz, die blühende Gestalt, das Ansehen von Wohlhabenheit, Überfluß und Reichtum, welche Akbars Regierung über das ganze Reich verbreitete. Unglücklicher Weise konnte nur alle diese Herrlichkeit von keiner langen Dauer sein. Denn wie hätten nicht beide Teile bald genug ausfündig machen sollen, daß ihr besonderes Interesse bei diesem Handel, den sie auf Unkosten des allgemeinen Besten mit einander geschlossen hatten, nicht so ganz eben dasselbe sei? Augenscheinlich erforderte es der Vorteil des Hofes, die Gefälligkeiten, die er verlangte, recht wohlfeil zu haben; umgekehrt hingegen verhielt es sich mit dem Interesse der Stände und ihrer Stellvertreter; denn dieses war natürlicher Weise, ihre Ware so teuer zu verkaufen als möglich. In der Tat war der Appetit der letztern so stark, daß das Doppelte von allen Einkünften des Königs kaum zugereicht hätte, ihre bescheidenen Wünsche zu befriedigen. Dagegen hatte auf der andern Seite der Hof, dessen Kasse dem Fasse der Danaiden glich, immer so viele und dringende Bedürfnisse, daß die Reichtümer des ganzen Staates zu ihrer Befriedigung noch unzulänglich schienen. Es konnte also nicht fehlen, daß jene gute Harmonie in der Folge von beiden Seiten durch Schwierigkeiten, Zögerungen und Verweigerungen von[317] Zeit zu Zeit unterbrochen werden mußte. Die Kunst einander auf eine feine Art wechselseitig zu hintergehen und zu übervorteilen, wurde nun das Hauptstudium der Höflinge und der Stellvertreter der Nation: aber auch diese verächtliche Art von Politik reichte nicht lange zu; und die Herren des Ausschusses, durch die gutmütige Geduld des Volkes immer kühner gemacht, fanden zu wichtige Vorteile bei einer unbegrenzten Gefälligkeit gegen die Forderungen des Hofes, als daß die Betrachtung, wie wohl oder übel die ärmern Volksklassen sich dabei befänden, sie länger zurück gehalten hätte. Im Gegenteil, man suchte sich selbst über diesen Punkt durch die gewöhnlichen Trugschlüsse zu täuschen. ›Der Augenschein zeigt ja‹, sagte man, ›daß die Quellen sich mit den Abgaben zugleich vermehren. Ein zu großer Wohlstand ist den untern Klassen mehr nachteilig als vorteilhaft; denn er reizt sie nur zu Müßiggang und Üppigkeit. Sie arbeiten immer nur so viel sie müssen. Größere Abgaben ermuntern die Industrie, und dies in dem Maße, wie sie die Wohlhabenheit und selbst die Subsistenz erschweren‹ – und was dergleichen halb wahre Kameralweidsprüche mehr sind. In der Tat schien die noch immer zunehmende Lebhaftigkeit der Zirkulation, die hohe Vollkommenheit wozu die Fabriken und Handarbeiten getrieben wurden, und der blühende Zustand des auswärtigen Handels, die neuen Maximen eine Zeit lang zu bestätigen. Was für Tifans Zeiten schicklich und sogar notwendig war, hieß es, paßt nicht mehr auf die unsrige. Unvermerkt gewöhnte man sich daran, die Quelle, aus welcher man immer unbescheidener schöpfte, für unerschöpflich zu halten; und so erschwerte man die Subsistenz der Armen, in der wohltätigen Absicht ihre Emsigkeit aufzumuntern, so lange, bis endlich Mangel, übermäßige Arbeit, und die Verzweiflung sich jemals zu einem bessern Zustand hinauf zu arbeiten, ihnen zuletzt das Dasein selbst unerträglich zu machen anfing; ein fürchterlicher Augenblick, der bei einer großen Nation sich gewöhnlich damit endiget, daß sie in einem allgemeinen Aufstand ihre letzten Kräfte zusammen rafft, um sich entweder selbst zu helfen, oder sich zugleich mit ihren Unterdrückern unter den Trümmern des Staats zu begraben.

Von diesem verzweifelten Zustande waren die Scheschianer zwar unter Akbars glänzender Regierung noch weit entfernt: aber, nachdem durch ihre eigene unverzeihliche Nachlässigkeit die Schranken, in welche Tifan die königlichen Prärogative eingeschlossen hatte, einmal durchbrochen waren, eilte der Staat unter seinen Nachfolgern dem Untergange mit immer schnellern Schritten entgegen.[318] Denn nun folgte eine Reihe namenloser Könige, die das Ruder der Regierung, welches sie selbst zu führen unvermögend oder unlustig waren, bald einer Bande zusammen verschworner Minister, bald einem unersättlichen Günstlinge, bald einer ausschweifenden Buhlerin, bald einem herrschsüchtigen Priester, bald dem ersten besten der sich dessen bemächtigen wollte, überließen. Tifans öffentliche Anstalten gerieten zusehens in Verfall, seine wichtigsten Gesetze kamen nach und nach außer Übung, und wurden zuletzt ein bloßer Gegenstand akademischer Streitfragen; und was etwa von seinen Einrichtungen noch beibehalten wurde, erhielt unter den Händen der Priester unvermerkt eine so veränderte Form und Richtung, daß der reine wohltätige Geist des Stifters gänzlich dabei verloren ging, und vielmehr gerade das Gegenteil von dem heraus kam, was er dadurch hatte bewirken wollen.

Wenn die Priesterschaft von Scheschian, wie ich neulich bereits erwähnte, unter die letzten gehörte, die dem einbrechenden Schwall der Sittenverderbnis nachgaben; so darf ich nicht vergessen, zur Steuer der Wahrheit hinzu zu setzen: daß es schwer gewesen wäre den Zeitpunkt zu bestimmen, worin diese ehrwürdigen, exemplarischen Lehrer des Tifanischen Gesetzbuchs die Bemerkung machten, daß man mit dem äußerlichen Scheine der Weisheit und Heiligkeit beim Volk ungefähr eben so weit, und oft noch weiter komme als mit der Realität, und daß das erstere den Neigungen und Leidenschaften der menschlichen Natur ungleich bequemer sei. Genug, die scheschianischen Bonzen machten diese Bemerkung ungefähr um eben die Zeit, oder bald nachher, da der großmütige Akbar sich ihres guten Willens, durch die vorerwähnten ansehnlichen Vermehrungen ihres Anteils an den Gütern dieser Welt, versichert hatte; und nachdem sie einmal gemacht war, währte es nicht lange, daß mit der Sinnesart und den Tugenden der ehmaligen Priester von Tifans Schöpfung auch die letzte Stütze seiner Gesetze verschwand, und diese Klasse von Staatsbürgern durch die Heuchelei und den blendenden Schein, womit sie ihre unbändige Herrschsucht und ihre übrigen Laster zu verdecken wußte, dem Reiche wieder eben so schädlich wurde, als ihre Vorfahren unter Azor und Isfandiar.

Indessen, da es damit vermöge der Natur der Sache langsamer herging, und die Priester ihr Spiel mehr als andere verbergen mußten, gewann der scheschianische Adel einen starken Vorsprung. Sein Reichtum und sein Ansehen stieg unter jeder neuen Regierung; er bemächtigte sich aller Civil- und Militärämter, die ihm Gelegenheit verschafften noch reicher zu werden; er besetzte alle subalterne Stellen[319] mit seinen Kreaturen, und übte über den Hof selbst eine Art von Tyrannei aus, die endlich sogar einem der schwächsten unter allen namenlosen Königen unerträglich zu werden anfing. Dieser König, zu seiner Zeit Tifan der Zweite genannt, wurde solang er lebte von der Königin seiner Gemahlin, und die Königin seine Gemahlin« –

»Wie hieß sie?« fragte Schach-Gebal –

»Dulika, wenn Ihrer Hoheit etwas an ihrem Namen gelegen ist« –

»Warum nicht, da man mir sogar den namenlosen König ihren Gemahl genannt hat? Ich liebe Konsequenz, auch selbst in Kleinigkeiten, Herr Danischmend.«

»Wollte Gott«, dachte Danischmend, »Ihre Hoheit liebten sie in wichtigern Dingen!« – Aber er hütete sich diesmal es laut zu denken.

»Der König also wurde, wie gesagt, von seiner Gemahlin Dulika, und die Königin Dulika, die ihrem Gemahl an Beständigkeit in ihren Zuneigungen nichts nachgab, ihre ganze Regierung durch fast eben so unbeschränkt von Kolaf, dem Oberbonzen der Stadt Scheschian, regiert.«

Gebal warf einen Blick auf die Sultanin Nurmahal, öffnete den Mund, biß sich in die Lippen, und sagte – nichts.

Danischmend fuhr fort, ohne zu tun als ob er es bemerkt hätte: »Tifan der Zweite gehörte weder unter die bösartigen noch unter die blödsinnigsten Fürsten seiner Zeit; im Gegenteil, er war ein strenger Freund von Zucht, Ordnung und Gerechtigkeit, haßte den Müßiggang, und liebte sein Volk: aber zum Unglück war er ein noch größerer Liebhaber von – Schmetterlingen. Der schlaue Bonze bediente sich dieser unschuldigen Schwachheit, Seiner Hoheit beizubringen, daß es keine königlichere Leidenschaft gebe als die Liebe zur Naturgeschichte; dafür gestand er aber auch sehr gern, daß die Schmetterlingsgeschichte der interessanteste Zweig dieser weitläufigen Wissenschaft sei, und daß eine vollständige Sammlung aller Schmetterlingsarten in der Welt ein beneidenswürdiger Schatz wäre, wodurch sich ein König von Scheschian über alle Völkerhirten gegen Morgen und Abend erheben würde. Die Naturgeschichte war um diese Zeit gerade das Lieblingsstudium der Gelehrten und Ungelehrten in Scheschian. Der Oberbonze Kolaf hatte also wenig Mühe, mit Hülfe aller jungen Bonzen denen an seiner Gunst gelegen war, das Schmetterlingskabinett Seiner Hoheit in kurzer Zeit ansehnlich zu erweitern. Tifan der Zweite beschäftigte sich in eigener Person sowohl mit allen zur Aufbehaltung seiner Sommervögel nötigen Arbeiten, als mit ihrer Anordnung und zierlichen Aufstellung.[320]

Nach und nach dehnte sich seine Liebhaberei über alle übrigen Insekten, und als er auch damit fertig war, erst über die zweifüßigen Vögel, und zuletzt (wie es mit solchen Leidenschaften zu gehen pflegt) über alle lebendige und leblose Naturprodukte, auf, über und unter der Erde, aus; und das alles machte dem guten Könige so unendlich viel zu tun, daß er täglich dem Himmel dafür dankte, die Sorge für sein Reich einer so klugen Frau, wie seine Gemahlin in seinen Augen war, mit ruhigem Herzen überlassen zu können.

Kolaf bediente sich inzwischen seiner Gewalt über den Geist der Königin, sie auf das ungeheure Übergewicht des Adels und die Abnahme des königlichen Ansehens aufmerksam zu machen, und sie zu überzeugen, wie notwendig es sei, den Übermut dieser stolzen Untertanen zu dämpfen, und der Krone die verlorne Obermacht wieder zu verschaffen. Er schlug dazu zwei sehr zweckmäßige Mittel vor. Das eine war, einen Krieg anzufangen, der den zahlreichen Adel vermindern und ihm Gelegenheit geben würde, sich durch seine auch im Felde nicht eingeschränkte Üppigkeit und Prachtliebe zu Grunde zu richten; das andere, den Priesterstand, dessen Ansehen beim Volke seine Anhänglichkeit an die Krone um so verdienstlicher mache, mehr als bisher zu begünstigen, und die ansehnlichern Civilbedienungen, die bisher größten Teils in den Händen unwissender, schlecht erzogener und lasterhafter Menschen übel genug verwaltet worden, mit würdigen Männern aus dem gelehrten Stande zu besetzen. Zum erstern fand sich gar bald eine Veranlassung; denn nichts ist leichter als Händel zu haben wenn man sie sucht: und zum letztern wußte Kolaf ebenfalls zu rechter Zeit Rat zu schaffen.

In der Tat hatte er dem größten Teile des scheschianischen Adels durch die Beschuldigung der Unwissenheit und schlechten Erziehung kein Unrecht getan. Schon lange waren die Gesetze Tifans, die sich auf die Erziehung des Adels bezogen, außer Übung gekommen. Diese von jenem weisen Fürsten, mehr als dem Staate und ihr selbst zuträglich war, begünstigte Kaste, hatte seit der Regierung der Könige Turkan und Akbar ihre erhabene Bestimmung, den einzigen Grund ihrer Vorrechte, gänzlich aus den Augen verloren. Zu hoch über ihre Mitbürger hinauf gesetzt um nicht hoffärtig, und zu reich um nicht übermütig zu sein, überließen sich die scheschianischen Nairen in den Jahren, worin sie zur Erfüllung ihrer künftigen großen Pflichten gebildet werden sollten, dem üppigsten Müßiggang und allen Ausschweifungen einer unbändigen Jugend. Sie blieben unwissend, und gewöhnten sich, Gelehrsamkeit und alles was Fleiß[321] und Anstrengung des Geistes erfordert, als Dinge die weit unter ihnen wären, anzusehen. Alle Zweige der Wissenschaften blieben also den Priestern und übrigen Gelehrten von Profession überlassen: und da die erstern vermöge der Konstitution zu Lehrern des Tifanischen Gesetzbuches bestellt waren, und durch ihre vielfachen Verhältnisse gegen das Volk die beste Gelegenheit hatten, sowohl den Charakter als die jedesmalige Lage, Bedürfnisse und Gesinnungen desselben besser als andere kennen zu lernen; so konnte der Oberbonze Kolaf mit gutem Fug erwarten, daß sein Plan, die Bonzen, die das Vertrauen des Volkes besaßen, nach und nach an die Plätze des allgemein verhaßten Adels zu bringen, den vollen Beifall des größern Teils der Nation erhalten würde.

Sobald er also einen ansehnlichen Teil der Nairen durch einen Krieg, den er selbst in geheim angezettelt hatte, aus Scheschian entfernt sah, wußte er es durch seine im ganzen Reiche verbreiteten Freunde und Ordensgenossen so einzuleiten, daß von allen Seiten große Klagen einliefen, über Untüchtigkeit, Unredlichkeit, Mißbrauch der obrigkeitlichen Gewalt, Versagung der Justiz, Verdrehung der Gesetze, Bestechungen, kurz über alle Arten von Verbrechen, deren die bisherigen Justiz- und Polizei-Stellen, Distriktsaufseher, Statthalter der Provinzen und andere Staatsbeamte aus der Kaste der Nairen sich schuldig gemacht hatten. Da es töricht gewesen wäre die Habichte bei den Geiern zu verklagen, so wurden alle diese Beschwerden unmittelbar vor den Thron gebracht. Sie verursachten scharfe Untersuchungen; man fand, sowohl des Beispiels wegen, als um das aufgebrachte Volk zufrieden zu stellen, für nötig, gegen die schuldig Befundenen mit der äußersten Strenge zu verfahren; und das letzte Resultat von allen diesen mit vieler Klugheit in einander gepaßten Operationen war: daß Kolaf zum ersten Minister des Königs, oder, eigentlicher zu reden, der Königin erhoben wurde, und daß binnen wenig Jahren die ansehnlichsten und einträglichsten Staatsbedienungen in den Händen solcher Priester waren, die sich durch Talente, Wissenschaft und einen Schein strenger Tugend und tadelloser Sitten ausgezeichnet hatten. Die Wahl des Hofes wurde dadurch in den Augen der Nation so vollständig gerechtfertigt, daß die Königin, unter dem Schirm der allgemeinen Liebe, welche sie sich durch diese Staatsverbesserung erwarb, nun freie Hände hatte, die wieder hergestellte königliche Autorität so weit auszudehnen als sie wollte.

Dieses Ungewitter, zu welchem Kolaf und seine Anhänger die Zurüstungen in größter Stille gemacht hatten, fand bei seinem Ausbruche[322] die Herren von der adelichen Kaste so wenig vorbereitet, daß ihnen nichts übrig blieb als sich in die Zeit zu schicken, und durch das zweideutige Verdienst des leidenden Gehorsams, womit sie sich den Verfügungen des Hofes unterwarfen, von ihren ehmaligen Vorrechten noch so viel zu retten, daß sie unter günstigern Umständen auch das Verlorne wieder zu gewinnen hoffen konnten.«

So weit war Danischmend, als der Bramine der Sultanin Nurmahal, welcher seit einigen Tagen die Erlaubnis hatte bei dieser Unterhaltung zugegen zu sein, ihn bemerken ließ, daß der Sultan unter seiner Erzählung unvermerkt eingeschlafen war. Der Erzähler empfahl sich also, und schlich in aller Stille nach Hause, um über eine und andere Bemerkung, die er diesen Abend gemacht hatte, seine Betrachtungen anzustellen. Es hatte ihm nicht entgehen können, daß Schach-Gebals Angesicht und Benehmen gegen ihn seit kurzem nicht mehr war wie sonst: und besonders an diesem Abend war die Laune, womit er ihn öfter als gewöhnlich unterbrach, so auffallend gewesen; der Sultan hatte so wenig verbergen können oder verbergen wollen, daß er etwas gegen ihn auf dem Herzen habe; auch hatte er in Nurmahals Gesicht etwas so zurück Gehaltenes, und an dem übermäßig freundlichen Braminen von Zeit zu Zeit eine so tückische Schadenfreude aus den halb geschlossenen Augen hervor blicken sehen. Das alles waren keine Zeichen von guter Vorbedeutung. Je mehr er allen Umständen nachdachte, desto mehr Licht ging ihm auf, und desto weniger blieb es ihm zweifelhaft, daß man über einem geheimen Anschlag gegen ihn brüte, und daß seine Itimaduletschaft, allem Ansehen nach, ihrem Ende nahe sei.

Danischmend hatte diese, ihm von Schach-Gebal in einem seltsamen Anstoß von sultanischer Laune aufgedrungene hohe Ehrenstelle zwar noch nicht lange genug bekleidet, um etwas getan zu haben, was ihm die Ungnade seines Herren oder der schönen Nurmahal und ihres Braminen hätte zuziehen können: aber er hatte desto mehr gedacht und gesprochen; und wenn die Derwischen, Bonzen und Fakirn nicht viel Gutes von ihm erwarteten, so sagte ihm sein Gewissen, daß sie alle Ursache dazu hätten. Er hatte sogar bereits von seinen Anschlägen gegen diese wackern Leute – von welchen er (wie wir wissen) nicht so günstig dachte, als sie es von einem Itimadulet von Indostan billig wünschen mochten – manches gegen den Sultan fallen lassen; und er kannte Seine Hoheit zu gut, um nicht voraus zu sehen, daß sein Geheimnis unverzüglich in den Schoß der schönen Nurmahal niedergelegt worden sei. Er begab sich also mit einer Art von Gewißheit zu Bette, daß es eine zwischen der Sultanin[323] und dem Braminen bereits abgekartete Sache sei, ihn baldmöglichst vom Hofe zu entfernen: aber daß der Augenblick der Ausführung schon so nahe sei, das hatte er sich nicht träumen lassen.

Die Überraschung war daher nicht gering, als er um die Zeit des ersten Morgengebets durch ein großes Getümmel in seinem Hause aus einem sehr ruhigen Schlummer geweckt wurde, und gleich darauf die Tür seines Schlafzimmers aufgehen und einen Officier von der Leibwache hereintreten sah, der ihm im Namen des Sultans ankündigte, daß er sein Gefangener sei.

Da auf ein solches Kompliment nichts anders zu antworten war, so stand Danischmend, beinahe so ruhig als er sich niedergelegt hatte, auf, kleidete sich hurtig an, und folgte dem Officier, der ihn durch einen Labyrinth von Gängen, Treppen und Gewölben endlich in einem kleinen, mit eisernen Gittern verwahrten Zimmerchen absetzte, ihm wohl zu leben wünschte, und, nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, ein paar so schwere Riegel vorschob, daß er von dieser Seite seines Gefangenen halben völlig sicher sein konnte.

Danischmend, der sich gleich bei seiner Erhebung zum Itimadulet vorgestellt hatte, daß die Komödie ungefähr einen solchen Ausgang nehmen würde, schickte sich in seine neue Lage (wiewohl er das Unangenehme derselben so lebhaft als ein andrer fühlte) wie ein weiser Mann, hoffte das Beste, war auf das Ärgste gefaßt, und fand bei dieser raschen Veränderung seines Schicksals wenigstens den Umstand tröstlich, daß er dadurch des Frondienstes, Seine Hoheit mit der Geschichte der Könige von Scheschian einzuschläfern, überhoben wurde.

Desto unzufriedener bezeigt sich darüber der sinesische Übersetzer dieser Geschichte, dem die dadurch verursachte Unvollständigkeit eines so wichtigen Werkes so sehr zu Herzen geht, daß er sich nicht enthalten kann, in eine bittre Strafrede gegen die Sultanen, Tschirkassierinnen, Braminen, Fakirn und Bonzen auszubrechen, die an diesem Unheil, wie er sagt, ungefähr zu gleichen Teilen Schuld waren.

Wiewohl nun (fährt er, nachdem er seiner Galle Luft gemacht, in einem ruhigern Tone fort) der Verlust, den die Welt dadurch erleide, unersetzlich sei; so habe er sich doch, um die Wißbegierde der Leser nicht ganz unbefriedigt zu lassen, alle nur ersinnliche Mühe gegeben, über den Ausgang dieser Geschichte, die sich nicht eher als mit dem scheschianischen Reiche selbst hätte enden sollen, einiges Licht zu erhalten; und es sei ihm endlich geglückt, aus alten Sagen und glaubwürdigen[324] Urkunden so viel davon heraus zu bringen, daß er sich im Stande finde, nachdenkenden Lesern einiger Maßen begreiflich zu machen, wie besagtes Reich unter der ungeheuern Last von Übeln, die von einer langen Reihe namenloser oder heilloser Könige über demselben zusammen gehäuft worden, endlich notwendig habe einsinken und zu Grunde gehen müssen.

Ob der lateinische Übersetzer diesen von seinem sinesischen Vorgänger mit so mühsamem Fleiß ausgearbeiteten Anhang nicht für interessant genug gehalten habe, oder ob er durch irgend einen Zufall an Verdolmetschung desselben gehindert worden, ist unbekannt. Genug, daß wir in seiner Handschrift nichts als eine Note am Schluß des Werkes gefunden haben, worin er sich begnügt, seinen Lesern die Resultate der Geschichtserzählung des Sinesers in einem kurzen Auszuge folgender Maßen mitzuteilen.


Der Oberpriester Kolaf und seine Ordensbrüder genossen des Sieges, den sie über den scheschianischen Adel erhalten hatten, nicht so lange als sie zu Ausführung aller ihrer Plane wünschten; der unvermutete Tod der Königin Dulika beraubte sie einer Stütze, die ihnen dazu unentbehrlich war.

Vermög eines von Tifan gegebenen Gesetzes mußte sich der König eine neue Gemahlin aus den zwölf schönsten Mädchen wählen, welche von den Stellvertretern der zwölf Hauptprovinzen des Reichs nach einer vorgeschriebenen Ordnung für ihn ausgesucht wurden.

Kolaf konnte und wollte auf die Wahl der neuen Königin keinen Einfluß haben; aber er besaß ein unfehlbares Mittel, das Herz des Königs für diejenige zu bestimmen, zu welcher er selbst das beste Vertrauen hatte. Der Gewohnheit nach mußten die zwölf Jungfrauen dem Könige bei ihrer Vorstellung ein kleines Geschenk darbringen. Zili, die Tochter eines Oberpriesters, der ein vertrauter Freund des ersten Ministers war, beglückte Seine Hoheit mit einem äußerst seltnen – Schmetterling, der seiner prächtigen Sammlung noch fehlte, und dem er schon lange nachgetrachtet hatte, und Tifan der Zweite, vor Freude außer sich, erklärte die schöne Zili auf der Stelle zur Königin sei nes Herzens und des Reichs.

Kolaf rechnete, wie billig, auf die Dankbarkeit der neuen Königin, welche den Talisman, dem sie ihre Erhebung schuldig war, heimlich von ihm empfangen hatte. Aber die Hofleute machten bald die schwache Seite der jungen Zili ausfündig. Ein wunderschöner junger Nair, der auf einmal durch ihre Veranstaltung am Hof erschien, bemächtigte[325] sich der Zuneigung der Königin Zili durch seine Gestalt, und durch ein Geheimnis die Federn ausgestopfter Vögel in ihrer ganzen Schönheit zu erhalten, der Gunst des Königs, in einem so hohen Grade, daß Kolaf seinen Platz nicht länger haltbar fand, und sich mit einem großen Gehalt und der Würde eines Hohenpriesters von ganz Scheschian, welche ausdrücklich für ihn kreiert wurde, vom Hofe zurück zog.

Von dieser Zeit an stellte der Adel sein verlornes Ansehen nach und nach so gut wieder her, daß die Priesterschaft, wiewohl sie sich vom Hofe fast ganz unabhängig gemacht hatte, es doch der Klugheit am gemäßesten fand, sich an der billigen Teilung zu begnügen, welche ihr von ihren Nebenbuhlern um die Oberherrschaft angeboten wurde; ein Vertrag, der (wie leicht zu erachten) von beiden Seiten nicht so gewissenhaft gehalten wurde, daß nicht jeder Teil beflissen gewesen sein sollte, den andern, so oft sich die Gelegenheit dazu anbot, nach Möglichkeit zu übervorteilen und auszustechen.

Solcher Gestalt bildete sich aus diesem geheimen Einverständnis der mächtigsten Familien des Adels und der Oberpriester eine Art von Aristokratie, worin der Name des Königs und die äußern Formen der Monarchie nur deswegen beibehalten wurden, weil man sich des königlichen Ansehens bedienen konnte, das Volk desto bequemer und ungestrafter zu unterdrücken.

Die Regierung Tifans des Zweiten war eine der längsten in dieser Dynastie, und die neue Ordnung oder Unordnung der Dinge hatte nicht nur Zeit genug sich zu befestigen, sondern erhielt sich auch durch die Klugheit der Häupter beider Parteien in einem ziemlichen Gleichgewichte.

Aber unter seinen Nachfolgern wurde diese friedliche Eintracht häufig unterbrochen. Der Hof des Königs und der geheiligte Palast des Hohenpriesters waren fast immer bald in geheimer bald in öffentlicher Opposition; das Übergewicht der Macht schwankte zwischen beiden hin und her; einige Male kam es sogar zu einem Bruch, der die Ruhe des Reichs erschütterte. Indessen mußte doch zuletzt wieder Friede gemacht werden, und immer war es das Volk ganz allein, das die Unkosten der Aussöhnung tragen mußte.

Die schlechte Haushaltung des Hofes – die kostbaren Launen und grenzenlosen Verschwendungen der Günstlinge von beiderlei Geschlechte – die unersättliche Habsucht der Großen, als natürliche Folge eines übermütigen Luxus, der, wiewohl von dem Blut und Mark des Volkes genährt, niemals genug an sich ziehen konnte um[326] einen bodenlosen Schlund zu füllen – unnötige und ungerechte Kriege, wobei nur Feldherren, Kommissarien und Lieferanten sich bereicherten, während Myriaden unschuldiger Familien zu Grunde gerichtet und der Staat durch die Eroberungen selbst immer ärmer wurde – törichte aber kostspielige Unternehmungen, wobei man ohne Plan und Überschlag des Aufwands und der Kräfte verfuhr, und oft dreimal mit großen Unkosten wieder einreißen mußte, was man mit noch größern gebaut hatte – diese und hundert andere Artikel von gleichem Schlage vermehrten die so genannten Staatsbedürfnisse auf eine so ungeheure Art, daß, ungeachtet die Abgaben, womit das Volk nach und nach unter allen nur ersinnlichen Titeln belastet worden war, den arbeitenden Klassen zu ihrem notdürftigsten Auskommen kaum das Unentbehrlichste übrig ließen, die Zinsen der Staatsschulden zuletzt beinahe die ganze Summe der Einkünfte aufzehrten, und zu Bestreitung der übrigen Ausgaben täglich neue Schulden gemacht werden mußten.

Die Unzufriedenheit des Volkes, welche man lange keiner Aufmerksamkeit würdigte, die immer näher kommende Gefahr eines unvermeidlichen Staatsbankrutts, und die schrecklichen Folgen, die er nach sich ziehen mußte, machten endlich einige redliche Männer, denen das Vaterland am Herzen lag, so kühn, sich zu Vormündern der Nation aufzuwerfen, und ihre Beschwerden der Regierung in einem anständigen aber männlichen Tone vorzutragen. Man verglich den gegenwärtigen Zustand von Scheschian mit dem, was er in den Zeiten des großen Tifan gewesen war, und was er noch itzt in einem ungleich höhern Grade sein könnte, wenn der Ehrgeiz und Eigennutz derjenigen, denen die Nation ihre Wohlfahrt anvertraute, das wohltätige Joch seiner Gesetze nicht abgeschüttelt hätte; man sprach laut und nachdrücklich von den Rechten des Volks und von den Pflichten der Regenten; man ließ keinen Mißbrauch ungerügt, keine Quelle des allgemeinen Elends unentdeckt; man zeigte deutlich und gründlich was anders werden müsse, und wie es besser werden könne. Aber diejenigen, die man dadurch zum Nachdenken erwecken wollte, hörten und lasen entweder nichts, oder hatten zu viel Eigendünkel um sich raten zu lassen, oder affektierten wohl gar Warnungen für Drohungen anzusehen, und ermächtigten sich, die Stimme der Vernunft und der Vaterlandsliebe in dumpfen Kerkern ungehört verhallen zu lassen.

Bald wurde die kleine Zahl der redlich gesinnten Fürsprecher des Volks von einer Menge andrer verdrängt, die (nach ihren Grundsätzen und nach dem Ton ihres Vertrags zu urteilen) keine andre Absicht[327] haben konnten, als die Mißvergnügten noch mehr aufzuhetzen und eine Revolution zu beschleunigen, in welcher sie eine bedeutende Rolle zu spielen hofften.

Die Gärung der Gemüter wurde nun zusehens immer stärker und allgemeiner; das Volk fand seinen Zustand unerträglich, und fing an furchtbare Zeichen zu geben, daß es ihn nicht länger ertragen wolle. Die Regierung hatte sein Zutrauen unwiederbringlich verloren; alle Bande des gesellschaftlichen Vereins waren aufgelöst, alle Springfedern der Regierung ohne Spannung; der Adel und die Häupter der Priesterschaft vom allgemeinen Hasse zu den ersten Opfern seiner Rache bestimmt: mit Einem Worte, das Maß des Unsinns, des Übermuts, der Verbrechen, der Tyrannei, und – der Geduld war voll; nur Ein Tropfen mehr, und es lief über.

Sollte man es für möglich halten, daß diejenigen, die am Ruder des Staats saßen, unter solchen Umständen, während ein jeder, der sich die Ohren nicht geflissentlich zustopfte, den Orkan schon von ferne brausen hörte, sorgloser als jemals schlummerten und von keiner Gefahr sich träumen ließen? Aber sie wurden auf eine schreckliche Art erweckt.

Ein Edikt, worin, unter dem Vorwande dringender Staatsbedürfnisse, dem Volk eine neue Abgabe zugemutet wurde, und welches der Hof in einem Zeitpunkt ergehen ließ, da, entweder zufälliger Weise oder durch geheime Veranstaltungen der Übelgesinnten, ein schnell überhand nehmender Mangel der notdürftigsten Lebensmittel die untern Volksklassen in die lebhafteste Unruhe setzte, – dieses Edikt war das Signal zum allgemeinen Aufstande. Im ganzen Reiche drängte sich der Pöbel in großen Massen zusammen, schwärmte, von den Verwegensten und Ruchlosesten aus seinem Mittel angeführt, überall umher, ermordete alle die es für seine Tyrannen oder für Werkzeuge der Tyrannei ansah, plünderte und zerstörte die Schlösser und Landsitze der Nairen, verbrannte die Zollhäuser, raubte die öffentlichen Kassen aus, und beging alle Arten von Ausschweifungen und Greueltaten. Die Hauptstadt, in welcher die Empörung zuerst ausgebrochen war, ging in allem diesem den übrigen mit ihrem Beispiele vor. Die ihrer Schuld sich bewußten und durch Weichlichkeit und Ausschweifungen entnervten Nairen hatten weder Mut noch Kraft zum Widerstand; viele retteten ihr Leben durch eine schnelle Flucht; die meisten fielen ihren Feinden in die Hände und starben eines schmählichen Todes. Der namenlose König, der letzte und verdienstloseste von Tifans Abkömmlingen, wurde, mit den wenigen die ihn nicht verlassen hatten, in seinem eigenen Palast eingekerkert,[328] und, bei einem mißlungenen Versuch zu entfliehen, der Wut des Pöbels Preis gegeben.

Das Volk, das sich anfangs ohne Plan und Zweck bloß den ungestümen Eingebungen der Verzweiflung, der Rache und Mordlust überlassen hatte, fing endlich an, der Stimme einiger Männer von Talenten und Einsichten Gehör zu geben, die sich zu Wiederherstellung der Ordnung zusammen taten, und durch ihre Popularität das Vertrauen desselben gewonnen hatten. Aber da war kein Dschen-gis, kein Tifan mehr, der mit überwiegenden Geisteskräften Weisheit und Tugend genug vereinigt hätte, um sich alle Gemüter zu unterwerfen, und diese Obermacht, ohne eigennützige Absichten, bloß zum Besten des Ganzen anzuwenden. Der kleinen Anzahl der Wohlgesinnten fehlte es teils an Mut und Beharrlichkeit, teils hofften sie irriger Weise durch die Macht der Vernunft auszurichten, was ihre Gegner, die sich aus Ehrgeiz und Herrschsucht zu Anführern des Volks aufgeworfen hatten, auf einem viel kürzern Wege dadurch erhielten, daß sie sich alles erlaubten und vor keiner Abscheulichkeit zurück bebten, wenn sie nur ein Mittel zu ihrer Absicht war.

Notwendig behielten also die letztern die Oberhand: aber da jeder nur seinen eigenen Zweck verfolgte, keiner dem andern traute, jeder allein herrschen und keiner gehorchen, keiner der Zweite oder Dritte sein wollte, so zerfielen sie unter sich selbst; und während das Reich von einer Menge Faktionen zerrissen wurde, wovon immer eine die andre aufrieb, fielen die benachbarten Könige, nach einem in geheim abgeredeten Plane, zu gleicher Zeit über das zerrüttete und an seinen selbstmörderischen Wunden sich verblutende Scheschian her, und bemächtigten sich, beinahe ohne Widerstand, der Provinzen, die sich ein jeder zu seinem Anteil ausbedungen hatte.

Die unglücklichen Scheschianer, teils unter hundert fremde Völker zerstreut, teils stückweise den angrenzenden Staaten einverleibt, verloren mit ihrer politischen Existenz zugleich ihren uralten Namen; und eines der mächtigsten Königreiche des Orients verschwand so gänzlich von der Erde, daß es, schon zu den Zeiten des sinesischen Kaisers Tai-Tsu, den gelehrtesten Altertumsforschern unmöglich war, die ehmaligen Grenzen desselben zuverlässig anzugeben.


Ende des goldnen Spiegels

Fußnoten

1 Hier bin ich genötiget gewesen eine Lücke zu lassen, welche sich zwar in meinem sinesischen Exemplare nur zufälliger Weise befand, die ich aber aus Mangel eines andern Exemplars nicht ergänzen konnte. Allem Ansehen nach wird das, was Hiang-Fu-Tsee noch sagen wollte, – eine Rodomontade gegen den bekannten Zoilus sein, woran es die sinesischen Autoren eben so wenig als die unsrigen in ihren Vorreden fehlen zu lassen pflegen; und der Leser verliert also nichts durch diesen Mangel.

Anmerk. des latein. Übersetzers


2 Ein gewisser persischer Autor gerät bei Erwähnung dieser Stiftungen Schach-Lolos in eine seltsame Aufwallung. »Kann man«, ruft er aus, »sich sogar im heißesten Fieber einfallen lassen, solche Stiftungen zu machen? Es gehört doch wohl zum Wesen einer Stiftung, daß sie dem Staate nützlich sei? Sultan Lolos Stiftungen mußten gerade die entgegen gesetzte Wirkung tun. Hätte er seine Derwischen und seine Katzen ihrem Schicksal überlassen, so ist Hundert an Eins zu setzen, jene hätten arbeiten müssen, und diese Ratten gefangen, und so hätten beide dem Staat Dienste getan. Welch ein Einfall, sie fett zu machen, damit sie müßig gingen! Gleichwohl was die Katzen betrifft, möcht es noch hingehen; ihr Fett ist doch zu etwas nütze. Aber Derwischenfett! Was soll man mit Derwischenfett anfangen?«

Schek Seif al Horam,

Geschichte der Torheit 364. Teil S. 538.


3 Wir können nicht umhin, die Anmerkung zu machen, daß die Neigung sich zu beschäftigen und ein anhaltender Fleiß unter die seltensten und schätzbarsten Tugenden gehören, die ein großer Herr besitzen kann. Nur um dieser willen verdient, unsers Erachtens, Schach-Dolka einen Platz unter den besten Fürsten, die jemals den Thron gezieret haben. Was hätte er erst verdient, wenn er diesen unverdrossenen Fleiß auf die Ausübung seiner königlichen Pflichten zu verwenden hätte geruhen wollen? – Seine königlichen Pflichten? – Gegen wen? Wo hätte Schach-Dolka hernehmen sollen, daß ein König Pflichten habe? Anmerk. des latein.Übersetzers


4 Allgemeiner Name der ersten Minister der indostanischen Könige der Zeiten, wovon hier die Rede ist.


5 Die Wahrheit ist, daß es weit größer war; aber die schöne Tschirkassierin hatte zu viel Lebensart, um dem Sultan eine solche Unhöflichkeit zu sagen. Beinahe so groß ist alles, was man in dergleichen Fällen wagen darf.

Anmerk. des sines. Übersetzers


6 S. Kämpfers Beschreibung des japanischen Reichs, I.T. 7. Kap. S. 112.


7 Die schöne Nurmahal oder ihre Chronik irrt sich in der Person. Wenn sie sich die Mühe hätte geben wollen, den ehrlichen Gregor von Tours selbst nachzuschlagen, so würde sie im sechsten Buche (wir erinnern uns nicht in welchem Kapitel) gefunden haben, daß es der König Chilperich war; wiewohl man gestehen muß, daß ihr, und dem Sultan Gebal, und dem ganzen Indien, Dagobert und Chilperich völlig gleich viel sein konnten.

Anmerk, des latein. Übersetzers


8 »Hier«, sagt der sinesische Übersetzer, »habe ich eine Anmerkung des indischen Herausgebers dieses Werkes gefunden, die ich mich nicht entschließen kann auszulassen, ungeachtet meine Leser keinen unmittelbaren Gebrauch davon machen können. ›Ich wünschte‹, sind die Worte des Indiers, ›daß alle unsre Großen und Edeln dieser Periode (von den Worten Eine allgemeine usw. bis zu Verzweiflung ein) die Ehre antun möchten, sich derselben zu Prüfung der Fakirn, denen sie ihre Söhne anvertrauen wollen, zu bedienen. Sie haben dazu weiter nichts nötig, als dem Fakir die Periode vorzulegen, und sich eine Erklärung derselben, und die Entwicklung der darin enthaltnen Begriffe und Sätze von ihm auszubitten. Allenfalls könnten sie, um ihrer Sache desto gewisser zu sein, einen Philosophen von unverdächtigen Einsichten mit zu dieser Prüfung ziehen. Versteht der Fakir die Periode: nun, so sei es denn! Versteht er sie nicht oder räsoniert er darüber wie ein Truthahn: so können Sich Ihre Exzellenzen, Gnaden, Hoch- und Wohlgeboren usw. darauf verlassen, daß er ein vortreffliches Subjekt ist, wenn Ihre Absicht dahin geht, daß Ihr Sohn nicht zu vernünftig werden solle.‹«


9 Es bedarf kaum der Anmerkung, daß Schach-Gebal der nüchternste Sultan seines Jahrhunderts, und ein tödlicher Feind der Trunkenheit an andern war. Seine Feinde haben nicht unterlassen, auch von dieser Tugend, welche sie ihm nicht absprechen konnten, wenigstens den Wert zu verringern, indem sie ihr alles raubten, was sie hätte verdienstlich machen können. Aber wir finden nicht nötig, die Wirkung ihrer Bosheit durch Anführung ihrer unartigen Vermutungen fortzupflanzen. Der arme Schach-Gebal besaß nicht so viel Tugenden, daß es billig sein könnte, ihm auch die wenigen, die er besaß, zweifelhaft machen zu wollen. Anmerk, des sines. Übersetzers


10 Gewissen sinnreichen Köpfen zum besten müssen wir hier eine dreifache Anmerkung machen: nämlich erstens, daß die Worte Bonze, Fakir und Derwisch, so oft sie in dieser Geschichte vorkommen, allezeit in der engsten Bedeutung genommen werden, und weiter nichts bedeuten als Bonzen, Fakirn und Derwischen; zweitens, daß Danischmend hier nicht von allem Verdacht einer schmeichlerischen Gefälligkeit gegen die unbillige Denkungsart seines Herrn frei gesprochen werden könne; und drittens, daß die angebliche Demonstration des Sultans sich augenscheinlich auf einen Trugschluß gründet, und also die Bonzen (welche wir übrigens verteidigen zu wollen weit entfernt sind) keineswegs treffen könne.

Anmerk. des latein. Übersetzers


Gleichwohl konnte, alles wohl erwogen, dem Sultan nicht zugemutet werden, anders zu schließen. Er schloß so: Meine Bonzen reden übel von mir, und ich mache mir eine Ehre aus ihrem Tadel; also ist ihr Lob unrühmlich: denn wär es rühmlich, so wäre mir's Schande, es nicht zu verdienen. Nun ist dies aber ein Gedanke, den ich nicht leiden kann; er ist also falsch; und was von mir gilt, das gilt auch von Ogul-Kan: denn, erweise ich ihm nicht die äußerste Ehre, die nur möglich ist, wenn ich ihn für meinesgleichen gelten lasse? – Diese Art zu schließen läßt sich freilich weder durch die Logik des Aristoteles noch der Herren von Port-Royal rechtfertigen. Aber seit die Welt in ihren Angeln geht, hat die Eigenliebe nie bessere Schlüsse gemacht.

Anmerk. des deutschen Übersetzers


11 Diese Periode sagt beinahe mit den nämlichen Worten, was Xenophon seinen Cyrus im I. Buche der Cyropädie (p.m. 52) sagen läßt. Vielleicht hat Psammis diese Stelle wirklich im Sinne gehabt. Wenigstens ist dies nicht die einzige, aus welcher sich erweisen ließe, daß seine Moral echte sokratische Moral ist.


12 Wiewohl nicht zu leugnen ist, daß der Iman hier einige Wahrheiten oder Halbwahrheiten vorbringt, so können wir doch nicht unangemerkt lassen, daß dieser letzte Satz ganz falsch ist. Solon, Pisistratus, Alcibiades, Demetrius Poliorcetes, Julius Cäsar, Antonius, und zehen tausend andre Beispiele haben zu allen Zeiten das Gegenteil bewiesen. Aber freilich mochte dieser Iman, wie viele seinesgleichen, nicht sonderlich in der Geschichte bewandert sein. Anmerk, des latein. Übersetzers


13 Es ist aus den Reisebeschreibungen und Missions-Nachrichten bekannt, daß das Institut der Derwischen sowohl als der Bonzen und Talapoinen sich auf eine after-mystische, schwärmerische Moral gründet, deren Torheit in den Berichten unsrer Missionarien häufig gerüget wird. Die strengern unter den Bonzen haben bei ihren Andachtsübungen und Kasteiungen nichts geringers im Sinne, als Pagoden, d.i. Götter, nach ihrem Tode zu werden. Anmerk. des latein. Übersetzers


14 Wofern Danischmend sich hier nicht überzählt hat, so ist wenigstens zu vermuten, daß die meisten Fürsten alsdann, wenn der Tod im Begriff ist die Gleichheit zwischen ihnen und dem geringsten ihrer Untertanen wieder herzustellen, so denken wie Ludwig VI. von Frankreich, da er sterbend zu seinem jungen Thronfolger sagte: Vergiß niemals, mein Sohn, daß die königliche Autorität nur ein öffentliches Amt ist, wovon du nach deinem Tode (Gott und der Nachwelt) eine genaue Rechnung abzulegen hast.

Anmerk, des latein. Übersetzers


15 Das Vertrauen eines Fürsten zu einem Minister, für welchen er keine besondere persönliche Zuneigung hat, macht ordentlicher Weise (denn es gibt auch hier Ausnahmen) sowohl dem Fürsten als dem Minister Ehre. Es beweiset bei diesem vorzügliche Verdienste, bei jenem die Fähigkeit sie zu schätzen, und die königliche Tugend seine Privatneigungen dem Nutzen des Staates nachzusetzen.

Anmerk. des sines. Übersetzers


16 Dieses Bild erinnert uns an eines der vollkommensten Gemälde des Tasso, auf welches man diese Stelle für eine Anspielung halten würde, wenn Nurmahal nicht etliche Jahrhunderte früher gelebt hätte als der wälsche Dichter.


Ecco tra fronde e fronde il guardo avante

Penetra e vede, o pargli di vedere:

Vede pur certo il vago e la diletta,

Ch‹ egli è in grembo a la donna, essa a l'erbetta:


Ella dinanzi al petto hà il vel diviso

E'l crin sparge incomposto al vento estivo:

Langue per vezzo, e'l suo infiammato viso

Fan biancheggiando i bei sudor più vivo.

Qual raggio in onda, le scintilla un riso

Ne gli umidi occhi tremulo e lascivo,

Sovra lui pende ed ei nel grembo molle

Le posa il capo e'l volto al volto attolle.


E i famelici sguardi avidamente

In lei pascendo si consuma e strugge, etc.


GOFFREDO, C. XVI. 17, 18, 19.


17 Vermutlich sind die Kalifen Harun Al Raschid und sein Sohn Almamon hier gemeint, unter welchen, wie bekannt ist, die griechischen Wissenschaften und Künste in das sarazenische Reich verpflanzt wurden.

Anmerk. des latein. Übersetzers


18 Die meisten alten Gewohnheiten sind verderblich, bloß weil sie alte Gewohnheiten sind. Sie mochten zu ihrer Zeit, unter gewissen Umständen, gut oder doch zu rechtfertigen sein; aber diese Umstände haben aufgehört, und die Gewohnheit, welche dennoch fortdauert, wird schädlich. Daher ist überhaupt nichts so albern als das gewöhnliche Geschrei der Dummköpfe über Neuerungen.

Anmerk. eines Ungenannten


19 Man kann aus Mangel zuverlässiger Nachrichten nicht für gewiß sagen, ob die Scheschianer das Geld nach Unzen Silbers, wie die Sinesen, berechnet, oder ob sie sich goldner und silberner Münzen bedient haben. Wenigstens finden sich, unsers Wissens, keine scheschianischen Münzen in irgend einem europäischen Münzkabinette. Vermutlich aber hat der sinesische Übersetzer, um seinen Landsleuten verständlich zu sein, die scheschianische Art das Geld zu berechnen auf die sinesische reduziert; und wir haben es dabei gelassen, weil es wirklich in Berechnungen die bequemste unter allen ist.

Anmerk. des latein. Übersetzers


20 Dieses Zuvorkommen ist ein Wort von wichtiger Bedeutung, welches wir den Großen zu gelegentlichem Nachdenken bestens empfehlen. »Wenn sie« (sagt unser göttlicher Konfucius) »solchen Übeln, die sich durch menschliche Klugheit nicht vorher sehen lassen, mit Hülfe entgegen eilen, so bald sie von dem Dasein derselben benachrichtiget sind: so ist dies in solchen Fällen alles was man von ihnen fodern kann. Aber es gibt eine Menge unglücklicher Zufälle, welche sich erraten lassen, und Übel, welche man mit Gewißheit vorher sagen kann, weil sie die notwendigen Folgen unsrer eigenen Begehungen oder Unterlassungen sind. Diesen erst alsdann abzuhelfen suchen, wenn sie den größten Teil ihrer schädlichen Wirkungen schon getan haben, ist das Betragen einer unweisen Obrigkeit. Es ist die Schuldigkeit unsrer Obern, solchen Übeln zuvorzukommen; und eben darin liegt eine von den wesentlichsten Ursachen, warum man Obrigkeiten vonnöten hat

Anmerk. des sines. Übersetzers


21 Der indische Verfasser spricht hier der herrschen den Meinung gemäß, nach welcher man sich ich weiß nicht welchen seltsamen Begriff von der Weisheit der Ägypter macht, weil dieses Volk (wenn man das sinesische ausnimmt)A1 das erste war, welches Gesetze, Religion und Sitten hatte. In dieser Voraussetzung hat man freilich Ursache sich zu wundern, wie eine so weise Nation so unweise habe sein können. Aber würde es nicht einer natürlichern Art zu schließen gemäß sein, wenn wir sagten: ein Volk, welches fähig war, Kälber, Affen und Krokodille anzubeten usw. war kein weises, sondern ein sehr albernes Volk. Freilich hörte dann die Gelegenheit sich zu wundern auf; und viele Leute finden ein so großes Behagen daran, wenn sie den Mund aufreißen und sich wundern können.

Anmerk. des sines. Übersetzers


22 Danischmend scheint hier die berühmte Inschrift vor Augen gehabt zu haben, welche zu Sais im Tempel der Isis gelesen wurde: »Ich bin alles was ist, was war und was sein wird; und meinen Schleier hat noch kein Sterblicher aufgedeckt.« In diesem Falle hat er unrecht gehabt, nicht zu empfinden, daß uns diese Inschrift von der unermeßlichen Größe und der majestätischen Unbegreiflichkeit der Natur das erhabenste Bild gibt, das jemals in der Seele eines Sterblichen entworfen worden ist.


23 Von der Wahrheit des seltsamen Aberglaubens, den die Mohren mit ihren Fetischen oder Schutzgöttern treiben, kann sich, wer daran zweifeln sollte, aus der Allgemeinen Geschichte der Reisen, und aus der gelehrten Abhandlung du Culte des Dieux fetiches, überzeugen. Übrigens können wir diese Reflexion des Philosophen Danischmend nicht ohne eine Anmerkung lassen. Der Satz, daß keine Nation an dem Platz und in den Umständen welches andern Volkes man will, viel klüger als dieses andere Volk sein würde, scheint seine unzweifelhafte Richtigkeit zu haben: und wenn man keinen andern Gebrauch davon macht, als den unbescheidenen Stolz einiger Völker auf Vorzüge, welche nichts weniger als das Werk ihrer eignen Weisheit sind, dadurch zu demütigen, und sie empfinden zu machen, wie sehr eine gegenseitige Duldung, auch aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, in der natürlichen Billigkeit gegründet sei; so scheint er unter die Wahrheiten zu gehören, an welche es nützlich ist die Menschen zuweilen zu erinnern. Allein es ist in unsern Tagen gewöhnlich worden, von eben diesem Satze, mittelst gewisser Wendungen, einen sehr schlimmen Gebrauch zu machen. Man hat daraus folgern wollen, die verschiedenen Völker hätten keine andre als subjektive Gründe ihres verschiednen Glaubens, und alle Religionen könnten daher als gleichgültig angesehen werden, oder es schicke sich für keinen weisen Mann, sich für irgend eine Religion mehr zu interessieren, als in so weit es die Gesetze seines Landes und seine übrige Konvenienz erforderten. Diese verderblichen Grundsätze, welche beinahe zu allen Zeiten die Religion eines großen Teils der Weltleute ausgemacht haben, sind indessen nichts weniger als notwendige Folgen aus der Reflexion des weisen Danischmend. Eine Religion aus allen kann nichts desto weniger, aus innerlichen sowohl als äußerlichen überzeugenden Beweisgründen, die wahre sein, oder unbetrügliche Kennzeichen eines göttlichen Ursprungs haben: und da wir Christen mit dem größten Grade der Gewißheit behaupten können, daß unsre Religion wirklich die einzige sei, welche mit allen diesen Kennzeichen versehen ist; so sind wir nicht nur wohl berechtiget, sondern schlechterdings verbunden, alle übrigen, in so weit sie der unsrigen entgegen stehen, für irrig und verwerflich zu erklären. Die Betrachtung, daß wir, zum Beispiel in den Umständen der alten Ägypter, oder unsrer eigenen abgöttischen Vorfahren, eben so abgöttisch und abergläubisch als sie gewesen sein würden, kann und soll also, vernünftiger Weise, zu nichts anderm dienen, als eines Teils uns Mitleiden mit den Gebrechen der Menschheit und Nachsicht gegen die Irrenden und Verführten einzuflößen; andern Teils uns zu Gemüte zu führen, daß wir es nicht den Vorzügen unsers Verstandes, sondern bloß der göttlichen Güte beizumessen haben, daß wir so glücklich sind, eine reinere Erkenntnis des höchsten Wesens und (wie der Heil. Paul sagt) einen vernünftigen Gottesdienst vor so vielen andern Völkern des Erdkreises zu besitzen.

Anmerk. des latein. Übersetzers


24 Siehe den Auszug aus des Marko Polo Reisen in der Allgem. Hist. der Reisen, T. VII. S. 472. Auch die Religion der Mantschuischen Tatarn kommt in der Hauptsache mit dieser überein. S. Dü Halde Beschr. des sines. Reichs, T. IV. S. 37.


25 Wenn man von einem rohen tatarischen Heerführer, wie Ogul-Kan war, Belesenheit vermuten könnte, so sollte man glauben, daß hier eine Anspielung auf den Tyrannen Dionysius von Syrakus wäre, der den Marsyas, einen seiner Staatsbedienten, hinrichten ließ, weil diesem Marsyas geträumt hatte, er habe dem Tyrannen die Kehle abgeschnitten. Plutarch im Leben Dions, Tom. V.p. 167. edit. Londin. de 1724. Plutarch gibt zum Grunde dieses strengen Verfahrens an: Dionysius habe geglaubt, Marsyas würde schwerlich so gefährlich geträumt haben, wenn er nicht wachend mit dergleichen Gedanken umgegangen wäre; und Montesquieu findet diesen Grund (wenn der unbündige Schluß, auf den er sich stützt, auch richtig wäre) nicht hinlänglich, das Verfahren des Dionysius zu entschuldigen. Esprit des Loix, Tom. I.L. XII. ch. XI. Der Gedanke, sagt er, müßte, um strafbar zu werden, mit irgend einer Handlung verbunden gewesen sein. Aber dies war eben die Sache. Woher konnte Dionys wissen was Marsyas träumte? Marsyas hatte seinen Traum erzählt; und dies schien entweder einen bösen Willen gegen den Fürsten, oder doch einen Grad von Unvorsichtigkeit voraus zu setzen, den ein so argwöhnischer und furchtsamer Fürst, wie Dionysius war, strafwürdig finden mußte. Es war ihm daran gelegen, den Syrakusern zu zeigen, daß man sich auch sogar im Traume nicht ungestraft an seiner Person vergreifen könne.


26 Es gibt, mit Erlaubnis des Sultans, Fälle, wo man sich nicht entbrechen kann, spekulative Meinungen als eine Staatssache zu behandeln. Aber desto größer muß auch alsdann die Vorsichtigkeit sein, um einen Funken, durch allzu große Geschäftigkeit ihn zu ersticken, nicht erst zu einer Flamme aufzustieren.


27 Die Geschichte der außerordentlichen Bemühungen, welche Jamblichus, Plotinus, Porphyrius und ihre Anhänger in einer Art von Verzweiflung fruchtlos angewandt, dem unterliegenden Heidentum gegen die siegreiche Obermacht der christlichen Religion zu Hülfe zu kommen, ist das vollständigste Beispiel, das uns die Historie an die Hand gibt, um den Charakter und das Betragen der Bonzen von Scheschian, in einem gewisser Maßen ähnlichen Falle, zu erläutern. Was ließen diese von dem seltsamsten Eifer glühen Schwärmer unversucht, um wenigstens die letzten Augenblicke des sterbenden Aberglaubens zu verlängern? Orakel, Wunder, wiederkommende Seelen, alles, was außerordentlich war, wurde aufgeboten, Pythagoras und Apollonius wurden zu göttlichen Männern und Theurgen erhoben, um sie mit einigem Schein dem großen Stifter der wahren Religion entgegen zu setzen. Das ganze Heidentum wurde umgeschmolzen, die ungereimtesten Fabeln zu allegorischen Hüllen der erhabensten Wahrheiten gemacht, und das Werk des Betrugs und des Aberglaubens in eine Theosophie verwandelt, deren Entdeckungen und Versprechungen einen blendenden Glanz von sich warfen, und unbehutsame Gemüter durch den Schein eines göttlichen Ursprungs täuschten. Man belegte die christlichen Weisen, welche allen diesen Blendwerken Vernunft entgegen setzten, mit dem verhaßten Namen der Freigeister und Atheisten; kurz, man wagte in der Verzweiflung alles. Aber vergebens traten Aberglauben, Schwärmerei und Philosophie in ein unnatürliches Bündnis: die Wahrheit siegte; und eben dieser Sieg bewies, daß sie Wahrheit war.

Anmerk. des latein. Übersetzers


28 Ein sehr nachdrückliches Beispiel hiervon ist der Satz, daß es Antipoden, oder Gegenfüßler gebe, welcher dem Bischof zu Salzburg Virgilius (wofern es nicht ein andrer Virgilius war, wie aus einigen Umständen sich vermuten läßt) so schlimme Händel machte. Diese Lehre war so unerhört und dem damaligen gemeinen Menschenverstande so anstößig, daß selbst die weisesten Männer sich nicht darein finden konnten. »Man legte es ihm so aus« (sagt Aventinus in seinen Baierischen Jahrbücher), »als ob er eine andre Welt, andre (das ist vermutlich nicht von Adam und Eva entsprungne) Menschen, eine andre Sonne und einen andern Mond behaupte. Bonifacius widerlegt diese Sätze als gottlos und der christlichen Philosophie entgegen laufend, bestraft Virgilen deswegen öffentlich und absonderlich, verlangt von ihm, daß er diese albernen Kindereien (Naenias) widerrufe, und die einfältige und lautere Weisheit des Christentums nicht länger mit dergleichen unsinnigen Träumen beflecke.« Der damalige Papst Zacharias, vor welchen diese Sache, ihrer vermeintlichen Wichtigkeit wegen, gebracht wurde, sah sie nicht mit gelindern Augen an als Bonifacius. Er nennt die Lehre von andern Menschen unter der Erde eine verkehrte Lehre, welche Virgilius gegen Gott und seine Seele ausgesprochen habe; und mutet in sehr ernstlichen Evocatoriis dem Herzog Utilo zu (der, wie es scheint, den guten Virgil in seinen Schutz genommen hatte), den gefährlichen Mann nach Rom zu senden, damit er aufs schärfste examiniert, und, wenn er seines Irrtums überwiesen worden wäre, nach den kanonischen Gesetzen gestraft werden könne. Baron. ad annum 748.

Uns dünkt nicht, daß man hinlängliche Ursache habe, den ehrwürdigen Bischöfen, welche diese Antipodensache mit so vieler Strenge behandelt haben, deswegen so häßliche Vorwürfe zu machen, als viele getan haben. Man hat nicht einmal vonnöten, zu ihrer Entschuldigung die Wendung zu gebrauchen, deren sich der berühmte Augsburgische Patrizier, Marx Welser, in seiner Baierischen Geschichte bedient, nämlich zu sagen: daß diejenigen, welche den Virgilius behaupten gehört, die Erde sei rund und auch auf der andern Halbkugel bewohnt usw. seine Meinung unrecht verstanden, und sie also dem Heil. Bonifacius fälschlich hinterbracht hätten. Es ist genug, daß in den damaligen Zeiten das allgemeine Vorurteil, selbst der Gelehrten, in dem Begriffe von Antipoden etwas höchst Ungereimtes fand. Lange zuvor hatte Kosmas der Indienfahrer, ein ägyptischer Mönch, in seiner christlichen Topographie (welche uns Montfaucon im zweiten Teile seiner Sammlung griechischer Kirchenskribenten geliefert hat) versichert, daß die Erde platt sei, und das himmlische Gewölbe an ihren äußersten Enden aufstehe. Dies war zu einer Zeit, wo das Studium der Natur als eitel und profan gänzlich vernachlässiget wurde, die allgemeine Meinung; und ein Satz, wie der, den Virgilius behauptet haben soll, mußte notwendig frommen Ohren anstößig sein.

Anmerk. des latein. Übersetzers


29 Gegen irgend einen Zweig der Freiheit von dem Mißbrauche, der davon gemacht werden kann, argumentieren, ist eben so viel als gegen die Freiheit überhaupt schließen; denn alles kann gemißbraucht werden, sagt der weise Verfasser der Letters from a Persian in England, p. 159.


30 Wir wollen nicht hoffen, daß sich jemand unter unsern Lesern in dem Falle befinden könne, in welchen der ehrliche Klaus Zettel in Shakspeares Mid-Summer-Nights-Dream die Damen zu Athen zu setzen besorgt, wenn er, in dem Schauspiele von Pyramus und Thisbe (welches er und seine Gesellen an dem Hochzeitfeste des Theseus aufführen wollen), als Löwe auf den Schauplatz kommen, und seine furchtbare Stimme hören lassen würde. »Ich werde«, spricht er, »nicht ermangeln ihnen zu sagen: Erschrecken Sie nicht, meine schönen Damen; ich bin kein wirklicher Löwe, wie Sie etwann denken möchten, sondern wirklich und bei meiner Ehre Klaus Zettel, der Weber, und ein Mann, der sich das größte Gewissen daraus machen würde, das Herz einer schönen Dame zu betrüben.« Aus eben dieser Gemütszärtlichkeit erklären wir also auf allen Fall: daß dies Wetter, womit uns Kalaf erschrecken will, bloß gemachtes Wetter war.


31 Plutarch in seiner Abhandlung von Isis und Osiris. Juvenal macht uns von einem ähnlichen Religionskriege zwischen den Ombiten und Tentyriten, welcher daher entstand,


Quod numina vicinorum

Odit uterque locus, cum solos credat habendos

Esse Deos quos ipse colit – –


in seiner fünfzehnten Satire ein schreckliches Gemälde. Die eine dieser Städte überfiel die andre zur Zeit eines großen Festes, wo man sich eines feindlichen Überfalls am wenigsten versah. Die Partie war sehr ungleich, sagt der Dichter; die guten Ombiten waren wohl bezecht, rosenbekränzt, von Salben triefend, und vom Tanzen müde; ihre Feinde hingegen desto erbitterter, weil sie nüchtern waren (hinc jejunum odium). Der Anfang der Feindseligkeiten wurde mit Worten gemacht; von den Worten kam es bald zu den Fäusten; auf beiden Seiten blieben wenig Nasen unbeschädigt usw. »Aber dies« (fährt der Dichter fort) »deucht den Unsinnigen nur ein Spiel; sie wollen nicht nur Blut, sie wollen Leichen sehen. Man wirft also eine Zeit lang mit Steinen auf einander; endlich ziehen die Tentyriten ihre Schwerter. Die Ombiten fliehen in zitternder Verwirrung; die Furcht beflügelt ihre Flucht; nur Einer hat das Unglück den erbosten Feinden in die Hände zu fallen; dieser Unglückselige wird sofort in Stücke zerrissen und mit Haut und Haar bis auf die Knochen aufgegessen. Sie nehmen sich nicht einmal die Zeit ihn zu kochen, sie fressen ihn mit hungriger Gierigkeit roh hinein, und wer glücklich genug ist ein Stückchen von diesem abscheulichen Fraß zu erwischen, glaubt niemals was Wohlschmeckenderes gekostet zu haben.« – – Ob übrigens dieser Religionskrieg der Ombiten und Tentyriten von jenem zwischen den Kynopoliten und Oxyrynchiten verschieden gewesen, oder ob nicht Juvenal vielmehr den letztern unter dem Namen der erstern, weil sie besser in den Vers passen, geschildert habe, wie Salmasius aus sehr gelehrten Gründen vermutet (in Solin. T.I.p. 317–21), ist eine Aufgabe, die wir primo occupanti überlassen, wofern sie anders ihren Meister nicht schon gefunden hat.

Anmerk. des latein. Übersetzers


32 Wiewohl unstreitig etwas Wahres an diesem Gedanken des Philosophen Danischmend ist, so bleibt darum auf der andern Seite nicht weniger wahr, daß die Geschichte, mit beobachtenden Augen durchforscht, und mit philosophischem Blick aus erhabenen Standpunkten übersehen, eine Quelle sehr nützlicher Kenntnisse für den Bürger, für den Staatsmann, und selbst für den bloßen Weltbeschauer ist. Ein gelaßner und aufgeklärter Geist sieht durch das verworrene Gewebe der menschlichen Torheiten hindurch, und entdeckt in dem Zusammenhang und in der stufenweisen Entwicklung der großen Weltbegebenheiten den festen Plan einer alles leitenden höhern Weisheit; er ergetzt, ermuntert, und bessert sich bei dem Anblick des immer währenden Kampfes der Tugend mit dem Laster, der Vernunft mit den Leidenschaften, der Wahrheit mit dem Irrtum und Betrug, der Wissenschaften mit der Unwissenheit, des Geschmacks mit der Barbarei, und erkennt mit Anbetung die verborgene Hand des großen Urhebers der Natur, der aus diesem ewigen Streit in den Teilen, Ordnung und Harmonie im Ganzen hervorzubringen weiß. Die Geschichte des menschlichen Verstandes, die Geschichte der Tugend, die Geschichte der Religion, der Gesetzgebung, der Künste, der Handelschaft, des Geschmacks, des Luxus, und so ferner, sind eben so viele fruchtbare Gegenden der allgemeinen Geschichte, deren besserer Anbau die herrlichsten Vorteile für die spekulativen und praktischen Wissenschaften verspricht. Weit entfernt also die Gesschichtskunde gering zu achten, wünschten wir vielmehr, es allen Studierenden, und überhaupt allen, welche weiser und besser zu werden wünschen, einleuchtend machen zu können, daß die Geschichte, mit wahrer Sokratischer Philosophie verbunden, das höchste und wichtigste Studium eines Menschen ist, der mehr als eine tierische Maschine sein will; und wir haben diese Anmerkung bloß darum beigefügt, um so viel an uns ist zu verhindern, daß niemand einen unbescheidenen und übertriebenen Hang zu Romanen und Feenmärchen mit dieser Stelle des weisen Danischmend zu rechtfertigen vermeine. So gewiß indessen der hohe Wert der Geschichtskunde ist, so ist doch nicht zu leugnen, daß die gerümpfte Nase, womit gewisse Geschichtsforscher auf alles was die Form der Erdichtung hat herab sehen, Unbilligkeit und lächerliche Pedanterei ist. Den Wenigen, denen ihr Beruf zu erforschen was geschehen ist keine Erholungsstunden übrig läßt, ist es wohl zu gönnen, wenn sie abgehärtet genug sind, die Abscheulichkeiten der Byzantinischen Historie oder der Regierung einer Maria von England mit eben dem kalten Blute zu lesen, womit ein Zeitrechner untersucht, in welchem Jahre der Welt der König Misfragmuthosis zu Diospolis regiert habe. Aber ihr Beispiel oder ihr Geschmack macht keine Regel; und empfindsame Seelen werden – beim Anblick alles des Bösen, was auf diesem Sonnenstaube, den wir bewohnen, Geschöpfe von einerlei Gattung getan haben, um einander ein Leben von etlichen Augenblicken zu rauben oder zu verbittern – sich nur allzu oft genötigt fühlen, mit dem weisen Danischmend in die möglichen Welten der Dichter zu fliehen; und sie können deswegen hinlänglich gerechtfertiget werden, auch ohne daß man den Platonischen Grundsatz, welchen Bacon von Verulam zum Vorteile der Dichtkunst geltend macht, dazu vonnöten hat, vermöge dessen das, was wir hier nur für ein Erholungsmittel geben, sogar zu einer sehr wesentlichen Beschäftigung wird.


33 So wie der Vernünftige natürlicher Weise des Toren Meister ist, so hat der vollkommenste Mann ein angebornes Recht über die übrigen zu herrschen: es ist ein Gesetz der Natur, sagte Aristoteles, der Lehrer des größten unter den Königen.


34 Siehe den vortrefflichen Diskurs von der Freundschaft in Montaignes Essays, L.I. ch. 27, besonders die Stellen wo er von seinem Freunde spricht. Zum Exempel: »En l'amitié de quoy je parle, les ames se meslent et se confondent l'une et l'autre d'un meslange si universel, qu'elles effacent et ne retrouvent plus la cousture qui les a jointes. Si on me presse dire pourquoy je l'aymois, je sens que cela ne se peut exprimer qu'en respondant: parceque c'etoit luy, parceque c'etoit moy.« Die Freundschaft ist Eine Seelein zwei Leibern, sagt-nicht der schwärmerische Plato, sondern der gründliche, der tiefsinnige, der kalte Aristoteles; und von allem, was dieser große Mann gesagt hat, macht nichts seinem Herzen mehr Ehre als dies.


35 Wir finden den nämlichen Gedanken unter dem nämlichen Bilde in einem vor kurzem ans Licht getretenen wunderbaren Buche, welches seinem Verfasser vielleicht im Jahre 2440 mehr Ehre, als im Jahre 1772 Nutzen bringen wird. Dieses ungefähre Zusammentreffen wird, wie wir hoffen, dem guten Danischmend nicht zur Sünde angerechnet werden. Der ehrliche Träumer, dessen wir erwähnten, mag wohl ein wenig mehr schwarze Galle in seinem Blute haben, als ein Mann, dem seine Ruhe lieb ist, sich wünschen soll. Aber es ist doch immer schwer, einem Menschen nicht gut zu sein, der seine Mitgeschöpfe so lieb hat, daß ihn weder Bastille noch Bicetre abhalten kann, alles heraus zu sagen was er auf dem Herzen hat. – Der Leser beliebe nie zu vergessen, daß diese Anmerkung, so wie dieses ganze Werk, im Jahre 1771 und 72 geschrieben ist.


36 Chun, der Mitregent und Nachfolger des guten Kaisers Yao. Siehe Dü Haldes Beschreibung des sinesischen Reichs I.T.S. 263 der deutschen Übersetzung. Im übrigen ist nicht zu bergen, daß die Geschichte der sinesischen Kaiser Yao und Chun, allem Ansehen nach, nicht mehr historische Wahrheit hat, als die Geschichte des scheschianischen Königs Tifan.


37 »Die vollkommensten Gesetze«, sagte Sokrates, »sind diejenigen, welche man nicht ungestraft übertreten kann, weil sie uns durch die natürlichen und unvermeidlichen Folgen ihrer Übertretung bestrafen«; und er beweiset dem Sophisten Antiphon, daß die Gesetze der Natur, oder, welches eben so viel sei, die allgemeinen Gesetze Gottes, diese unterscheidende Eigenschaft haben. Siehe Xenophons Charakter und merkwürdige Reden des Sokrates B. IV. Die Gesetze der Natur und des gesellschaftlichen Lebens sind die Regel der Könige, von welcher sie niemals ungestraft abweichen können. Die ganze allgemeine Staatsgeschichte ist ein Kommentarius über diese große Wahrheit; und ohne weit in die alten Zeiten zurück zu gehen, wird uns zum Exempel das Leben eines Philipps II. und Ludwigs XIV., der tragische Tod Karls I. von England, und der Fall seines Sohnes Jakobs II. Beispiele genug darstellen, sie zu erläutern und zu bestärken.


38 In der Tat fällt das Ungereimte in dem Verhältnis der Kräfte eines einzelnen Menschen, gegen die ungeheure Unternehmung allen Unbilden und Fehden in der Welt steuern zu wollen, einem jeden in die Augen. Und gleichwohl ist nichts wahrscheinlicher, als daß ein Dutzend Don Quichotten, die sich mit einander verständen, und, anstatt auf die Feinde des Don Gaiferos und der schönen Melisandra, auf die Feinde des menschlichen Geschlechtes mit eben dem Mute, mit welchem der Held von Mancha seine schimärischen Gegner bekämpfte (nur freilich mit einem gesundern Kopfe als der seinige war), los gingen, – die Gestalt unsrer sublunarischen Welt binnen einem Menschenalter mächtig ins Bessere verändern würden.


39 Sollt es möglich sein, daß unter allen künftigen Regenten, denen diese Geschichte in einem Alter, da ihr Kopf noch nicht zu sehr verschroben und ihr Herz noch nicht ganz versteinert ist, in die Hände käme, auch nur Einer wäre, der, nachdem er diesen Tifan kennen gelernt, den Gedanken ertragen könnte, einen solchen Charakter ein bloßes Ideal bleiben zu lassen?

Anmerk. eines Ungenannten


40 Die Erfahrungen, welche die französische Nation hiervon seit fünf Jahren gemacht hat, bestätigen die Wahrheit dieses Satzes auf die einleuchtendste Weise.


41 Die Erfahrungen, welche die französische Nation hiervon seit fünf Jahren gemacht hat, bestätigen die Wahrheit dieses Satzes auf die einleuchtendste Weise.


42 Man würde die Absicht des Herausgebers dieser Geschichte sehr verfehlen, wenn man dasjenige, was hier und an andern Stellen von den Einrichtungen oder Maximen des Königs Tifan gesagt wird, für einen indirekten Tadel weiser und mit den tiefsten Einsichten in die Regierungskunst begabter Fürsten ansehen wollte. In einem idealen Staate kann man alles einrichten wie man will; in einem wirklichen ist der größte Monarch nicht allezeit noch in allen Stücken Herr über die Umstände. Was in Scheschian schicklich war, oder es durch Tifans Gesetzgebung wurde, ja, was an sich selbst und im allgemeinen als vorteilhaft für alle Staaten gelten kann, kann in einem gewissen Staate, besonderer Umstände und Verhältnisse wegen, nachteilig, unschicklich oder gar unmöglich sein.


43 Im Jahre 2440 soll (wenn Merciers patriotischer Traum noch in Erfüllung ginge) eine ähnliche Einrichtung in Frankreich zu sehen sein. Vielleicht hat die Revolution, welche sich der Träumer wohl nicht so nahe vorstellte, die 645 Jahre, die bis dahin noch hätten verfließen sollen, beträchtlich abgekürzt.


44 Es gibt noch mehr Klassen, bei denen dies eine eben so ausgemachte Sache ist. Jeder greife in seinen eigenen Busen, und richte sich selbst!


45 Es gibt einen albernen, kindischen Nationalhochmut, der unstreitig ein eben so lächerliches als schädliches und also ein sehr häßliches Nationallaster ist: aber es gibt auch einen edeln tugendhaften Nationalstolz, ohne welchen die Griechen niemals die Zeiten des Perikles, die Römer niemals die Zeiten der Scipionen, die Engländer niemals die Zeiten ihrer guten Königin Elisabeth gesehen hätten; ohne welchen eine Nation nur eine große Rotte von Menschen ist, die sich von ungefähr, wie Reisende auf einer Landkutsche, beisammen finden; ein verächtlicher Haufe ohne Charakter, ohne Stärke, ohne Mut, ohne Geschmack, ohne irgend etwas, das sie aus dem Dunkel, das schon so viele Völker verschlungen hat, hervorstechen machen könnte.


46 Es gibt in der Haushaltungskunst gewisse höchst einfältige Regeln, deren Verachtung gleichwohl von großer Beträchtlichkeit ist. Ein Regent wendet, zum Beispiele, zehntausend Taler zu einer gewissen Absicht an, welche durch diese Summe nur sehr unvollkommen, d.i. wenig besser als gar nicht, erreicht wird. Zweitausend Taler mehr würden alles gut machen; aber diese will man ersparen: man muß sich behelfen, heißt es, und überlegt nicht, daß man, um diese zweitausend Taler zu behalten, zehen tausend verliert, weil die Vorteile, die man damit zu gewinnen sucht, nicht gewonnen werden.


A1

Hier betrügt vielleicht den ehrlichen Hiang- Fu-Tsee sein Patriotismus ein wenig. Die Sineser haben (wie uns ein großer Kenner der ägyptischen Altertümer bewiesen hat) eben sowohl wie die Griechen ihre Polizei und Wissenschaften ägyptischen Kolonien oder auf Abenteuer ausgehenden Wanderern dieser Nation zu danken gehabt.

Anmerk. des latein. Übersetzers


Die größten Kenner der ägyptischen Altertümer wissen, im Grunde, bei aller ihrer Belesenheit und Scharfsinnigkeit nicht viel mehr davon als andere. Ihre Hypothesen sind daher auch eben der Hinfälligkeit unterworfen, welche von jeher das Schicksal der wissenschaftlichen Hypothesen gewesen ist. Vor wenigen Jahren bewies man uns, daß die Sineser von den Ägyptern abstammeten: nun hat uns Herr v.P. bewiesen, »daß weder diese von jenen, noch jene von diesen abstammen«; und so gewinnen wir doch so viel dabei, zu wissen, daß wir nichts von der Sache wissen; und dies ist, nach dem Urteil des weisen Sokrates, immer viel gewonnen.


Quelle:
Christoph Martin Wieland: Der goldne Spiegel und andere politische Dichtungen. München 1979.
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