Vierte Vorlesung.

[38] Gegen den Unfug Historie, gegen die schlechten Gewohnheiten, die das Leben umstricken, gegen die gemeinen Ansichten, gegen das unfreie und knechtische Formelwesen, das nur den blinden Gehorsam und das tote Gedächtnis in Anspruch nimmt, gegen alles, was die Äußerungen der schönen und wahren Natur im Keim erstickt, kühn und offen zu protestieren, das sei die Aufgabe der edleren Jugend, war der Inhalt und die Aufforderung meiner letzten Vorlesung.

Um Ihnen aber diese Aufgabe recht nahezulegen und Sie auf den ganzen Umfang derselben aufmerksam zu machen, führte ich Sie zum Schluß in die Hallen zweier Wissenschaften, welche sich humaniora nennen und durch dieses epitheton ornans schon in der Benennung sich über jene Studien erheben, welche das Positive der drei Fakultäten umfassen und denen der Name: Brotstudien, leider nur mit zu vollem Rechte zukommt. Warnen und verwahren wollte ich bei so passender[39] Gelegenheit vor dem Irrtum, als bringe das Studium der Geschichte und Philosophie, wie es an noch damit gehalten wird von den Studierenden, in jenen höheren Kreis der Humanität, und als sei dasselbe in der Tat etwas Besseres und Edleres, als z.B. das Studium des Rechts oder der Medizin oder der Diplomatik oder der Genealogie und Wappenkunde, welche letzere, wie Hegel spöttisch sagt, die positiveste aller Wissenschaften ist. Von dem Ungeschichtlichen, das ist Unepischen unserer Geschichte habe ich dies ausführlicher und aus dem Begriff der Geschichte selbst zu erweisen gesucht, und ich zweifle nicht daran, daß manches Wort aufgehen wird, als Samenkorn, das die schönere Idee und Ansicht zur Reise bringt; bin ich mir doch selbst bewußt, daß mir von der Zeit an, als mir die Ahnung der Geschichte aufging, das ganze Leben klarer geworden ist, und ich für das Theoretische und Praktische, für das Wahre und Schöne, das sich gemeiniglich polarisch gegenüber zu stehen pflegt, einen Mittelpunkt gefunden habe, in dem sich beide geschwisterlich vereinigen. Es bleibt mir noch, Sie auf das Studium der Philosophie aufmerksam zu machen, und auch in dieser Hinsicht der lebendigeren Ansicht, der mit der Schönheit verwandteren die Tür zu öffnen, wogegen die unästhetische Ansicht breitstämmig sich anlehnt. Ich habe aber absichtlich die Philosophie hinter der Geschichte genannt, um von ihr einen Übergang zu machen zu der Philosophie jener Kunst oder Wissenschaft, welche der beabsichtigte Inhalt dieser Vorlesungen ist.[40]

In welcher Absicht studiert man auf Universitäten die Philosophie? In der Regel aus keiner, oder um des Examens wegen. Aus keiner; denn welche Absicht soll einen zur Erlernung einer Wissenschaft hintreiben, deren Wesen und Zweck so unbekannt sind, wie die Philosophie den meisten, die von der Schule auf die Universität ziehen. Auch hier findet sich das klägliche Mißverhältnis zwischen den höheren und niederen Bildungsanstalten, das überall durchbricht und nach allen Seiten eine Scheidewand zwischen den beiden großen Schritten zieht, welche der studierende Jüngling zu machen gezwungen ist, dem Schritt der Schulbildung und dem Schritt der akademischen Bildung. In der Tat sind die beiden Prinzipien, worauf hier die Schule, dort die Akademie gegründet sind, durchaus voneinander verschiedene und bewegen sich in entgegengesetzten Elementen. Die Schulbildung leitet in die alte klassische Welt, oder wenigstens macht Anstalten, bestrebt sich, gibt sich das Ansehen, dieses zu tun. Die Universitätsbildung dagegen bereitet vor zum praktischen Leben, zum Staatsdienst, zur Ausfüllung derjenigen Ämter, welche herkömmlich in diese große hölzerne Maschine eingreifen, welche wir unser öffentliches Leben nennen. Ich wüßte aber nicht, welche beide Richtungen sich kontrastierender nach ganz verschiedenen Regionen verlaufen, als die Richtung auf das Leben der Alten und auf unser Leben, sie berühren sich wirklich ebenso nahe, als der Nordpol und der Südpol am Himmel, als Hemmung und Freiheit, Kunst und Unkunst, Poesie und Prosa, Geist und[41] Geschmacklosigkeit, freier Marktplatz und enge Stube, bewußter Genuß und dumpfe Vegetation, Männerwürde und ergebenste Diener usw. Doch wird es glücklicher- oder unglücklicherweise mit dem Studium des freien Altertums auf unseren Schulen nicht so gründlich ernsthaft gemeint, als sollte denn nun auch im Gemüt der Jugend aufgehen der Strahl, der jene untergegangene Welt verklärte, als sollte es in Liebe entflammen für den großen Sinn und die Großtaten einer Heldenwelt, als sollte es sich mit der ahnungsvollen frischen Begeisterung jener glücklichen Jahre, die wir in den höheren Klassen der gelehrten Schule zubringen, den erzgegossenen Pforten des Heiligtums nähern, sich unter die Schatten jener fröhlichen Menschheit mengen, die ihn bevölkern, und aus ihren Gesichtern, Bewegungen, Reden und Gesängen den schönen Geist studieren, der über allem thront und schimmert – so ist es denn nicht so recht eigentlich gemeint, obgleich uns gelegentlich und in Schulreden und Schulprogrammen viel Schönes und Rührendes vom bildenden Studium der alten Klassiker vorgesprochen wird, und wir selbst auch selten verfehlen, beim Abgang in lateinischen oder deutschen, gereimten oder ungereimten Abschiedsworten, die hohe Wichtigkeit der Freundschaft und der Vaterlandsliebe u. dgl. nach Mustern des Altertums darzustellen und diesem mit dem besten Kranze unserer er sten jugendlichen Beredsamkeit, mit den erlesensten Floskeln aus Cicero das Haupt schmücken. Allein ich frage Sie selbst und die Mehrzahl deutscher Studierender, ob diese festliche Begeisterung,[42] die ich soeben erwähnte, der natürliche, aufrichtige und ungekünstelte Erfolg und Erguß ist aus den Studien, die wir in der Klasse getrieben, oder nicht vielmehr ein hergebrachter Aktus, bei dem wir entweder nichts fühlen und denken, oder, im besseren Fall, bei dem wir mit Phantasie und einigem Gefühl gleichsam wehmütig das aussprechen, was uns das Altertum hätte sein sollen und werden können in der blühenden Zeit, als wir in Prima saßen, und über der Schale nicht zum Kern gelangen konnten. Zerstreut sind wir worden und ermüdet vor der Zeit, ein nacktes, dürftiges Wissen von Vokabeln und Regeln, von Stellen und Gebräuchen haben wir in die Fächer unseres Gedächtnisses eingesammelt, roh und ungebildet oder frostig gelehrt und altklug gehen wir aus der Schule der Alten hervor, und nicht dürfen uns beneiden jene Gespielen unserer ersten Jahre, welche nicht, wie wir, zur Fahne der Gelehrsamkeit schworen, sondern mit dürftigem Wissen, aber desto derberem und fröhlicherem Lebensgefühl sich dem Landbau oder andern bürgerlichen Geschäften widmeten. Sie haben sich noch selbst behalten, sie sind sich noch der Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird nicht hin und her geworfen durch widersprechende Gefühle und Ansichten, sie lieben die nahe Gegenwart, die kernhafte Arbeit des Tages, sie ruhen von ihrem Geschäft, spannen sich an und ab nach dem ältesten Gesetze der Natur, das im behaglichen Wechsels zwischen Tätigkeit und Ruhe besteht, und wenn ihr Geist auch nicht für den Genuß höherer Freuden ausgebildet[43] ist, so schwebt er auch nicht, wie Tantalus, durstig an der verbotenen Quelle, ohne einen Tropfen der Labung erhaschen zu können, so ist er auch nicht verbildet, halbgebildet, unfruchtbar gebildet, und durch die verschiedenen Elemente seiner Bildung mit sich selbst in Kampf und Streit geraten, was alles, wie wir selbst am besten wissen, unserer jetzigen gelehrten Schulbildung saure Frucht zu sein pflegt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es für den tüchtigsten Schulmann eine unendlich schwere Aufgabe ist, den Dichter, den Redner, den Geschichtschreiber, den Philosophen des griechischen und römischen Altertums, bei unseren heutigen gesellschaftlichen Zuständen, bei der Mechanik des Staatslebens, dessen hölzerne Räder auch in der Schulstube klappern, fruchtreich in den Schulen zu erklären; allein eben so gewiß ist es, daß den wenigsten nur einmal die Ahnung aufgegangen ist von der Bedeutung der Alten für das jetzige Leben, daß sie selbst jene großen und leuchtenden Züge in den Pergamenten klassischen Altertums, die Züge der reinen Natur, des tiefen Sinnes für die Mysterien der Welt, für Wahrheit und Schönheit nur selten einmal mit verwandtem Auge selbst angeschaut und sich von ihnen durchdrungen haben. Wie sollte es anders kommen. Ein Schulmann bildet den andern, und die Philologie ist soweit aus dem Leben gerückt und das Leben selbst äußert sich noch so glatt, schwach, dürftig und widersprechend, daß es immer ein halbes Wunder bleiben muß, wenn ein Voß, ein August Wolf mitten aus philologischem Wuste sich erheben und Funken[44] poetischer Lebendigkeit ausströmen, die kein Mensch vor ihnen dieser Wissenschaft zutraute.

Wären und würden nun solche Männer häufig und häufiger, entvölkerten sich die Schulämter nach und nach von Leuten, die mit dem Altertum nicht bloß ein Silbenstechen halten, konjugieren und deklinieren lehrten, sondern dessen Geist zu erläutern und Jünglingen einzuflößen verständen, so würde dies eine Reaktion auf die Universitäten verursachen, welche sich auf alle die humanen und inhumanen Studien erstrecken würde, die man herkömmlich auf ihnen treibt, und es würden nicht allein die sogenannten Brotstudien davon gut haben und zu Geiststudien aufrücken und mit der Humanität mehr Hand in Hand gehen, sondern auch selbst die humaniora würden humaner werden und nicht so leicht einer Geschichte und Philosophie nur darum etwas studieren, weil etwas Kenntnis davon im Examen verlangt wird, sondern aus innerem Antrieb, aus reiner Bildungslust und mit der, auf Schulen bereits erzielten Vorbereitung zum würdigen Eintritt in diese höheren Gebiete der Wissenschaft. Denn es ist eben das Leben der Alten, wie es in den Schriften derselben erscheint, wahrhaft geeignet, eine solche Vorbereitung zu bewerkstelligen und eine Gesinnung und Gemütsstimmung zu erzeugen, die auf das Ideale in jeder Kunst und Wissenschaft gerichtet ist. Und schon allein das Studium, das ist das lebendige Ergreifen der schönsten platonischen Dialoge, in welchen die ewigen Ideen der Schönheit wie Fixsterne für alle Zeiten leuchten, ist hinlänglich, um die Weihe[45] für ein ganzes Leben zu erhalten, hinlänglich zunächst, um auf das Studium der Philosophie und der mit der Philosophie unmittelbar verwandten, aus ihr entsprungenen und durch sie zu befestigenden Wissenschaften eingeleitet zu werden; denn wie Böckh richtig sagt, in dem Maß, als der Jüngling ergriffen wird vom Geist der Alten, in demselben ist er fähiger zum Philosophieren. Aber man glaube nicht, daß man Philosophie studiert, wenn man sich die logische Technik zu eigen macht, wenn man alles das lernt und weiß, was die Philosophen von Indien durch Griechenland bis nach Deutschland, von der ältesten Zeit bis auf die jetzige gewußt und nicht gewußt haben, wenn man ungekochte und unverdaute Meinungen über Gott und Welt in sein Hirn preßt, wenn man die Sprache der Philosophen als ein Abrakadabra unverstanden und unverständlich nachbetet, oder sich auch selbst »mit Worten ein System bereitet«, weil man, um mich eines Ausdruckes von Goethe über das hohle scholastische Treiben einer Gattung von Philosophie zu bedienen, weil man der Ansicht lebt:


An Worte läßt sich trefflich glauben,

Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.


Philosophie ist nichts, was sich lehren und lernen läßt auf dem Wege historischer Mitteilung. Die Philosophie steht nicht auf dem Katheder und spricht die Zuhörer zu Philosophen, der Lehrer kann sie dem Schüler nicht in die Hand drücken, wie ein Stück zurechtgekauter Wissenschaft, wie ein fertiges Machwerk, die Philosophie ist eben nichts anderes als das Philosophieren, als das[46] wissenschaftliche Bearbeiten seiner eigenen Begriffe, als das Selbstdenken, wenn sie sich theoretisch, das Selbstfühlen und Selbstanschauen, wenn sie sich praktisch äußert. Das ist nun aber ebensowenig eines jeden Menschen Sache, als die Poesie, die Liebe, und was einem sonst als freies Geschenk vom Himmel fällt, und das man wohl durch Fleiß und Mühe ausbilden und veredeln, aber im Schweiße seines Angesichts sich nicht anschaffen kann, wenn das Organ dafür nicht angeboren ist. Allerdings sind alle Menschen zum Denken, zum Selbstdenken berufen, und wenn man die Menge so gedankenlos in den Tag leben sieht, so schreibe man dies eben ihrer Erziehung und dem bleiernen Druck der Verhältnisse zu, der auf ihr lastet; wird dieser Druck aufgehoben, so fangen auch die Federn ihres Verstandes an zu spielen, und die Geburtstunde der, freilich immer relativen, Selbständigkeit hat für sie geschlagen. Allein auch der gebildetste Mensch, geschweige denn die Masse, ist nicht immer für jene Art der Bearbeitung seiner Begriffe geschaffen, welche im heutigen Sinn und unter uns Deutschen vorzugsweise die philosophische heißt und die in ihrer letzten scharfen Bestimmung auch nur als Laie zu ahnen, man einigermaßen von Natur begünstigt sein muß, die also mit einem gelegentlichen Wort nicht abgetan werden kann. Das Philosophieren in diesem strengen Sinn, mag es nun für den Philosophierenden ein Glück oder Unglück sein, mag es ein Zustand der Gesundheit oder Krankheit des Geistes genannt werden müssen – und darüber lauten bedeutende Stimmen sehr verschieden –[47] kann und darf nur als eine freie Kunst getrieben werden, zu der niemand gezwungen ist, ja, zu der niemand aufgefordert werden soll, noch weniger, von dessen Resultaten er zu Glückstadt oder Schleswig endliche Rechenschaft zu liefern hätte, es muß sich freiwillig und von selbst einfinden, es muß ihm, wie jedem freien Erzeugnis des Geistes allerdings nichts in den Weg geschoben werden, im Gegenteil muß er die Mittel seiner Nahrung auf den vaterländischen Bildungsanstalten antreffen, und der Staat muß seinem späteren Einfluß auf Gesellschaft und öffentliches Leben ruhig entgegensehen – das sind die Bedingungen, unter welchen die höhere Philosophie bei uns wachsen und gedeihen müßte, wenn sie Jünger und Enthusiasten findet, die, nach gewissenhafter Prüfung, ihr Leben ihr zu widmen gedächten; denn darauf, auf die Widmung eines ganzen Lebens mit allen seinen Tendenzen macht sie Anspruch, denn sie will nicht etwa dann und wann, und hie und da, zu diesem oder jenem Behufe, studiert, zitiert und benutzt werden, sondern rein um ihrer selbst willen, und verlangt alle die Opfer, welche eine eifersüchtige und gerechtstolze Geliebte ihrem Liebhaber zum Gesetze macht. Ihr Bild soll er auf dem Herzen tragen, ihr Gedanke soll ihm vorschweben Tag und Nacht, nur für ihre Gespräche soll er ein Ohr haben, und in ihrem Umgang sich glücklich fühlen und gegen jedermänniglich behaupten und ausfechten, daß sie die Unvergleichlichste und Schönste sei unter allen ihren Schwestern auf der Welt.[48]

Ist das nun, meine Herren, dieser Urania echter und wesentlicher Charakterzug, an der sie jeder Selbstphilosophierende erkennt, an der sie ein Plato, ein Kant, ein Fichte, ein Reinhold wiedererkannt hätten, so fühlen und begreifen Sie wohl, daß Philosophie in diesem deutschen Sinn – denn Franzosen und Engländern ist der Begriff der Philosophie so weit, daß die ersteren eine leichte lustige Lebensansicht und die letzteren die Experimentalphysik für Philosophie und Elektrisiermaschinen und Luftpumpen für philosophische Instrumente ausgeben – daß Philosophie in diesem Sinn nur einer kleinen Zahl von Sterblichen angehöre, wozu namentlich weder ich, noch vielleicht einer von den Anwesenden sich zählen möchte. Und da hören Sie offen und freimütig ausgesprochen, was man so selten gesteht, womit man sich untereinander ein Geheimnis macht, das aber die Wände unserer Hörsäle längst ausgeplaudert haben, das Geständnis, Philosophie liegt de fakto außer dem Kreis der größten Anzahl der Menschen, ja mehr, außer dem Kreis selbst jener Auserwählteren, welche sich auf Akademien dem Studium der Wissenschaften hingeben. –

Wollten die Wände noch etwas hinzufügen, so könnten sie auch sagen: das gerade ist eine von euren vielen Lügen, daß ihr dutzendweise auftretet und sagt: mit der Philosophie auf vertrautem Fuß zu leben, obgleich euch diese verschleierte, edle Dame kaum dem Namen nach kennt.

Sie sehen hieraus, meine Herren, daß ich nicht der Meinung bin, als müsse die Lesung der[49] Alten auf Schulen und was man sonst noch auf denselben zur Vorbereitung für die Akademie zu treiben Pflegt, eine vorherrschende Richtung auf die Philosophie bekommen, im Gegenteil glaube ich, daß der Schulmann sich in dieser Hinsicht darauf zu beschränken hat, die geistreiche Fassung, die wunderbare Form und Schönheit bemerklich zu machen, wodurch sich die philosophischen Schriften des Altertums so sehr zu ihrem Vorteil von den neuen Schriftstellern der Philosophie unterscheiden. Und sind es nicht überall vorzüglich diese idealen Formen des Altertums, zu deren Anschauung und Würdigung der Schüler frühzeitig soll hingeleitet werden und auf denen am Ende die Frucht jener mühseligen und zeitraubenden Studien beruht, denen sich der Schüler unterziehen muß, um zum Verständnis der Quellen zu gelangen? Sind es nicht diese süßen, wohllautenden Töne der Ilias, an denen sein Ohr Harmonie und Rhythmik erlauschen soll, ist es nicht die klare und durchsichtige Darstellung der homeridischen Welt, die seinen Geist mit gewissem Zauber befangen und ihn aufmerksam machen soll auf die dichterische Iuweleneinfassung eines Stoffes, der unter anderen Händen, als unter Homers, von jedem anderen gemeinen Stoffe vielleicht nur durch den tragischen Ausgang und die Zerstörung einer blühenden Stadt verschieden wäre. Und wird darum nicht Herodot, Thuzydides recht eigentlich auf Schulen gelesen, oder sollten sie nicht darum gelesen werden, um den Schülern den echten epischen Stil der Geschichte frühzeitig an so ausgezeichneten[50] Mustern vor Augen zu stellen und ihnen den Unterschied zwischen ihm und der modernen Oeschichtsklitterung klar und augenfällig zu machen? Und Platons Symposium, Phädrus nicht hauptsächlich, um ihrem Geschmack attisches Salz auf die Zunge zu legen, Besonnenheit in der Begeisterung, Beherrschung des Stoffes und sokratische Ironie zu lernen? Hat denn wirklich noch außerdem der deutsche Schulmann einen höheren Zweck bei Lesung der Alten vor Augen, oder darf und soll er ihn haben? Soll er vollkommene Griechen aus unseren deutschen Jünglingen machen, auch im besten Sinn Griechen, und nicht bloß Gräculi? Einmal müßte er notwendig in seiner Absicht scheitern, da sich der Charakter einer Nation nicht überdozieren läßt auf eine andere, und zweitens, wäre schon die Absicht ein Hochverrat gegen die eigene Nation, die, so schmählich sie auch zerrissen und zerrüttet ist, doch noch immer nicht an sich selbst zu verzweifeln braucht und noch im Grunde ihres Daseins tieflaufende Adern bewahrt, die neu entdeckt und ausgegraben plötzlich über die Wüste hersprudeln und dem schmachtenden Zustande ein Ende machen können. Erziehung des Jünglings nicht zum Philosophen, nicht zum Griechen, sondern zum wackeren, gebildeten Deutschen, ist des deutschen Lehrers höchste, zum lebendigen Glied jener Kette der Nationalität, die Gottlob von Tage zu Tage mehr Glieder und Ringe in sich aufnimmt und von der Donau bis zur Ostsee mehr freudig hoffende Seelen umspannt, ist des deutschen Lehrers nächste Pflicht.[51]

Bildung, meine Herren, ist ein weites Wort und läßt sich viel darein fassen. Von theologischer, philosophischer, juristischer Bildung macht man sich leichter Begriffe, aber, wo von höherer, allgemeiner, von humaner Bildung die Rede ist, da schwebt der Begriff ins Unbestimmte und weder der Bildung Ziel noch Umfang tritt den meisten recht klar vor Augen. Das kommt, wir sind, wie die Fische außer dem Wasser, und leben in keinem rechten Element, wir geben uns im ganzen Mühe genug uns zu bilden und vielleicht mehr als irgend je eine Nation auf dem Erdboden; allein, obgleich wir schon behaupten können, daß wir unendlich viel mehr wissen und lernen, als z.B. unsere Nachbarn überm Rhein und selbst die Engländer, so möchten wir uns schwerlich mit Recht, wenn wir im Leben mit ihnen zusammenstoßen, mehr Bildung beilegen dürfen, als ihnen. Gutmütig scheinen wir den Fremden, und das ist alles, was sie gutes von uns sagen. Hören wir dagegen unsere Philosophen, so liegt die Nnvollkommenheit unserer Bildung darin, daß wir noch nicht tief genug in die Paragraphen ihrer Philosophie eingedrungen sind, und, während der Franzose, der Engländer, die äußere Form und Fassung an uns vermißt, vermißt ein Hegel noch die erste, notwendige philosophische Grundbildung bei den Gebildeten der Nation. Wenn wir uns nun keineswegs dazu verstehen können, in eine uns fremde oberflächliche Form und Feinheit nach Franzosenart Wert zu setzen; auch nicht mit Allgemeinheit das tiefere philosophische Bedürfnis fühlen, so müssen wir doch anerkennen, daß uns selbst noch[52] jenes schöne Mittel zwischen dem Allerinnersten und Äußersten, zwischen dem mysteriösen Grund der Philosophie und der mit Leichtsinn und Flittergold belegten Oberfläche des Lebens nicht so recht innewohne, so daß wir sagen könnten, wir lebten darin, wie die Vögel in der Luft, und wie die Fische im Wasser. Vielmehr ist es gar vielen nicht einmal zum Bewußtsein gekommen, daß ihnen der eigentliche Mittelpunkt der Bildung abgehe, daß sie, um sich zu fördern und in guter Absicht rechts und links umhergreifen, um sich Elemente zur Bildung anzueignen, welche dann oft die allerheterogensten sind und eine wunderliche musivische Arbeit hervorbringen, wo rote, blaue, gelbe und grüne Steine seltsam und abenteuerlich nebeneinander liegen. Wo die Grundwurzel dieses Übels liege, ist leicht abzusehen. Die Griechen hatten es leichter, sich zu bilden, sie wuchsen schon als Kinder in solche Bildung hinein, Religion, Politik, Moral, der Himmel selbst begünstigte sie. Wir haben es dagegen schwer, oft ist uns alles entgegen, wir werden von früh auf hierhin gerissen, dorthin gerissen, sind eine Beute der widersprechendsten Neigungen und haben nirgends einen breiten sicheren Grund, um in Gemeinschaft mit andern darauf fortzuwandeln. Es mangelt uns an großen gemeinsamen Zwecken, es mangelt uns an öffentlichem Leben, und wenn die Schwingungen des griechischen Geistes zwischen Wissenschaft und Staat, zwischen Wahrheit und Schönheit, zwischen Religion und Poesie, zwischen Himmel und Erde gleichmäßig hin und her gingen und sich nie aus der Wahn entfernten, so schwanken die unsrigen ohne[53] rechtes Maß bald zu der einen, bald zu der andern Seite über, und es können in einem Hause der tiefsinnigste und abstrakteste Philosoph, der plattste Lebemensch, der wütendste Demagoge und der ledernste Philister wohnen.

Es fehlt uns also an gemeinsamen Mitteln der Bildung, weil es uns an Äußerungen des gemeinsamen Lebens fehlt. Doch schon diese Einsicht, die sich in der Tat immer mehr verbreitet, ist schon ein halber Schritt zur Besserung, und diese Einsicht, zur höchsten Evidenz und Klarheit gebracht, die ein jeder ihr zu geben imstande ist, steht schon mitten in der Vorhalle derjenigen Wissenschaft, welche, unter Voraussetzung eines rechten und tüchtigen nationalen Lebens, sich den Zweck setzt, die Elemente jener höhern, allgemeineren Bildung darzustellen und an Werken der Kunst und Wissenschaft zu erläutern, der Ästhetik, oder der Philosophie der Kunst, dies Wort im weitesten Sinn befaßt, worin auch der Mensch als ein Kunstwerk erscheint.

Quelle:
Ludolf Wienbarg: Aesthetische Feldzüge. Hamburg, Berlin 21919, S. 38-54.
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