IV

[127] Wien kann sich wohl noch immer, trotz Berlin, die Musikstadt nennen. In Berlin mag man mindestens doppelt so viele gute Konzerte hören, vor einem gefüllten und andächtigen Saal von gediegenen und kunstverständig geführten Musikern gespielt; aber die ursprünglichen Quellen, die »Lebensbäche« der Tonkunst rauschen mehr in Wien. Darf man etwa Berlin den Hauptsitz musikalischer Bildung nennen, so hieße Wien wohl mit Recht das natürliche Paradies der Musik. Oder hätte der politische Sündenfall, das graue Elend der Zeiten die göttliche Kunst aus diesem Paradies vertrieben? – Ich glaub' doch nicht. Sie hat verbriefte Rechte, glaub' ich. Sie wurzelt zu tief. Wie auch die Formen und die Namen wechseln und das Alte schwindet, es kommt stets das Neue.

Als musikseliger Laie, der ich bin, hab' ich die berauschenden Wiener Tränke von allerlei Art gern und oft genossen; persönlich hab' ich nicht viele der Wiener Meister gekannt. Auch den obersten und ersten nicht, den Komponisten der »Fledermaus« und des Donauwalzers; es regiert so oft der Zufall die Welt. Ich sah Johann Strauß nur dann und wann, zuerst im Jahr der Wiener Weltausstellung, in der Hietzinger »Neuen Welt«, wo er vor Tausenden im Freien dirigierte; nach der Art der Familie Strauß, die mir damals neu war, abwechselnd taktierend und geigend, und meist mit dem Fuß in tänzelnder Bewegung den Takt begleitend. So hab' ich später, wie oft, seinen Bruder Eduard Strauß, so jetzt in Berlin dessen Sohn als[127] eleganten Führer und Primgeiger seines Orchesters gesehn. Nun schon eine ehrwürdig alte Dynastie, die Strauß! Es scheint aber, ihre Werke bleiben ewig jung. Die des großen Johann Strauß erscheinen mir immer jünger, je älter ich werde; ich weiß nicht, warum. Ich war nie ein Tänzer (wenigstens ein geschulter nicht), aber in seinen schönsten Walzern ist ein Zauber, der mir das Herz bewegt, der mich rührt, und das mehr als je. Was ist das? Wird man denn nur älter, um immer tiefer zu fühlen, was schön und was gut ist? was in seiner Weise vollkommen ist? – Dann laßt mich noch dreißig, vierzig Jahre so älter werden; und ob auch schneeweiß – wenn nur Strauß und Schubert und Mozart und Beethoven Seligmacher bleiben!

Von den nicht eingewanderten oder durchziehenden, sondern eingeborenen Komponisten hab' ich eigentlich nur Meister Goldmark kennen gelernt; in eben den Siebzigerjahren, denen diese Erinnerungen vor allem gelten. Auch er wollte mehr als einmal von mir, was so oft die Musiker von den Dichtern wollen: einen Operntext. Ich las auf seinen Wunsch Immermanns »Merlin«; schon 1875 beschäftigte ihn dieser Stoff; ich gewann aber kein Herz dafür. Ein Jahr später, nach einer Vorstellung im Burgtheater, in der er sich zu mir gesetzt hatte, nachtwandelten wir lange; er sprach so beredt, so warm, wie ich ihn noch nie gehört. Er suchte mir auf jede Weise den Glauben zu geben, daß ein guter Musiker jede lebendige dramatische Dichtung vertonen könne, ohne ihren Inhalt zu schwächen, zu verkürzen; daß bei dieser Neuschöpfung nichts verloren gehe, nur eine neue Kraft des Ausdrucks gewonnen[128] werde. Ich sollt's ihm nur machen, dann würd' ich sehn! – Mich überzeugte er nicht; und gewiß denkt auch der verehrte Meister heute nicht mehr so. Sprechen und Singen können nie dasselbe sein; der Schauspieler kann tausend Dinge, auf die der Sänger verzichten muß; umgekehrt denn auch. In dem Augenblick, wo der Komponist eine gesprochene Handlung zu vertonen beginnt, beginnt eine andre Kunst mit andern Mitteln.

Johannes Brahms, den eingewanderten, eingewurzelten, hatte ich schon vor Goldmark kennen gelernt, bei Frau Rosa Gerold, in deren gastlichem Haus mir so manches Gute zu teil geworden ist. Brahms trug damals den Vollbart noch nicht, mit dem er jetzt vor der Nachwelt steht, und der ihn künstlerischer, auch schöner machte. Das völlig bartlose, kluge Gesicht, die kleine, kräftige, an sich reizlose Gestalt – darin dem großen Antipoden Richard Wagner ähnlich – verrieten den Künstler nicht; ich glaube, sie sollten's auch nicht, der »Musikant« sollte hinter dem Menschen verschwinden. Alles half ihn verstecken, der Haarschnitt, der Blick und Ausdruck, die Sprechweise, das norddeutsch simple Gebärdenspiel; man sah und hörte nur einen gebildeten, gescheiten, verständigen, heiteren Mann, mit dem sich wohl gut leben ließ. Wußte man schon, wer er war, so mußte man an der außerordentlichen Schlichtheit und Einfachheit dieses Mannes Doppelfreude haben; es war die reinste Natürlichkeit, angenehm hamburgisch gefärbt. Nur nicht auffallen! Nur nichts beanspruchen! Nur kein Spielverderber! das schienen seine Leitmotive unter den Menschen zu sein. Gleich an diesem ersten Tag sah ich ihn in all der liebenswürdigen Harmlosigkeit, mit[129] der er gesellig war; nach dem »Diner«, dem Kaffee regten sich in der kleinen Gesellschaft Gelüste, etwas »Polnische Bank« zu spielen, ein Glücksspiel, das damals in Wien seine Modezeit hatte. Brahms kannte es nicht, aber er war sofort mit humoristischem Eifer bei der Sache, wie einer, der alles Menschliche kennen lernen will. Er lernte und spielte vergnügt wie ein Kind. So grundschlicht war er auch, wenn er sich etwa in guter Gesellschaft auf Wunsch aus Klavier setzte und »etwas Musik machte«. Nur dann wuchs er wohl ein wenig oder bekam Feuer in die Augen, wenn er in den musikalischen Häusern, die ihn feierten, halbe oder ganze Brahms-Abende erlebte – echteste Wiener Musikabende! – und, am Flügel sitzend, den Vortrag seiner Quartette leitete, oder Karoline Gomperz-Bettelheim, Gräfin Wilhelmine Wickenburg, die Opernsängerin Luise Dustmann seine Lieder sangen.

Wie anders ging Franz Liszt durch die Welt; einer, der gleichsam immer auf der Bühne stand, ohne doch ein Komödiant zu sein, der mit Geist und Grazie seine Rolle spielte, für die ihn sein Gott geschaffen hatte. Er kam oft nach Wien, dort hab' ich ihn wohl am meisten gesehn. Wenn ich aber zurückdenke, wo und wie unsere Wege sich kreuzten, und wie lebendig, wie eigen, wie wirksam er immer an mir vorüberschritt – »bühnenwirksam« möcht' ich's nennen – so kommt er mir wie einer der geheimnisvollen Freunde in Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre« vor, die von Zeit zu Zeit aus dem Weltraum auftauchen, irgend etwas nicht Gewöhnliches sagen, etwas Bemerkenswertes tun, und dann wieder verschwinden. Wie wenn er[130] neben Lothario, Jarno, dem Abbé ein vierter wäre, ebenso wie sie dazu da, Rätsel aufzugeben, sie am Schluß zu lösen. Liszt hatte alles für diese Rolle, auch ein gewisses vornehm huschend geheimnisvolles Lächeln; als wäre alles, was er so leicht, heiter, witzig hinplauderte, und all unsere Rede und Gegenrede, und sein Klavierspiel, und was andere tun, und das ganze Leben, und diese Welt, als wär' das alles nur so so, und es schwer zu nehmen sei nicht vornehm, nicht weise, und was eigentlich dahinter sei, werde sich schon finden.

Das erstemal, daß ich Liszt so auftauchen sah, war im Sommer 1858 sein Erscheinen in Ebenhausen an der Isar, unsrer Sommerfrische; ich, noch Student, hauste dort mit Paul Heyse und den Seinen, Frau Klara Kugler und ihren Söhnen und ein paar Befreundeten. Ich glaube noch seinen wunderbaren Charakterkopf zu sehn, diese große, seltene Mischung von Weltmann und Künstler, anmutiger Oberfläche und versteckter Tiefe, kleinen, seltsamen Manieren – so sein spielendes, schmeckendes, inhaltloses »Hm, hm, hm« – und vornehmer Bedeutsamkeit. Er saß mit uns allen bei Tisch und plauderte »wie ein Franzos«; in langen Zwiegesprächen mit Paul Heyse vollführte er aber seinen ernsten Auftrag als Abgesandter des Großherzogs von Weimar, der damals und immer wieder bemüht war, seinem Ilm-Athen ein zweites Perikleisches Zeitalter zu schaffen. Liszt war seit vielen Jahren gewonnen, er sollte seinem Fürsten nun den jungen Dichter gewinnen, der so vielverheißend aufblühte, und ihn dem bayrischen König entführen, der ihn durch einen Ehrensold zu seinen Geibel und Bodenstedt nach München gelockt hatte. Der[131] diplomatischen Beredsamkeit des Jarno-Liszt zu widerstehn war nicht leicht, wie Heyse uns hernach lebendig schildernd erzählte. Er widerstand aber doch; für München sprach so viel mehr als für Weimar; gegen Weimar sprach wohl alles das, was später Böcklin, Lenbach und Reinhold Begas so bald wieder von dort vertrieb. Heyse blieb seinem König, seinem aufblühenden München treu, Jarno-Liszt zog weiter.

Viele Jahre später sah ich ihn dann in Wien bei der Gräfin Marie Dönhoff, der »Musikgräfin«, wieder; mittlerweile hatte ich ihn hie und da als ersten Meister des Klaviers bewundert, jetzt sollte ich ihn im engen Kreis mit Dichteraugen studieren und am Flügel als Partner der Hausfrau sehn. Die Gräfin konnte es wagen, neben ihm zu spielen, sie hatte die hohe Schule durchgemacht und ist durch und durch Musik. Es war aber doch echter Liszt, wieder eine reiche Mischung, wie er beim vierhändigen Spiel an ihrer Seite saß, ritterlich und väterlich, auf die kleine Kameradin mit liebenswürdig anerkennendem Schmunzeln, wie aus einer höheren Wolke niederblickend; wieder mit dem still geheimnisvollen Lächeln: wir scheinen nur, wir tun nur so!

Dann spielte er auch allein, und wie. Ich bekenne, mein eigenstes Ich hat Anton Rubinstein wohl noch mehr ergriffen; es strahlten von ihm Kräfte aus, unmittelbare, stürmische, edle, die mir tiefer in die Seele drangen. Aber der vollendetste aller Klavierspieler war Franz Liszt, das glaub' ich; die Reinheit und die Feinheit seiner Kunst war wohl unerreichbar; – doch ist das alles nur Laiengefühl. Es spielte jedenfalls eine[132] Seele mit, die viel Großes, Hohes hatte, die von ihrem Gott erfüllt und für Helfen und Wohltun wie geschaffen war. So ist Liszt, der bis zur Tollheit Gefeierte, Verzogene, Umweihräucherte, durchs ganze Leben gegangen; so sah ich ihn noch zuletzt in Weimar, wohin er von Zeit zu Zeit wieder zog, wohin er auch damals gezogen war, um zu lehren, zu unterrichten, Werdenden zu helfen. Er war alt geworden, man konnte fast schon die Zeichenschrift des herannahenden Todes auf dem bleich gewordenen Antlitz lesen. Es war aber noch immer das Antlitz eines »strebend sich bemühenden«, nach oben schauenden, zwischen Schein und Wesen lebenden, großgesinnten Menschen.

So war freilich auch Anton Rubinstein, der so viel jüngere, dem ich näher kam; den ich in Wien kennen lernte, immer wiedersah und in dem ich elementare, außerordentliche Eigenschaften liebte. Schon sein an Beethoven erinnernder Kopf war mir, dem Beethoven über alles geht, eine Herzensaugenweide; es sprach auch in ihm verwandtes Streben, dem freilich die Erfüllung fehlte: ihn trugen die Flügel nicht hoch genug. Er hat als Komponist fort und fort gewollt, was ihm unerreichbar blieb; ein Martyrium, ein tragisches Verhältnis zum Leben, das an seiner tapfern Seele nagte, ihm seine Triumphe als »Klaviervirtuos« vergällte. Es trieb ihn umsomehr, seinen Beruf als Virtuos so groß wie möglich zu fassen; am größten zuletzt, als er noch einmal nach Deutschland zog, um in Berlin, Wien und Leipzig seine sieben historischen Klavierkonzerte zu geben, in denen er die ganze Entwicklung bis zu den jüngsten Tagen umfaßte. Er tat es wie ein Fürst, ein König:[133] alle sieben Konzerte, nachdem er sie Abends vor dem sich hinzudrängenden zahlenden Publikum gespielt, wiederholte er an sieben Mittagen unentgeltlich für die Jünger und Jüngerinnen der Kunst; auch für andere, die aus besonderen Gründen die sieben Abende nicht genossen hatten. Einer von diesen war ich: zu jener Zeit Direktor des Burgtheaters, hatte ich Abends mehr meinem Amt zu dienen. Er lud mich ein, ihn Mittags zu hören. Ich hab' ihn in allen sieben Konzerten gehört. Es war zu all der Ohrenweide, dem herrlichen Erlebnis auch ein rührendes Bild: der schon ein wenig alternde Meister mit dem Beethoven-Kopf, vor diesem gefüllten Saal, diesen dankbaren Begeisterten mit heiligem Jugendeiser sein königliches Opfer bringend; so von Zuhörern umringt, daß auch die Estrade, auf der er am Flügel saß, von Damen überfüllt war, die ihn fast verdeckten.

Und wie spielte er! Mit der allersüßesten, beseeltesten Weichheit, mit der gewaltigsten Kraft, die die Tasten zu zerschmettern schien.


Und wie verzaubert sahn und staunten wir,

Wie sich sein Werkzeug ihm zu Händen schmiegte,

Ein geistgebändigt edles Wundertier,

Das sich mitfühlend seinem Willen fügte;

Dem blöden Aug' ein wohlgebaut Klavier,

Dem Ohr ein Meer, auf dem der Geist sich wiegte,

Wie Brandung donnernd, mit der Windsbraut ringend,

Dann still bewegt, dann silbern süß verklingend.


So versuchte ich es in Versen zu fassen, die ich als Prolog zu dem Rubinstein-Fest schrieb und vortrug, durch[134] das wir Näherstehenden ihm für seine Edeltat zu danken wünschten. Es war ein seiner würdiges Fest, schlicht und schön. Noch schlichter und vielleicht noch herzlicher hatten wir ihn schon in kleinerem Kreise, im Wirtshaus, gefeiert, neben nicht vielen von der Musik ein ganzer Hause vom Burgtheater, ich, der Direktor, mit. Die vom Theater zeigten wieder einmal, daß es ihnen besonders gegeben ist, sich zu begeistern.

Damals entwickelte sich noch ein junges Talent, das später einer von Rubinsteins berufensten Nachfolgern werden sollte: der Italiener Ferruccio Busoni, mir aus seiner Wunderknabenzeit bekannt. Er war noch nicht ganz zehn Jahre alt, als er mit seinem Vater, dem Klarinettisten Busoni, in der Villa Wertheimstein in Döbling erschien, um seine jungen Künste zu zeigen und für sein weiteres Wachsen Anteil und Hilfe zu finden. In höchstes Erstaunen setzte er uns alle, als er am Klavier fremde und eigene Musikstücke spielte; denn der kleine, blasse, aber lebens-und humorvolle Künstler komponierte und dichtete auch, sein Himmel hing voll Geigen. Wunderkinder erregen leicht ein gewisses Mißtrauen, ja ein Mißbehagen; Mozarts, dieses Götterlieblings, Fall war ein einziger, hat sich nicht wiederholt. Aus Jung-Ferruccio sprach aber eine so frische, so liebenswürdige Natur, daß man sich gern mit schönen Hoffnungen erfüllte. Noch mehr entzückte und ergriff er uns, als er nach einer Reihe von Monaten (gegen Ende 1876) wiederkam, diesmal von beiden Eltern begleitet; auch von der Mutter hatte er musikalische Begabung geerbt. Er war im Klavierspiel mächtig fortgeschritten; er sang uns aber auch seine[135] rührenden Lieder vor, ohne Stimme, aber voll Ausdruck, voll Seele. Der Minister Unger, selber ein Meister des Klaviers, war nach Tisch gekommen, um das kleine Wunder zu sehn, das er noch nicht kannte. Er neigte gewiß nicht zu starken dramatischen Gebärden, aber von der Innigkeit dieses Spiels und dieses Gesangs ward er so bewegt, daß er mit weichen Worten hinzutrat und den Knaben küßte.

An der Hilfe, deren Ferruccios Werdegang bedurfte, hat es dann nicht gefehlt; die edle, so gern begeisterte, so gern helfende Frau Josephine von Wertheimstein war sein guter Genius. Ein zweiter Mozart freilich ist er nicht geworden; sein Schaffen, das damals so rührend und verheißend begann, hat es überhaupt später Frucht getragen? Ich gestehe, ich weiß es nicht. Ich hab' aber meine Freude dran – auch für Frau Josephine, die nicht mehr lebt –, daß er einer von den lebendigsten Verkündigern unserer größten Meister geworden ist.

Daß ich auch der Wiener Oper sehr ergeben war und viel verdanke, brauch' ich kaum zu sagen; wenn ich auch wohl in der »absoluten« Musik die tiefste Lust und das vollkommenste Genügen finde. Viele aus der Opernwelt wurden mir auch als Menschen lieb oder angenehm; so der Kapellmeister Joseph Hellmesberger, der Vater, der nicht nur ein trefflicher Geiger, zugleich in dem witzreichen Opernorchester einer der Witzigsten war; so Luise Dustmann, die feurig hinreißende dramatische Sängerin; Gustav Walter (der Vater) mit seinem umflorten, aber ewig unverwüstlichen, ewig gefällig singbereiten, ausdrucksreichen Tenor. Später traten andere hinzu, Winkelmann, Reichmann,[136] die Ma terna, große, siegreiche Talente. Mir aber ward in den Siebzigerjahren die schönste Fülle der Genüsse durch eine Sängerin, die das Theater schon verlassen hatte: Frau Karoline Gomperz-Bettelheim, die Gattin des bekannten Brünner Großindustriellen und Parlamentariers. Bald mit ihr befreundet, oft ihr Gast, viel öfter noch in der Villa Wertheimstein, der sie angeschwägert war, sie wiederfindend, fand ich fast immer auch ihre herrliche Gesangskunst wieder: sie war die liebenswürdigste Bejaherin, wenn man um ein musikalisches Almosen bat. Sich immer selber begleitend – auch dieses Opfer brachte sie uns gern – elektrisierte sie durch die unfehlbare, urgesunde, herzerfrischende Kraft ihrer tiefen Stimme, die sich am schönsten in den großen Balladen entlud, vielleicht am stärksten überwältigte, wenn sie jubeln oder jauchzen konnte. Ich kann nie vergessen, hab's noch wie phonographisch im Ohr (wollt's auch immer wieder hören), wie in der Löweschen Ballade »Herr Heinrich sitzt am Vogelherd« die Reisigen kommen, die ihm seine Wahl zum König verkündigen, und er sie fragt, was sie wollen und suchen:


Da schwenkten sie die Fähnlein bunt

Und jauchzten: »Unsern Herrn!

Es lebe König Heinrich hoch,

Des Sachsenlandes Stern!«


Das riefen sie wirklich alle, alle; und riefen es in den Morgen hinein wie selige Trompeten.

Ich habe nur eine Wirkung erlebt, die dieser völlig gleichkam; das war, wenn Fritz Friedrichs, der Bassist,[137] der große Sänger des Alberich und des Beckmesser in Baireuth (mit seinen kleinen Rollen überwuchs er die großen) – wenn Fritz Friedrichs in Konzerten die Löwesche Ballade »Zelte, Posten, Werdarufe« (von Freiligrath) sang. Der Trompeter hat das Lied von Prinz Eugen dem edlen Ritter gedichtet und vertont und trägt es im Lager »denen Reitersleuten« vor, gedämpft, einmal, zweimal, dreimal; dann singt es laut der ganze Chor:


»Prinz Eugen, der edle Ritter!« –

Hei, das klang wie Ungewitter,

Weit ins Türkenlager hin....


Es klang nicht wie Ungewitter, wenn Friedrichs das »Prinz Eugenius« sang, aber im schönsten Wohllaut des herrlichsten Baß klang es wie voller Chorgesang, den Saal durchrauschend, die mitjubelnde Seele wunderbar ergreifend.

Langsam abgedämpft, heiter, neckisch, mit feinster Schauspielkunst sang er's dann zu Ende:


Der Trompeter tät den Schnurrbart streichen

Und sich auf die Seite schleichen

Zu der Marketenderin. – –


Mit Wehmut schreib' ich das nieder: er ist nun krank, der edle Meister, schwer leidend; er hat heuer verzichten müssen, in Baireuth im »Parsifal« zu singen. Es kam mir plötzlich, von ihm zu reden, da ich die »seligen Trompeten« der König Heinrich-Ballade hörte.

Mög' er bald wieder Säle durchrauschen können, mög' er ganz genesen![138]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Erinnerungen. Stuttgart, Berlin 21905, S. 127-139.
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