XIII

Arria, Messalina, Marcus. Neapel. Die Bevölkerung. Andrea. Altgriechische Kunst. Pompeji. Amalsi. Die Fahrt nach Sorrent. Rastlosigkeit. Zahnfistel. Gründonnerstag; Abschied von Rom. Venedig

[177] Ich weiß nicht, wie es andern Dichtern ergeht; mir geschieht es oft, daß das Abendlicht und die Abendstimmung den Zustand in mir hervorruft, der – wie soll ich es sagen – der die Phantasie befruchtet und aus einer tiefen, weichen, verklärten Bewegung des Gemüts eine neue dichterische Schöpfung hervorblühen läßt. Wie wenn in der Abendluft poetische Keime schwebten, die die Seele auffängt.... So erging es mir, als ich zum ersten Mal, im März 1865, von Rom nach Neapel fuhr. Die Reise (nicht Schnellzug) währte den ganzen Tag; die kahlen, bräunlichen Gebirge, die bleichgrauen Felsenstädte, dann die dramatisch lebendigen Gespräche der Mitreisenden über die wilden Kämpfe, die in diesem neapolitanischen Bergland zwischen Eingeborenen und den Soldaten des jungen Königreichs Italien stattgefunden, hatten schon eine große, träumerisch erregte Stimmung in mir vorbereitet. Jetzt kam, da wir durch das »glückliche Campanien« rollten und die Sonne sank, die feierlichere Zeit[177] heran; der Abendglanz verklärte die Welt und alles, was ich fühlte. Alte poetische Phantasien tauchten wieder auf, so auch die altrömischen Gestalten, die mir in Nizza gleichsam zum Leben erwacht waren, die heroische Arria, die üppige Messalina. Mir fehlte noch ein Drittes, das diese Gegensätze zusammenband.... Auf einmal erschien ein bleicher Jüngling – edel wie Arria, leidenschaftlich wie Messalina. Er ward der Arria Sohn, er gewann die Messalina zu lieb. Die Tragödie war da, war mit ihm gekommen.

Erst eine Reihe von Jahren später hab' ich sie geschrieben; das Leben macht oft so wunderbare Schritte nach rechts und nach links. Aber ich hatte sie, die Tragödie, wie ich auch den Gracchus hatte; ich konnte sie noch verschweigen, aber nicht verlieren.

Neapel, in das ich nun einzog, ist eine kleine Welt für sich; es ist eine der größten und merkwürdigsten Hafenstädte der Erde, es hat ein unendlich gesegnetes Hinterland, den schönsten Vulkan, die schönste Insel, die verschüttetste und ausgegrabenste Nachbarstadt, eine der reizendsten Sommerfrischen (Sorrent) und eine der unerfreulichsten Bevölkerungen. Zwar versichern Reisende, die von Syrien oder Jerusalem hinkamen, daß ihnen gegen den dort erlebten Abschaum der Menschheit das Volk von Neapel unschuldig, bieder und gemütlich erschienen sei. Auch hat es Musik, Poesie, also glänzende Verteidiger; auch ist viel Naives in seiner Verdorbenheit. »Ihr seid große Kinder!« hab' ich mehr als einmal zu unerschütterlich unverschämt lästigen Neapolitanern gesagt. Aber es ist doch harte Wahrheit in dem, was mir Lenbach auf der Hochzeitsreise[178] mit seiner zweiten Frau aus Neapel schrieb (dem Sinn, nicht dem Wortlaut nach): Hier gibt's viele Herrlichkeiten, aber daß Du's wochenlang unter diesen Menschen aushalten willst, das begreif' ich nicht!

Schon ihre Zudringlichkeit kann einen festen Mann zur Verzweiflung bringen. Als ich vor Jahren mit meinem schon erwachsenen Sohn in Neapel, und gerade nicht sehr »fest«, sondern nervös angegriffen war, bat der Jüngling mich: Laß das alles gehen, Vater, überlaß es mir! – Va bene. Wir schlenderten in der Villa Nazionale am Meer, wir mit einem Freund; einer dieser unzähligen Verkäufer verfolgte uns, war nicht abzuschütteln, pries uns seine Nichtigkeiten mit so geräuschvollem Pathos an, daß ein Gespräch unter uns fast unmöglich war. Ich ertrug ihn, Gott weiß wie es kam, mit stoischer Geduld; plötzlich, wie der Blitz, fuhr mein Sohn herum und schrie den Kerl so nervenwild an, daß ich inwendig lachen mußte. Das ortsübliche Gewitter war auch über seine gesunde Ruhe gekommen.

Damals, bei meinem ersten Aufenthalt, erlebte ich dieses Elend nicht; meine Erscheinung war so schlicht, einem »armen Pittore« ähnlich, und ich bewegte mich zumeist in den Sammlungen oder draußen um die Stadt herum. Böcklin hatte mir ein bescheidenes, billiges Hotel Garni in einer unscheinbaren Gasse empfohlen; dort war damals Totenstille, ich der einzige Gast, und Andrea, der noch junge Kellner (von Geburt Römer, glaub' ich), entpuppte sich bald als ein rührend treuherziges, für menschenfreundliche und menschenwürdige Behandlung dankbarstes Geschöpf.[179] Ich freute mich, mein Italienisch an ihm zu üben, ich staunte, wie viele Dinge er wußte; bald erstaunte ich dann noch mehr. In langen Unterhaltungen gestand er mir: er war nicht nur einer der Garibaldiner von 1860 gewesen – sein Stolz –, er hatte auch zu den römischen Verschwörern gehört, die sich verpflichtet hatten, den eigentlichen Regierer des Kirchenstaats, den Mißregierer, den verhaßten Kardinal Antonelli zu ermorden. Das Los entschied, wer die Tat vollbringen sollte; es traf einen, der ungern in den fast sicheren Tod ging, weil er Weib und Kind hatte. »Aber was wollt' er machen,« sagte mein Andrea; »ermordete er ihn nicht, so ermordeten sie ihm Weib und Kind, das war geschworen!« Der Mann griff denn also den Antonelli im Vatikan auf der großen Treppe an, »hatte aber nicht Schneid' genug«; sein Dolch stieß vorbei, des Kardinals Begleiter ergriffen ihn, er ward hingerichtet.

Das alles erzählte Andrea mit seiner guten Stimme und seinem guten Gesicht. Was sind das für Zeiten, dacht' ich, wo Menschen wie dieser weichherzige Hausvater und wie dieser Andrea sich zum Mord verschwören! Unwillkürlich sah ich mir den kleinen, sanftäugigen Andrea an: und wie wär' dir's ergangen, dacht' ich, wenn das schwarze Los dich getroffen hätte?

Neapel hat noch eins, mir damals das wichtigste: eine Sammlung antiker Bilder und antiken Kunstgewerbes, die unvergleichlich, die einzig ist. Aus den Städten, die der Vesuv wie auf höheren Befehl verschüttet hatte, ward sie ausgegraben; und wie handwerksschwielig auch die Hände waren, die diese Nachbilder[180] nach griechischen Malereien auf die Wände warfen, sie geben uns doch eine Welt von lebendigen, aus Hellas grüßenden Eindrücken und eine unendlich erhöhte, ahnungsvolle Sehnsucht nach dem, was verloren ist. Und wenn uns nichts geblieben wäre als das Mosaik der Alexanderschlacht – welch ein Wunderwerk! Wie anmutsvoll auch der bronzene sogenannte Narziß! um von allem andern zu schweigen, das dem Feuerspeier gleichfalls hoch anzurechnen ist. Von diesen Zeugen vielhundertjähriger Schöpferkraft und Schönheitsfreude umgeben, in die ich mich mit allen meinen Kräften zu versenken suchte, und von der mithelfenden, nachdichtenden Phantasie getragen, geriet ich in einen ganz eigenen Zustand, der nicht leicht zu schildern ist. Diese tote Welt ward mir so lebendig, daß ich mit der gegenwärtigen, wirklichen zuweilen fast den Zusammenhang verlor; ich konnte durch die Straßen von Neapel (und hernach wieder von Rom) gehn und das unsinnige Gefühl haben, als gingen da neben mir unlebendige Leute herum und ich sei eben von den Lebendigen herausgekommen.

Dazu trug vor alleni auch Pompeji bei, das ich bald besuchte und vorher schon gleichsam auswendig gelernt hatte. Ich bat denn auch meinen Führer, mich mir selbst zu überlassen, und er ging nur so mit, ohne mich zu stören; ich führte mich selbst. Ich war wie zu Haus. Noch viele Jahre später konnte ich, nach kurzer Auffrischung der Erinnerung, guten Freunden »mein Pompeji« zeigen, ihr Cicerone und Kustode sein.

Ich wollte aber doch auch die unverschüttete Schönheit dieses Zauberlandes kennen lernen und fuhr[181] von Pompeji nach Vietri weiter, um im Golf von Salerno auf der hohen Uferstraße nach Amalfi zu gehn. Es ist wohl einer der schönsten Wege, die man wandeln kann; wenn die Straße von Castellamare nach Sorrent klassischer oder »griechischer« zu nennen ist, so herrscht hier eine so großartige Romantik, daß man auch überwältigt wird. Durch alle die Schönheitsstationen: Citara, Majori, Minori, Atrani hindurchgewandert, kam ich erst in der Nacht nach Amalfi; kurz vorher hatte ich zwar schon an der Straße ein Gasthaus, die Luna, gesehn, ein ehemaliges Kloster, über einem der alten Warttürme am Meer hoch und burghaft aufgebaut. Es lockte mich, einzutreten; ich wollte aber erst Amalfi anschauen, ch' ich mich für ein Quartier entschiede, und nachtwandelte weiter. Da stand ich denn am Hafen, im Dunkeln, das wenige Lichter etwas erhellten; Gruppen von Menschen hier und da, die Felsen über der Stadt wild phantastisch aufragend, aber eigentlich sah ich nichts. Ein zwerghaftes Männlein trat an mich heran: ich suchte wohl ein Unterkommen, er wolle mich schon führen. Wohin? fragte ich. Zur Luna, das sei das beste Haus; da hätten die Forestieri es gut! – Das gefiel mir, daß er dieses malerische Klosterwirtshaus nannte; va bene! sagte ich sofort und marschierte mit ihm den eben gegangenen Weg zurück. Ein nicht sehr modernes Hotel, die Luna von damals: wir stiegen außen auf drei langen hölzernen Treppen hinaus. Ein nicht sehr freundlicher Wirt empfing mich; es verstimmte ihn vielleicht, daß sein Haus so leer war; damals war Amalfi noch keine Winterfrische für Engländer und Deutsche, wie es heute ist. Ich merkte[182] bald, in dem stummen Riesengebäude war ich der einzige Gast! Mein Zimmer war wohl reinlich, neu, blickte auf Turm und Meer hinaus; mir war aber doch phantastisch zu Mut, wie in einem verzauberten Schloß. In der Stube, in der ich zu Nacht aß, war niemand außer mir als eine braune Katze, die auf einem Sofa saß, ohne sich zu rühren, und mich beständig anglotzte, als wäre sie verwunschen. Der Kellner, der mich bediente, kam und verschwand, als wär' er stumm. Was die Sache noch wunderlicher machte, war das überraschend vortreffliche Abendmahl; besonders die Makkaroni con burro waren unvergleichlich, schneeweiß, weich, schmelzend; so aß ich sie nie mehr.

Es begab sich aber weiter nichts, weder ein Mordversuch noch ein großes Glück. Am andern Morgen weckte mich früh die erste rote Sonne; ich genoß meinen Meerblick, stand auf, verabschiedete mich, um mich in Amalfi umzuschauen und dann nach Vietri zurückzugehn. Der Wirt nahm meine Zahlung entgegen; zwei Francs begehrte er für das Abendessen, vier für das Zimmer. »Wie?« sagte ich. »Wir haben ja gestern abgemacht: zwei?« – »Dunque due« (also zwei), erwiderte er mit vollkommener Ruhe.

Eine sonderbare, aber nicht seltene Art von Italienern. Sie denken offenbar: Versuchen kostet nichts; man versucht, was man kann!

Übrigens erfuhr ich später – ich weiß nicht, ob durch meinen guten Andrea in Neapel oder erst in Rom – daß es in der Luna oder wenigstens bei ihrem Wirt nicht so ganz geheuer sei. Der Wirt hatte nach der Meinung der Welt zwei Mordtaten – nicht auf[183] dem Gewissen, denn das besaß er wohl nicht – aber in angenehmer Erinnerung.

Von Vietri fuhr ich auf der Bahn nach Castellamare und wollte von da zu Fuß nach Sorrent; aber diesmal gelang es mir nicht, wie gestern in Vietri, mich durch die zudringlichen Wagenlenker durchzuschlagen; sie besiegten mich. Es war ein sehr ergötzlicher, urwelscher Fall! Gleich am Eingang von Castellamare fiel eine Schar von Vetturinen über mich her: Wagen, Wagen, Herr! Ich erklärte ihnen, es mache mir mehr Vergnügen, zu Fuß zu gehn. Sie erklärten mir, das sei unbegreiflich (und die Neapolitaner begreifen es wirklich nicht); der Weg sei auch ganz erschrecklich weit; sie führen mich auch beinah umsonst! Ich sagte: wenn sie mich auch ganz umsonst führen, ich ginge lieber zu Fuß – und machte mich auf den Weg. Castellamare ist ein langer Ort, ich hatte viele Schritte zu tun, eh' ich ans andere Ende kam; die Kutscher fuhren neben mir her. Auf dem Platz, wo die letzten Häuser standen, sprang ein anderer Vetturin von seinem menschengefüllten, aber dort noch wartenden Wagen ab und trat auf mich zu: »Herr, fahren Sie mit!« Ich schüttelte auf italienisch den Zeigefinger: Nein. Er überschüttete mich mit der ciceronianischen Beredsamkeit, die in all diesen Leuten steckt; ich, inwendig lachend, wehrte mich. Auf einmal sah ich mich umringt, alle die anderen Kutscher waren abgestiegen, alle gestikulierten sie, alle sprachen sie mit, alle sprachen sie für den einen Vetturin, als wäre er ihr Bruder und als sollte er an mir sein Lebensglück verdienen. »Herr, es ist weit, Sie laufen sich müd'!« »Herr, Sie kommen ja erst in dunkler Nacht[184] nach Sorrent!« »Aber Herr, Herr, wissen Sie denn nicht? Man yat erst neulich wieder einen Engländer auf der Fahrstraße aufgegriffen und in die Berge geschleppt!« »Wollen Sie denn durchaus Lösegeld bezahlen, Herr? Warum fahren Sie nicht lieber in der guten Kutsche da, mit dem Ehrenmann?« – Ich wendete mich zu dem Ehrenmann: »Aber Ihre Kutsche ist ja ganz besetzt!« – »Das macht nichts!« rief er. »Das macht nichts! Die rücken zusammen, das tun sie gern!« Und wahrhaftig, die ganze Gesellschaft in seinem Wagen – sechs Menschen, glaub' ich, Männer und Weiber – die während dieses Gesprächs mit Lammsgeduld wartete, gab nun durch Zeichen zu verstehen: ei ja, zusammenrücken, warum denn nicht? – »Wie viel sollt' ich denn zahlen?« fragte ich. »Anderthalb Lire, Herr!«

Anderthalb Lire! Um anderthalb Lire dieses Drama, das zwölf Menschen spielten!

Ich sah unvermerkt nach der Sonne, es war wirklich spät. Warum nicht für so wenige Pfennige eine so schöne Fahrt? – »In Gottes Namen!« sagte ich endlich. Allgemeine Freude; wie sie im Himmel sein soll über einen Sünder, der sich bekehrt. Auf einer Seite im Wagen rückten sie zusammen; ein zartes Männchen machte mir so überbereitwillig Platz, daß mir's fast zu bequem ward. »Aber Sie sitzen ja nun schlecht,« sagte ich zu ihm. Er schüttelte eifrig und lächelnd den Kopf: »Come un principe

»Wie ein Prinz!«

So etwas Rührendes – mir nur allzu Untertäniges – hatte ich in Italien doch noch nicht gehört.[185]

Von der Schönheit dieser Fahrt, und Sorrents, und des ganzen Golfs von Neapel, will ich hier nicht sprechen; das alles ist weltbekannt. Vorher hatte ich auch den Golf von Bajä gesehn, und Camaldoli; jede gute Stunde nützend, denn der italienische März ist wie der deutsche April, und dieser trieb es besonders bunt. Er nachwinterte unverschämt; einmal war der Vesuv tief hinab verschneit, ein andermal sah ich Berge von Hagel in neapolitanischen Platzwinkeln zusammengeweht. Solche Streiche taten mir nichts; aber in mir selber war ein Feind, der alte, der bekannte, die Rastlosigkeit, der ich immer wieder zu schwach widerstand. Beim Turnen hatte mich ein »Hexenschuß« überfallen; mit dem wanderte ich studierend herum, als sei er nur ein Begriff, und mit seinen Resten elf Stunden lang, ohne einmal niederzusitzen; mein Mittagessen, Backwerk aus der Rocktasche, verzehrte ich im Gehen, mein Getränk war: Durst. »Ein Tag voll göttlicher Freuden, aber großer Anstrengung«, schrieb ich dann in mein Reisebuch; »mit brennenden Sohlen und ermüdetem Rücken kam ich um acht Uhr abends heim.« Als ich nach Camaldoli ging, trug ich vier Orangen und Brot als Mittagsmahl bei mir; in Vietri waren mir zwei Orangen genug. Ja, wäre ich ein Gesundheitsriefe gewesen! Aber eben hier in Neapel bildete sich eine hinterlistige Zahnfistel aus, die, bis zu meiner Rückkehr nach München unerkannt, als immer schmerzhaftere Geschwulst zu Tage trat, später eitern lernte; die der deutsche Arzt in Rom zuerst durch eine Salbe »zerteilen« wollte, dann durch warme Umschläge nutzlos bekämpfte, bis er wieder, erfolglos, zur Salbe[186] griff. Mit dieser greulichen Reisegefährtin trieb ich mich noch lange Wochen, von »Genuß« zu »Genuß«, in Rom, Italien, Venedig umher, später immer ein heißes seidenes Tuch über der mächtig wachsenden Schwellung; ließ mich drei und vier und fünf Stunden hintereinander von Lenbach malen (wobei zuletzt der Geschwulst wegen die gesunde rechte Backe die linke vertreten mußte), lief, zumal in Venedig, in alle Kirchen, mit beständigem Wechsel zwischen warm und kühl, daß die Reisegefährtin mit Wollust wuchs. Laß sie wachsen, dacht' ich; ich will meinen Freudenkelch Italien bis zu Ende trinken!

Das hab' ich denn auch getan, bis zur Nagelprobe. Nach Rom heimgekehrt – dritter und letzter Aufenthalt; wenigstens für die Werdezeit – genoß ich noch einmal alles mit den Malerfreunden, flog mit Lenbach, Fitger, Metzener, Hans für zwei Tage nach der Villa Hadrians und Tivoli aus, lebte mich auf dem Forum gleichsam aus meiner griechischen Welt wieder in die römische zurück: »Alles erscheint mir hier so ungriechisch,« schrieb ich in mein Buch, »aber doch auch so groß, so groß!« Den ganzen »Friedhof« nach und nach wiederum durchwandernd, im jungen Frühling, in innigster Romfreude, fühlte ich tief, wie schwer es sei, die Stadt der Städte zu verlassen. Der Gründonnerstag ward mein Abschiedstag. Nach einem letzten Besuch bei Böcklin – viele schöne, gefüllte Stunden hatte ich dort verlebt – kam ich mit Hans zum Petersplatz, wo wir in der warmen Mittagssonne den Segen des Papstes über uns ergehen ließen. Unter dem Baldachinteppich in der Loggia der Peterskirche[187] erschien der Heilige Vater auf seinem Sessel getragen, über den hohen Bischofsmützen schwebend, die ihn umgaben, rechts und links neben ihm die bekannten großen Pfauenwedel. Er hob die Arme hin und her, dazu hörte man seine singende Stimme; endlich die Arme wie Flügel ausbreitend, sang er den eigentlichen Segen. Die Menge unter ihm, auf der Kirchentreppe, schwenkte die Taschentücher mit Beifallsrufen. Die berittenen Gendarmen neben uns – nahe beim Obelisken – fielen mit lustiger Musik gar ernüchternd ein. Rasche Kanonenschläge donnerten. Zwei Zettel, vom Papst in die Luft gestreut (das von ihm singend Gesprochene enthaltend, wie man uns sagte), wehten langsam herunter; die Frommen haschten danach. Der große Platz war übrigens beinahe leer. Hiemit war's auch aus. Die Pfauenwedel verschwanden wieder, die Bischofsmützen auch – und ich eilte davon, um meine letzten Obliegenheiten zu verrichten.

Gegen Abend fuhr ich vom Bahnhof ab, von Hans, Lenbach, Marées, Penther zum Wagen begleitet. Ein wunderschöner Abend war's; berauschende Blicke auf die Campagna, die Gebirge, den Tiberfluß; das Albanergebirg leuchtete in so überschwenglicher Klarheit, daß von Frascati bis Albano, in Grotta Ferrata, Marino, Castel Gandolfo und so fort, jedes Haus und jedes Fenster sich zu zeigen schien. Nie hatte ich die Abendsonnenglut entzückender und süßer gesehn. Schmerzlicher Genuß! – Von nun an versank ich in ein eigen stumpfes, ruhig sachliches Gefühl, das mich die nächsten Tage bis Venedig begleitete, mir alles Vorbeiziehende in seinem Wert, aber auch in seiner verhältnismäßigen[188] Dürftigkeit, Glanzlosigkeit, Nüchternheit hinstellend: hier ist nun kein Rom, kein Hellas mehr! Der Traum des Größten ist aus! – In Civita vecchia, im Dunkel, endete die Bahn; man schiffte uns in Postkutschen ein, ich saß in der lemen, hoch im Kabriolett, und sah vor mir eine ganze Karawane riesenhafter Wagen, kleinere dazwischen gemengt; diese Ungeheuer, die Imperiale mit dem Gepäck voran, bewegten sich durch die mondhelle Nacht am leise rauschenden Meer hintereinander fort, ein phantastisches Bild. Kurz vor dem ersten Morgengrauen kamen wir in Nunziatella wieder an die Bahn. Durch Toskana ging's, ich sah Pisa wieder, ich lernte Pistoja kennen, durchwanderte Bologna von neuem, kam über Ferrara nach Padua. Alles gut, aber nicht für mich: mein Herz war noch zu antik, meiner Großmannsstimmung kam die Anmut der Gegenden etwas zu kindlich, zu niedlich vor. In Venetien spitze Kirchtürme wie in Deutschland; was sollt' ich hier? Noch immer ein mittelalterfeindlicher Grieche, so rollte ich auf die Lagunenstadt zu...

Wunderbarer taute wohl nie so ein Eisblock auf. Ich war auf dem Bahnhof von Venedig ausgestiegen, saß in meiner Gondel; fuhr durch die Kanäle zur Post, Briefe abzuholen – ein Märchen um mich her – eine neue Welt. Ich kam auf den Markusplatz; in den Dom hinein; der uralte Patriarch las eben (es war der Ostertag) vor großem Volk eine Predigt mit weinerlicher Stimme ab. Über die Piazzetta taumel-schlenderte ich zur Riva de' Schiavoni, am Meer entlang, von der Nachmittagssonne und von einem jauchzenden Lebensstrom erwärmt; im öffentlichen Garten hin und her,[189] ruhelos zurück und, wie magisch gezogen, wieder in den Dom. Überwältigendes Gefühl; wie in so einem halbdunklen, allfarbig marmorstrahlenden, mosaikgoldglänzenden Wunderbau alle Erscheinungen wirken, alles Fleisch leuchtet, jedes Antlitz veredelt wird. Ja, wie so ein Raum auf Sinn und Phantasie der Künstler zaubernd wirken mußte; daß vielleicht in diesem Dom, seinen Seitenschiffen und Kapellen das malerisch feierlich wonnig süße Abendlichtprinzip der Venetianer geboren ward. Ja, Venezia! Du bist! Du bist! Du hast mich! Du brauchst kein Griechenland, kein Rom, du bist du. Hast mich ganz gefangen!

Am Abend, nach langem Irren und Verirren in der labyrinthischen Stadt, von Kirchen und Bildern und dem Reiterstandbild des Colleone voll, ging ich zum dritten Mal in den Dom. Aus dem nun menschenleeren Dunkel dann hinaus auf die Riva, den Markusplatz; österlich festliches Wogen des Volks, göttlich friedselige Abendstimmung – so zauberisch wie nirgendwo. Vor den Kaffeehäusern all das weich wohlige Treiben, Violinen, Flöte, Harmonika, Gitarren, Gesang; die schöne, kalte, blumenverkaufende Geldeinsammlerin in der sonntäglichen Mantille; das herrliche Fruchteis an der Riva. Aus allem gemischte irdische Menschenseligkeit; in mir diese goldene Gegen wart vom Duft der Romerinnerung und der Nordensehnsucht lieblich erregend umwoben.

So hab' ich dann noch einige Tage in der Märchenstadt wie ein Gott gelebt. Meine Leiden verachtend, Stadt und Volk studierend, in den Kanälen und Gassen die Farbenzauber des durchfeuchteten Gold- und[190] Dämmerlichts bewundernd, in den Kirchen und Galerien die Schaffensräusche dieser glücklichen Meister mitgenießend – auch Tizians ergreifendstes Abendbild, den zwei Jahre später verbrannten Petrus Martyr, hab' ich noch gesehn – mit Schätzesammeln ohne Ende füllte ich den Tag. Und wenn mich dann der Abend wieder in Frieden und süße Träume auflöste, wenn über das Wasser Gondoliergesang im weichen Venediger Dialekt herüberschwamm oder junge Männer ihre sehnsuchtgefüllten Kehlen zusammenstimmten, die Stadt wie im Traum auf der stillen Flut lag, dann entschwand mir fast das Bewußtsein, daß die Erde nicht nur Schönheit und Seligkeit, daß sie auch Leiden, Leidenschaft und Verwirrung hat.

Doch die Nächte, die diesen schönen Abenden folgten, waren schmerzvoll warnend, und die Flucht ward nötig. Als ich am 21. April nach München zu Paul Heyse und Frau Klara zurückkam, war's wohl hohe Zeit. Doktor Wolfsteiner, der wackere Hausarzt, dem ich meinen üppig gediehenen Backenunhold zeigte, fand bald, was für eine Schlange darunter steckte, und wies mich dem Chirurgen zu. Der kam denn auch – Meister Professor Nußbaum – mit seinem Assistenten, chloroformierte und operierte mich, machte der Heilung freie Bahn. Das Chloroformieren gefiel mir nicht, es nahm sich zu sehr wie odemverlierendes Sterben aus; aber als ich wieder zu mir kam, erwachte ich aus einem holden Traum: ich war in Venedig auf der Piazzetta.[191]

Quelle:
Wilbrandt, Adolf: Aus der Werdezeit. Erinnerungen. Neue Folge, Stuttgart, Berlin 1907, S. 177-192.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Erinnerungen [Aus der Werdezeit]
Erinnerungen (Aus Der Werdezeit) (Sammlung Zenodotautobiographische Bibliothek) (Paperback)(German) - Common

Buchempfehlung

Naubert, Benedikte

Die Amtmannin von Hohenweiler

Die Amtmannin von Hohenweiler

Diese Blätter, welche ich unter den geheimen Papieren meiner Frau, Jukunde Haller, gefunden habe, lege ich der Welt vor Augen; nichts davon als die Ueberschriften der Kapitel ist mein Werk, das übrige alles ist aus der Feder meiner Schwiegermutter, der Himmel tröste sie, geflossen. – Wozu doch den Weibern die Kunst zu schreiben nutzen mag? Ihre Thorheiten und die Fehler ihrer Männer zu verewigen? – Ich bedaure meinen seligen Schwiegervater, er mag in guten Händen gewesen seyn! – Mir möchte meine Jukunde mit solchen Dingen kommen. Ein jeder nehme sich das Beste aus diesem Geschreibsel, so wie auch ich gethan habe.

270 Seiten, 13.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantische Geschichten. Elf Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.

442 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon