Die Wolkenstadt

[52] »Und ich, Johannes, sah die heilige Stadt, das neue Jerusalem, ... aus dem Himmel herabfahren, zubereitet als eine geschmückte Braut ihre Manne.«

(Offenbarung Johannis.)


Über rußbestaubten Dächerwogen,

Straßendunst und dumpfem Werkgetose,

Über all dem bang beladnen Volke

Schwebt die Wolke

Blendend weiß, wie eine Riesenwasserrose

Über schwarzem Kolke.


Und hernieder blickt die Reine

In den düstern Hof, wo zwischen Mauern,

Ungeliebt vom Sonnenscheine,

Ein gebeugtes Weib die Jugend muß vertrauern

Bei der Nadel fieberhaftem Rasseln. –

Blasses Weib, erhebe dein Gesicht

Zu der Wolke hehrem Licht!


Und ihr Werkelmänner arbeitsheiß,

Laßt das Hämmern, laßt des Schwungrads Treiben,

Tretet an die trüben Werkstattscheiben,[53]

Trocknet von der Stirn den Schweiß,

Andachtsvoll den Blick erhoben

Zu der weißen Wolke droben!


Alle, die durch graue Gassen

Grübelnd hasten und einander hassen

Um ein karges, hartes Brod,

Die um armen Leibes Not

In das Morgen schaun mit Bangen,

Die gebrochen und verlassen

Hüsteln mit gehöhlten Wangen,

Die den Tod verzweifelnd suchen,

Oder hinter Eisenstangen

Schmachtend fluchen, –

All die Fensteraugen jener langen

Häuserreihen sollen aufwärts schauen

Zur verklärten Wolke.


In dem matten, wasserblauen

Abendhimmel schwimmt das selige Eiland

Ruhevoll und glänzend weiß,

Wie auf Hochgebirgen keusches Eis.

Sanfte Thäler thun sich droben auf; ich schaue

Seidenzarte, schneeige Hyazinthenfelder,

Auf den Hügeln duftige Apfelblütenwälder

Und dazwischen, blitzend gleich dem Thaue,

Alabasterne Paläste.

Um Geblüm und Blütenäste

Hauchen Lüfte, frisch wie auf der Alpenaue,

Und da singt es wie von Kinderstimmen.[54]

Doch wo weilen sie, die auf den Himmelsthronen

Rein und selig wohnen?


Dort an weißer Hügel Rändern

Stehen sie in schimmernden Gewändern,

Eng geschaart. Und sieh, die Einen

Hüllen ihr Gesicht und weinen,

Andre schauen starr und trauernd,

Oft zusammenschauernd,

Wie entsetzt, hernieder

Auf der Weltstadt wüste Riesenglieder,

Die in Staub und Sünde angstvoll keucht.

Und in liebendem Erbarmen

Möchten sie die Stadt umarmen:

»Arme trübe Schwester, hebe

Deinen Blick zu uns und schwebe

Sehnsuchtsvoll empor,

Wie ein frisch erblühter Silberfalter

Sonnetrunken aufwärts fliegt,

Während grau und leer sein alter

Puppenschrein im Staube liegt.«

Quelle:
Bruno Wille: Einsiedler und Genosse. Berlin 1894, S. 52-55.
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